„Wir spielten auch auf Supermarktparkplätzen“

Die Philharmonie des Staatstheaters Cottbus schafft das, wovon andere nur träumen: ein volles Haus. Der Generalmusikdirektor verrät, was Auftritte in Wohnvierteln und Kitas damit zu tun haben

Von:
Datum: 26.03.2024
Lesezeit: 7 Minuten
Links: Staatstheater Cottbus, rechts: Generalmusikdirektor Alexander Merzyn
© Marlies Kross/Bernd Schönberger/Staatstheater Cottbus
Das 1907 erbaute Staatstheater Cottbus (l.) vereint Elemente von Klassizismus und Jugendstil; Generalmusikdirektor Alexander Merzyn (r.) lässt seine Philharmoniker:innen gern auch außerhalb dieser Mauern auftreten

Eigentlich dachten alle, die Leute würden in Scharen wiederkommen. Doch mangelnde Besucher:innenzahlen sind in der Kulturbranche ein großes Problem, auch nach dem Ende der Corona-Pandemie. Das Philharmonische Orchester des Staatstheaters Cottbus zeigt, wie es gelingen kann, die Säle regelmäßig zu füllen.

Schlüsselfigur dabei: der Dirigent und Generalmusikdirektor Alexander Merzyn, der kurz vor Beginn der coronabedingten Schließungen seinen Job antrat. Damals durfte er noch ein Konzert dirigieren, dann war erst einmal Feierabend.

Der gebürtige Kieler Merzyn hatte Zeit zum Nachdenken – und viele Ideen. Seitdem sucht er aktiv die Nähe zu den Cottbusser Bürger:innen und hat sich allerhand ausgedacht, um sie in sein Haus zu holen. Im Interview erzählt er, warum Konzerte in Brennpunkten sinnvoll sind und wie er sich den musikalischen Nachwuchs heranzieht.

Herr Merzyn, warum müssen Theater, Opern- und Konzerthäuser vielerorts um ihr Publikum kämpfen?

Es ist bestimmt auch eine Geld­frage. Aber vor allem haben die Leute sich in den Corona-Jahren daran gewöhnt, zu Hause zu bleiben. Es geht scheinbar auch ohne, ist gemütlich und bequem. Deshalb müssen wir jetzt umso mehr zu den Menschen hingehen. Viele von uns haben gedacht, dass man einfach wieder alles macht wie vorher, und dann kommt das Publikum wieder. Doch so einfach ist es leider nicht.

© dpa/Frank Hammerschmidt
Laienmusiker:innen spielen Teile von „Peer Gynt“ zusammen mit dem Philharmonischen Orchester des Staatstheaters auf dem Schillerplatz in Cottbus

Wodurch haben Sie es geschafft, die Leute wieder zu Ihnen zu locken?

Indem wir uns wirklich bemüht haben, auf die Cottbuser zuzugehen. Wir bleiben nicht nur im Staatstheater, sondern spielen zusätzlich an verschiedensten Orten der Stadt, in den unterschiedlichsten Settings. Wir haben während der Coronazeit quasi aus der Not heraus Formate entwickelt und diese beibehalten: Zum Beispiel die Konzerte für Cottbus, für die wir damals auf 50 Minikonzerten unter freiem Himmel aufgetreten sind.

Wo waren Sie überall?

Wir haben versucht, ganz Cottbus zu bespielen. Wir sind nicht nur in der schönen Altstadt aufgetreten, sondern auch in Randbezirken und in Brennpunkten, im Stadion von Energie Cottbus und auf Supermarktparkplätzen. Und wir spielen auch weiterhin außerhalb des Konzertsaals.

Unsere Botschaft ist: Ihr könnt selbst mitentscheiden, eure Stimme hat Gewicht!

Alexander Merzyn, Musikalischer Direktor Staatstheater Cottbus

Wie reagieren die Menschen auf Sie und Ihre Kolleg:innen, wenn Sie vor dem Supermarkt musizieren?

Manche gehen weiter, aber viele bleiben auch stehen, sind begeistert, erstaunt. Wenn wir uns mit denen unterhalten, erzählen sie oft, dass sie gar nichts von unserer Existenz wussten. Die haben zwar das schöne Gebäude schon von außen gesehen, aber nicht geahnt, was drinnen passiert. Und viele haben dann gesagt, ach Mensch, da muss ich mal hin. Ich glaube schon, dass einige dann auch wirklich kommen. Die hätten das sonst nicht gemacht. Dadurch und durch andere Formate erwischen wir Leute, die keine enge Bindung an unser Haus haben wie die Abonnenten, die in jedes philharmonische Konzert kommen.

© Bernd Schönberger/Staatstheater Cottbus
Auch im Stadion der Freundschaft von Energie Cottbus traten die Philharmoniker schon auf

Was haben Sie denn sonst noch im Programm?

Zum Beispiel die Walzernächte im Sommer auf dem Marktplatz, mit bis zu 3000 Leuten, oder die Feierabendkonzerte in der Innenstadt. Die sind gedacht für Leute, die nach dem Feierabend noch schnell vorbeikommen und ein Kurzkonzert hören wollen, vielleicht bei einem Bier und etwas zu essen. Ganz locker. Damit versuchen wir, unser Haus so weit wie möglich zu öffnen für Menschen, für die der klassische Konzert- oder Opernbesuch eine zu große Sache ist. Kinderkonzerte in der Philharmonie und außerhalb sind auch ein großer Erfolg.

Treten Sie in Kitas und Schulen auf?

In Kitas, ja. Dort gibt es die Sandkastenkonzerte, auch ein Format, das ich mir während der Coronazeit ausgedacht habe und das weiter besteht. Wir fahren regelmäßig mit zwei bis vier Musikern des Orchesters in die Einrichtungen.

Und sorgen so für den Nachwuchs …

Genau! Wir versuchen da früh anzusetzen. Das Publikum, das heute ins Theater und ins Konzert geht, hat auch bei uns in Cottbus einen höheren Altersdurchschnitt als die Gesamtbevölkerung. Da muss man einfach auf die jungen Leute zugehen, und zwar in allen Altersgruppen.

Dem Kulturbetrieb wird ja gern nachgesagt, er sei zu elitär für die breite Masse. Wie sehen Sie das?

Das höre ich oft. Aber ich bezweifle, dass das stimmt. Ich erlebe hier viele Leute – gerade auch aus der jungen Generation –, die es schön finden, sich für einen besonderen Anlass mal schick zu machen und hier ins Haus zu kommen. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir nicht nur den klassischen, ernsthaften Abend anbieten. Aber generell sollte man nicht den Fehler machen, überall den Anspruch runterzusetzen und nur noch ganz leichte Kost zu bieten, damit die Leute kommen. Das ist auch eine Sackgasse.

© Marlies Kross/Staatstheater Cottbus
Wenn Musiker:innen für 3- bis 5-Jährige aufspielen, heißt das „Mucki-Konzert“ – Mitmachen, Klatschen und Tanzen erwünscht!

Sie haben bereits in verschiedenen europäischen Ländern und in Asien gearbeitet. Wie war dort das Verhältnis der Menschen zum Kulturbetrieb?

Meinem Eindruck nach ist es in manchen europäischen Ländern wirklich elitär, zum Beispiel in Frankreich. Dort ist es eine Aktion, ins Konzert zu gehen, alle tragen Anzug und Krawatte oder ein Abendkleid. Ich habe auch mal in Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam gearbeitet – dort gibt es nur eine große Konzerthalle, für neun Millionen Einwohner. Das kann sich nur die Elite leisten. Die Menge und Breite des kulturellen Angebots sind in Deutschland schon einmalig. Ich glaube, dass es so etwas in kaum einem anderen Land gibt.

Sie stellen jede Spielzeit unter ein Motto, das aktuelle ist „Demokratie“, sehr passend in diesen Zeiten. Was ist so demokratisch an Ihrem Programm?

Zum Beispiel unser Mitmachkonzert am ersten Tag der Spielzeit. Einige Monate vorher haben wir die Noten auf unserer Website bereitgestellt und einen Aufruf gestartet: Alle, die ein Instrument haben, waren eingeladen, auf dem großen Platz vor dem Theater mit uns zusammen ein kleines Konzert zu spielen.

Wie viele haben mitgemacht?

Ungefähr 40 bis 50 Menschen sind zur Probe und danach zum Konzert gekommen und sind mit ungefähr derselben Anzahl Musiker aus unserem Orchester aufgetreten – Geigen, Flöten, Bläser, alles war dabei. Das war großartig. Außerdem konnten die Cottbuser beim vierten Philharmonischen Konzert im Februar über das Programm abstimmen. Es stand nur das Solokonzert fest, das Publikum konnte die Ouvertüre und die Symphonie vorab selbst festlegen, es standen je drei zur Auswahl. Wir wollten damit das Schöne und das Lustvolle zeigen, das in der Demokratie und der Möglichkeit zu wählen liegt. Und nicht nur das, was schwierig ist oder nicht funktioniert. Unsere Botschaft ist: Ihr könnt selbst mitentscheiden, eure Stimme hat Gewicht!

© Bernd Schönberger/Staatstheater Cottbus
„Alles Weiß” und „Alles Walzer”– so sehen laue Juli-Nächte auf dem Altmarkt in Cottbus aus

Klassik in Cottbus

Das Philharmonische Orchester des Staatstheaters Cottbus besteht seit über 100 Jahren und bringt klassisch-romantische Stücke ebenso auf die Bühne wie die Musik des 20. und 21. Jahrhunderts. Es gastiert regelmäßig an den verschiedenen Brandenburger Theatern, bei den Brandenburgischen Sommerkonzerten und beim Choriner Musiksommer.

Seit 2020 ist Alexander Merzyn Generalmusikdirektor des Philharmonischen Orchesters Cottbus, vorher war er dort Kapellmeister. Er hat sich viele der Formate ausgedacht, die für mehr Nähe zu den Bürger:innen der Stadt sorgen sollen, unter anderem die Konzerte für Cottbus, die Feierabendkonzerte und die Sandkastenkonzerte. Auch interessant: die öffentlichen Sonntagsführungen zur Architektur und Geschichte des Großen Hauses.

Anreise mit der Bahn: zum Beispiel mit dem Regionalexpress von Berlin oder Leipzig.

Schreiben Sie uns!

Der Artikel hat Ihnen gefallen, Sie haben eine Frage an die Autorin/den Autor, Kritik oder eine Idee, worüber wir einmal berichten sollten? Wir freuen uns über Ihre Nachricht.