Der Berg ruht

Jahrelang haderte das abgelegene Tiroler Dorf Steinberg am Rofan damit, dass die Gäste wegblieben. Doch dank ihres umtriebigen Bürgermeisters glauben die Einheimischen wieder an ihre Zukunft: Sie schlossen sich der Gemeinschaft der „Bergsteigerdörfer“ an – mehr als nur ein Etikett für sanften Tourismus, für Einheimische und erst recht für Tourist:innen.

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Datum: 10.02.2023
Lesezeit: 6 Minuten
Ein Dorf im Tal, im Hintergrund Bege, Sonnenstahlen beleuchten die Szene
Das abgelegene Tiroler Dorf Steinberg am Rofan

Hinter Steinberg am Rofan kommt nichts mehr, so sagt man. Das Dorf wird an drei Seiten von Felswänden umschlossen. Die Zufahrtstraße: eine Sackgasse. Warum sollte man dorthin? Man könnte aber auch fragen: warum nicht? Denn Steinberg in den Tiroler Alpen, das in anderthalb Stunden von München aus zu erreichen ist, hat nun wirklich alles, was Alpenurlaubende im Katalog mit einem Eselsohr markieren würden: Bauernhöfe mit urigen Fassaden, sanft geschwungene, grüne Bergwiesen, dicht bewaldete Hänge und den fast schon zu perfekt in dieser Szenerie platzierten Hausberg Guffert mit seiner weißen Kalkspitze.



Wie kam es also so weit, dass plötzlich keine Gäste mehr kamen, Geschäfte und Pensionen schließen mussten und die Jugend mehr und mehr abwanderte? Warum ereilte das Dorf ein ähnliches Schicksal wie weitaus weniger pittoreske Orte im Alpenraum? Und, die verblüffendste Frage, die zu klären wäre: Wieso sieht es so aus, als würde ausgerechnet Steinberg die Wende hin zu einer Wiederbelebung schaffen? 

Perfekt für nervöse Städter:innen

Es hilft, sich vor Ort ein Bild zu machen. Steinberg ist eine sogenannte Streusiedlung, die am Ende einer langen Passstraße liegt. Die Häuser der knapp 300 Einwohner:innen scheinen wie von einer großen Hand ins Tal gewürfelt zu sein, so weit stehen sie auseinander. Es braucht Anlässe und ein Auto, um sich mit den Nachbar:innen zusammenzufinden. Geht man zu Fuß, fühlt sich das schon wie eine Wanderung an, vorbei an saftigen Wiesen und rustikalen Höfen mit blühenden Bauerngärten. Perfektes Territorium eigentlich für nervöse Städter:innen.

Alpendynamo: Bürgermeister Helmut Margreiter (r.) hat viel bewegt in Steinberg – auch das schmucke neue Gemeindehaus (l.) geht auf seine Initiative zurück

Nur: Lange Zeit war diese Art des reizarmen Reisens wenig angesagt. „Ab den 1990er-Jahren sind uns die Touristen mit den Billig-Airlines regelrecht davongeflogen“, sagt Steinbergs Bürgermeister Helmut Margreiter, 53, ein großer Mann mit mildem Blick.

Während früher halb München zur Sommerfrische oder zum Skifahren anreiste, brausten die, die überhaupt nach Österreich fuhren, ins Zillertal oder nach Vorarlberg, wo es ausgebaute Skigebiete mit Shuttlebussen und Après-Ski gibt. In Steinberg dagegen wurde es noch stiller, als es ohnehin schon war.

Bloß kein Massentourismus
Es muss 2017 gewesen sein, als Margreiter im Dorf mal wieder eine Art Rat der Weisen einberief. Per Zufallsprinzip wählte er 15 Einheimische aus dem Wählerverzeichnis aus, um mit ihnen über den Weg der Gemeinde in die Zukunft zu sinnieren. Man besann sich schnell auf das, was man im Überfluss hat: Natur, Berge, Stille. Vor allem klein wolle man bleiben, so hielt man es im „Steinberger Wertekatalog“ fest. „Wir haben uns gegen den Massentourismus der großen Skiorte entschieden, weil der einfach nicht zu uns passt“, sagt der Bürgermeister. Mit Entscheidungen wie dieser hat er einige Bekanntheit in der Region erreicht. Und die Wahlbürger:innen, die seit zwei Jahrzehnten das Kreuz so beständig hinter seinen Namen machen, als ginge es lediglich darum, den Skipass zu verlängern, folgen seinem frischen Mut.

Normalerweise bevölkern Kühe die Tiroler Weiden. Die Hauswiese von Michael Lengauer (r.) war allerdings zu klein für Rinder. Deshalb begann er, Alpakas zu züchten (l.), die in Österreich als Nutztiere gefördert werden. Ihre Wolle verkauft er

Und dann war da die Idee von Uli Saitner. Der ehemalige Bergführer, kalkweißes Haar, braun gebrannt, ist vor wenigen Jahren vom Tegernsee hergezogen. Man könne Steinberg doch zum „Bergsteigerdorf“ machen, schlug der 80-Jährige eines Tages vor. Gut drei Dutzend Orte in Österreich, Deutschland, Italien, Slowenien und der Schweiz schmücken sich mit diesem Etikett. Bergsteigerdörfer verpflichten sich dazu, ihre Kultur, das ursprüngliche Dorfbild und die umliegende Natur zu bewahren. In Österreich überwacht der Alpenverein ÖAV die Vorgaben – und wer sie nicht einhält, fliegt aus dem Verbund. Das musste zum Beispiel Kals am Großglockner schmerzhaft feststellen, als es die Skigebiete Kals und Matrei zusammenlegte und oberhalb des Ortskerns ein Chalet­-Dorf mit neungeschossigem Hotelturm genehmigte.

Kein Kaufmannsladen? Kein Siegel!
Steinberg aber, davon war Saitner überzeugt, sei bestens gewappnet für das Siegel. Mit seinen neu angelegten Langlaufloipen, den vielen Wanderwegen, auf denen sich im Winter auch schneeschuhwandern lässt, der beleuchteten Rodelstrecke und dem alten Dorfkern stand es genau für die Art von Tourismus, der die Bergsteigerdörfer auszeichnet. Als die Steinberger Dorfkapelle eines Abends übte – und man muss wissen, dass mindestens ein Mitglied jeder Familie mitmusiziert –, trug Saitner seine Idee vor und fand große Zustimmung. Steinberg beschloss, sich um das Gütesiegel „Bergsteigerdorf“ zu bewerben.

Doch dann die große Enttäuschung: Der Alpenverein lehnte Steinbergs Bewerbung ab. Unter anderem bemängelte er, dass das Dorf keinen Kaufmannsladen besäße, in dem sich Wandernde versorgen könnten. Doch diese Geschichte wäre natürlich nicht erwähnenswert, wenn Steinberg nicht auch dieses Problem gelöst hätte. Man zimmerte im Foyer des Gemeindehauses einen kleinen Selbstbedienungsladen für Bergsteiger:innen, auch mit Kletterbedarf, Pflastern und was man sonst für einen zünftigen Gipfelsturm braucht.

Ein Modell für die ganze Region?
Im zweiten Anlauf erfüllte Steinberg alle Kriterien: Seit Herbst 2021 darf sich der Ort offiziell Bergsteigerdorf nennen. In Abgrenzung zum grassierenden Höher-schneller-weiter-Skitourismus will man Dorf und Natur auch für die kommenden Generationen bewahren. Bürgermeister Margreiter träumt davon, dass das Steinberger Modell eine Blaupause für eine ganze Region sein könnte: „Vielleicht erhält die Natur auch anderswo eine neue Wertigkeit, wenn sie nicht so überrannt ist.“

Das Siegel ist verhältnismäßig jung, gut 15 Jahre. Im Verlauf der kommenden Saisons wird sich zeigen, ob Tourist:innen das Label „Bergsteigerdorf“ verstehen und annehmen. Margreiter befindet, Steinberg sei noch in der Anlaufphase: „Es braucht Zeit, bis wir als Bergsteigerdorf wahrgenommen werden. Aber wir haben im ersten Jahr bemerkt, dass mehr Gäste mit Wanderrucksäcken unterwegs sind, und das hat unseren Ort belebt.“

Das Dorf
Das Bergsteigerdorf Steinberg am Rofan liegt auf 1010 Metern, zehn Kilometer vom Achensee entfernt. Am Wochenende verkehrt von München aus ein Bus des Alpenvereins.

Das Siegel
Die 36 Dörfer des Verbunds der Bergsteigerdörfer wollen Landschaft und Umwelt schonen, die örtliche Kultur stärken, das Wandern fördern. Bettenburgen und Partytourismus sind tabu. Auf bergsteigerdoerfer.org sind die teilnehmenden Orte sowie Unterkünfte und Ausflugsziele gelistet.

Bergsteigerdörfer in Deutschland
In Deutschland gibt es zurzeit vier Bergsteigerdörfer:

  • Schleching und Sachrang im Chiemgau
  • Kreuth zwischen Tegernsee und Achenpass
  • Ramsau bei Berchtesgaden am Fuße des Watzmanns

Sanfter Bergtourismus mit Fahrtziel Natur
Stets mehr Bergfreund:innen achten auch bei der Anreise und Mobilität vor Ort auf umwelt- und klimafreundliche Verkehrsmittel. Bereits seit 2001 engagieren sich  BUND, NABU, VCD und die DB in der Kooperation Fahrtziel Natur für nachhaltigen Tourismus. Das Ziel: Verkehr vom privaten Pkw auf öffentliche Verkehrsmittel verlagern.
In der Nähe des Bergsteigerdorfs Ramsau erstreckt sich etwa das Fahrtziel-Natur-Gebiet Berchtesgaden, das direkt per Bahn ab München erreichbar ist.
Ebenfalls in den deutschen Alpen liegen die Fahrtziel-Natur-Gebiete Ammergauer Alpen (Anreise per Bahn über München und Murnau) und Allgäuer Hochalpen (erreichbar über die Bahnhöfe Sonthofen, Oberstdorf oder Kempten).
Auch in den Österreicher Alpen liegt ein Fahrtziel-Natur-Gebiet, und zwar Nationalpark Hohe Tauern Kärnten, erreichbar mit Railjet-/EC-Zügen über Mallnitz-Obervellach oder Spittal-Millstättersee.

Wandern – die besten Tipps für die Umgebung rund um Steinberg am Rofan
Sebald-Weg
Start ist in Oberjoch, Ziel das Geburtshaus des Schriftstellers W. G. Sebald in Wertach. Entlang der Route (zwölf Kilometer) kann man auf sechs Stelen ortsbezogene Auszüge aus „Schwindel. Gefühle“ lesen.

Guffert
Durch Bergwiesen und Wald führt die dreistündige Tour hinauf zum Gipfel, von wo aus unter anderem die Tegernseer Berge zu bestaunen sind. Los geht’s in Steinberg, am Ende muss man kraxeln.

Nachhaltiges Wandern
Klingt selbstverständlich, aber weder gehören Verpackungen (auch keine Bananenschalen oder Taschentücher) in die Natur, noch pflückt man Alpenblumen, jagt Wildtiere oder verlässt die Wege. Mehr zum naturverträglichen Wandern kann man nachlesen unter alpenverein.de/natur

Mit Bus und Bahn zum Berg in Bayern und Österreich
Klimabewusste Anfahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist in vielen Teilen des gesamten deutschen Alpenraums möglich. Der Deutsche Alpenverein hat eine detaillierte Übersicht erstellt. In der Regel ist München der Ausgangspunkt.
Bahnwandern wird immer beliebter. Einfacher Ablauf: am Ausgangspunkt der Wanderung aussteigen, Wandertour (drei bis sechs Stunden) absolvieren, am Zielort wieder einsteigen und zurückfahren. Tourenvorschläge macht etwa DB Regio Bayern.

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