Ist da wer? Warum uns Geisterorte so faszinieren

Ob leerstehendes Hotel oder altes Bauernhaus: Verlassene Orte haben für den Schriftsteller Jan Brandt große Anziehungskraft. Die Fotos von Stefan Hefele zeigen ihren besonderen Reiz

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Datum: 10.08.2023
Lesezeit: 7 Minuten
Blick auf ein mehrstöckiges Gebäude ohne Fenster mit abgeplatztem Putz
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Bei uns im Dorf gab es früher viele leerstehende Häuser. Den alten Bahnhof, die Volksschule bei der Kirche, das Anglerheim am See. Meine Freunde und ich hebelten die Türen auf, kletterten Kellerschächte hinab, stiegen durch Oberlichter ein. Wir suchten nach Schätzen, nach alten Möbeln, Büchern, Porzellan. Das meiste hatte eher einen symbolischen Wert für uns. Es ging darum, etwas von dem, was andere hinterlassen hatten, aufzubewahren. Wir verstanden uns als Archäologen des Alltags und statteten mit den Dingen unsere Hütte aus. Da saßen wir dann, in dem Museum unseres Dorfes, tranken Cola und erzählten uns Geschichten von den Toten.

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Das Bauernhaus, in dem die alte Beena Beekmann gelebt hatte, „Tant Beena“, lag direkt an einem Sumpfgebiet. Auf der einen Seite war die Bahn, auf der anderen das Dorf und dazwischen der Sumpf mit dem Haus von Beena Beekmann. Als sie starb, stand es lange leer, niemand wollte darin wohnen. Manchen war es, so dicht an der Bahn, vielleicht zu laut; manchen behagte die Vorstellung nicht, ihre Kinder an diesem feuchten, dunklen, von toten Bäumen bewaldeten Ort aufwachsen zu lassen. Bis auf einen Toilettenstuhl im Wohnzimmer war alles ausgeräumt. Trotzdem stiegen wir immer wieder ein und erzählten uns gegenseitig Schauergeschichten aus Büchern und Filmen: Heinrich von Kleists „Das Bettelweib von Locarno“, Algernon Blackwoods „Das leere Haus“, Steven Spielbergs „Poltergeist“, Stuart Rosenbergs „The Amityville Horror“, die allesamt von verlorenen Seelen handeln, von Menschen, denen zu Lebzeiten in Häusern Schreckliches zugestoßen ist und die nicht mehr zur Ruhe kommen.

Der morbide Charme des Verfalls

Mal ist es eine Stimme, mal ein Geräusch, ein Scharren, Knarren oder Kratzen, mit dem die alten Bewohner die neuen in den Wahnsinn treiben. An diese Kindheits- und Jugenderlebnisse musste ich denken, als ich den kolossalen Bildband „Geisterhäuser – Verlassene Orte in den Alpen“ durchblätterte, aus dem die hier zu sehenden Fotos stammen. Der Fotograf Stefan Hefele und der Autor Eugen Eduard Hüsler haben darin den morbiden Charme des Verfalls festgehalten.

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Die Bilder zeigen Gebäude, die ähnlich spektakulär sind wie die Gebirgskulisse, vor der sie stehen. Moosbewachsene Wände und eine offene Tür, die in ein Brandzimmer führt. Dachlose Häuser auf grünen Hügeln. Abblätternder Stuck. Wegbrechender Putz. Zerplatzte Träume: Schlösser ohne Scheiben vor dichten Tannenwäldern und schneebedeckten Gipfeln. Mit den Felsen verschmolzene Festungsanlagen. Villen mit Ausblick, in denen die einst prächtigen Holztreppen im Vestibül zu Staub zerfallen sind.

In Zeiten des Immobilienbooms gibt es immer weniger von diesen Geisterorten. Fast überall wird renoviert oder abgerissen und neu bebaut. Nur in Gegenden, in denen sich Investitionen nicht lohnen, können sie sich erhalten. Und je weniger Relikte es gibt, desto weniger Geschichten lassen sich anschaulich, für alle sichtbar erzählen. Geschichten wie die der Schmalspurbahn am französischen Mont Cenis, die 1871, drei Jahre nach der Eröffnung, schon wieder eingestellt wurde, weil nebenan ein größerer Eisenbahntunnel fertiggestellt worden war.

Der Glanz von Little Las Vegas ist noch zu erahnen: Bis zu einem Erdrutsch 1976 war Consonno in der Lombardei ein schillerndes Glücksspielparadies

Little Las Vegas kam ein Erdrutsch in die Quere

Oder die des oberitalienischen Vergnügungsdorfs Consonno, das, zu einer Art Little Las Vegas ausgebaut, 1976 dem Vergessen anheimfiel, nachdem ein Erdrutsch die einzige Zufahrtsstraße blockiert hatte. Menschen sind auf den Bildern nicht zu sehen und auch nur weniges, was sie hinterlassen haben: einen Herd, einen Stuhl, einen Karren in einer lichtdurchfluteten Scheune. Es ist ein verblichener Glanz, der in diesen Bildern noch einmal erfahrbar wird, wenn man mit den Augen durch aufgegebene Räume wandert, durch das Überwucherte, Verfallene, hastig Verlassene. Und jedes dieser großartig in Szene gesetzten Fotos erzählt eine Geschichte, die nicht zu greifen ist, weil das Vergangene unsere Vorstellungskraft übersteigt und wir die Stimmen und Geräusche der Toten auf Papier nicht hören können.

Diese verlorenen Orte mahnen uns auch an die Zukunft. An unsere Vergänglichkeit.

Jan Brandt

Beim Durchblättern fiel mir wieder ein, dass meine Freunde und ich damals eine Mutprobe gemacht hatten: Wir wetteten, wer es am längsten in Tante Beenas Haus aushielte. Mit unseren Digitaluhren stoppten wir die Zeit. Als ich drinnen war, kratzten die anderen von draußen an die Scheiben, warfen Steine und Stöcke aufs Dach, ahmten die Rufe von Eulen und Kojoten und Monstern nach. Sie wollten mir Angst einjagen, mich herauslocken. Aber was mich hinaustrieb, was uns alle hinaustrieb, war die Langeweile. Jahre später erzählte mir mein Vater, dass im Haus tatsächlich etwas Schreckliches geschehen sei: Beenas Mann, Bauer Beekmann, habe sich Ende April 1945 den einmarschierenden alliierten Truppen entgegengestellt. Aus Angst vor Plünderung habe er die Soldaten nicht hereinlassen wollen. Und daraufhin hätten sie ihn durch die geschlossene Tür hindurch erschossen.

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Von jeher üben diese Lost Places eine unheimliche Anziehungskraft auf mich aus. Wenn ich auf Reisen bin, betrete ich so manches verlassene, kaputte, einsturzgefährdete Haus. Nicht um fremden Geistern zu begegnen. Sondern weil mich die alten Häuser an früher erinnern. An meine Kindheit im Dorf. An meine eigenen Geister. Weil sie mir das Gefühl geben, wieder jung zu sein. Aber diese verlorenen Orte, das wird mir jetzt klar, beschwören mehr herauf als die in ihnen oder in uns gespeicherte Vergangenheit. Sie mahnen uns auch an die Zukunft. An unsere Vergänglichkeit. An eine Welt ohne uns.

Zum Autor

Jan Brandt (49) wurde bekannt durch seinen Roman „Gegen die Welt“ (2011). Zuletzt erschien sein Buch „Ein Haus auf dem Land/Eine Wohnung in der Stadt“.

Zum Bildband

Die Fotos stammen aus dem Bildband „Geisterhäuser – Verlassene Orte in den Alpen“ (Bruckmann, 240 Seiten, 49,99 Euro), für den der Fotograf Stefan Hefele Dutzende Orte aufgesucht hat, die er zumeist im Abend- oder Morgenlicht fotografierte. Mehr Arbeiten von Stefan Hefele finden sich auf seiner Webseite.

Verlassene Geheimnisvolle Orte in Europa

Fast überall in Europa gibt es Lost Places zu entdecken. Neben einer weitgefassten Sammlung von verlassenen Dörfern und leeren Anwesen mit vielen deutschen Zielen finden Sie hier zahlreiche Ziele in Italien.

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