Von der Unesco ausgezeichnet: jüdisch-mittelalterliches Erbe

Das Judentum gehört zu Deutschland – und kaum ein Ort ist derart geeignet, in die jahrhundertelange Geschichte einzutauchen wie Erfurt. Seit September 2023 zählen Bauten in der Altstadt als Welterbe

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Datum: 19.01.2024
Lesezeit: 6 Minuten
Fachwerkhäuser auf der Krämerbrücke in Erfurt, rechts daneben befindet sich die Mikwe
© Imago Images
Versteckter Schatz: Rechts neben der Krämerbrücke, am Ende der Rampe, verbirgt sich eine mittelalterliche Mikwe (ein jüdisches Ritualbad)

Neben der fließenden Gera und der Krämerbrücke befindet sich im Herzen Erfurts eine Mikwe. Durch ein Fenster kann man von außen in sie hinabblicken. Man erkennt Steine, die ein Becken einrahmen, in dem jedoch kaum Wasser ist. Diese Mikwe, ein jüdisches Ritualbad, stammt aus dem Mittelalter. Damals badeten hier vor allem jüdische Frauen. Sie sollten sich reinigen – nicht körperlich, sondern rituell, von allem, was religiös als „unrein“ gilt.

Seit dem 12. Jahrhundert hat die älteste Mauer der Mikwe überdauert. Vermutlich allein deswegen, weil vergessen wurde, dass die Mikwe existiert.

Jahrzehntelang war sie zugeschüttet, wurde überbaut. Wiederentdeckt hat sie die Archäologin Karin Sczech, 64. Sie war im Jahr 2007 dabei, als sie ausgegraben wurde. Nach diesem Fund arbeitete die Stadt 15 Jahre lang daran, dass Erfurts historische jüdische Gebäude als Unesco-Welterbe anerkannt werden. Sczech begleitete diesen Prozess in den vergangenen drei Jahren als eine von zwei Unesco-Beauftragten der Stadt.

Ein Ziel dabei: Aufmerksamkeit auf die jüdische Geschichte Erfurts lenken – und darauf, wie hier schon im Mittelalter Jüdinnen, Juden und Christ:innen friedlich miteinander lebten. „Wissenschaftliche Arbeit ist eine schöne Sache, aber viel zu wenig Menschen nehmen sie wahr“, sagt Sczech. „Besonders wichtig ist mir, dass auch die Leute vor Ort, die Erfurter und Thüringer, verstehen, was sie hier für einen Schatz haben. Dabei hilft dieser Titel ungemein. Und natürlich auch dabei, Erfurt in der Welt bekannt zu machen.“

© Stadtverwaltung Erfurt/Marcel Krummrich
Ausgangspunkt für einen Stadtrundgang zu Erfurts mittelalterlich-jüdischen Welterbestätten: die Alte Synagoge hinter dem Tordurchgang

Neben der Mikwe hat die Unesco im September 2023 zwei weitere Gebäude ins Welterbe aufgenommen. Zum einen die Alte Synagoge, deren Geschichte sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen lässt und die damit als eine der ältesten erhaltenen in Europa gilt. Und das Steinerne Haus, das Mitte des 13. Jahrhunderts errichtet wurde und in dem eine jüdische Familie wohnte. „Im Obergeschoss gibt es einen Raum, der wie in einer Zeitkapsel erhalten geblieben ist“, sagt Sczech. „Besonders an ihm ist die Deckenbemalung“, so Sczech, „denn es ist die älteste bemalte Decke in profanen Gebäuden nördlich der Alpen.“ Für sie persönlich sei es der faszinierendste Bau in Erfurt – zusammen mit der Mikwe.

© Stadt Erfurt/Steve Bauerschmidt
Hat die Erfurter Mikwe entdeckt und sich dafür engagiert, dass das jüdisch-mittelalterliche Erbe der Stadt von der Unesco anerkannt wird: Archäologin Karin Sczech

Auch über die drei Welterbe-Gebäude hinaus gibt es in Erfurt historische Orte, die die Geschichte erlebbar machen, etwa einen mittelalterlichen jüdischen Friedhof am Rand der Altstadt. Sczech hat diesen ebenfalls mit ausgegraben. Einige der früheren Grabsteine befinden sich nun in einem Schaudepot im Keller des Steinernen Hauses (Führungen sind auf Anfrage buchbar). 

Das Besondere an Erfurt ist, dass sich all diese Orte auf engem Raum befinden, die meisten inmitten der Altstadt. Sczech sagt: „Die Altstadt von Erfurt ist insgesamt hervorragend erhalten und ein großes Flächendenkmal. Das jüdische Viertel fügt sich darin ein.“

Jüdisches Viertel meint dabei keineswegs, dass hier im Mittelalter ausschließlich Juden und Jüdinnen lebten. Im Gegenteil – lange Zeit wohnten sie friedlich neben Christ:innen. Die Bezeichnung jüdisches Viertel geht darauf zurück, dass sie nahe einer Synagoge wohnen sollten. „Am Sabbat dürfen sie nur eine bestimmte Anzahl an Schritten gehen“, erklärt Sczech. Deshalb sollte eine Synagoge also möglichst in der Nähe der eigenen Wohnung sein.

© Erfurter Stadtverwaltung/Norman Hera
Informiert mit Exponaten über die jüdische Geschichte in Erfurt: das Museum in der Alten Synagoge

Vertreibung der jüdischen Gemeinde aus Erfurt

Zu Zeiten des Heiligen Römischen Reichs war Erfurt eine florierende Handelsstadt, denn hier kreuzten sich verschiedene Handelsstraßen. Auch jüdische Kaufleute siedelten sich an. Erfurt wurde eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden Europas, mit etwa 900 Mitgliedern. 

Im 14. Jahrhundert änderte sich das brutal. 1349 gab es einen Pogrom – nicht nur in Erfurt, sondern in zahlreichen Städten Mitteleuropas. Damals breitete sich die Pest aus. Vielerorts beschuldigte man Juden und Jüdinnen, Brunnen vergiftet und die Pest verursacht zu haben. Hinzu kamen Konkurrenzneid unter Händler:innen, Gier auf das Geld der Juden und Jüdinnen sowie Hass. Es war die schlimmste Judenverfolgung in Europa bis zum Holocaust. In Erfurt brannte am 21. März 1349 das Viertel um die Synagoge ab. Die gesamte jüdische Gemeinde wurde ausgelöscht.

1354 siedelten sich zwar wieder Juden und Jüdinnen an, doch 1452 wurden sie endgültig vertrieben. Es dauerte bis zum 19. Jahrhundert, dass jüdische Menschen zurückkehrten. Die Alte Synagoge wurde nach dem Pogrom 1349 zunächst als Lager und später als Gastwirtschaft genutzt – und erst 1988 bei archäologischen Untersuchungen wiederentdeckt. In der Mikwe hingegen wurde das Wasserbecken zugeschüttet und die Räume dienten fortan als Keller.

© Erfurter Stadtverwaltung/Norman Hera
Nur auf einer Führung zugänglich: die mittelalterliche Mikwe (verborgen hinter der bronzefarbenen Fassade)

Wiederentdeckung der mittelalterlichen Mikwe

Als Archäologin Sczech diesen Keller 2007 sah, war ihr sofort klar, dass es kein normaler Keller sein kann, erinnert sie sich: „Dort lagen Steine, die von so großer, ungewöhnlicher Qualität waren, die ich bis dahin in noch keinem Keller gesehen hatte.“ Kurz zuvor war in der Nähe die Ufermauer an der Gera eingebrochen – an einer Stelle, an der Historiker:innen eigentlich die Mikwe vermutet hatten.

Die Stadt nahm das als Anlass, um das gesamte Areal umzugestalten, beispielsweise mit einer neuen Treppe. Sczech arbeitete da beim Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie und begleitete den Bau. Doch alles, was freigelegt wurde, war zunächst nicht die Mikwe, die sie gehofft hatte zu finden. Sczech sagt rückblickend: „Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon aufgegeben.“

Dann stieß sie in „allerletzter Minute“, wie sie erzählt, auf diesen besonderen Keller. Und erkannte schließlich, dass er die mittelalterliche Mikwe bewahrt hatte: „An einem Freitagnachmittag habe ich die Mikwe entdeckt und Montag sollten eigentlich die Baumaschinen kommen.“

© Erfurter Stadtverwaltung/Norman Hera
Umrahmt von Nachbarhäusern: Das Steinerne Haus (Bild links) mitsamt den im Keller ausgestellten mittelalterlichen Grabsteinen (rechts) ist momentan noch nicht für öffentliche Führungen erschlossen. Für das Schaudepot der Grabsteine kann man jedoch individuell Führungen bei der Stadtverwaltung buchen

Ob sich noch weitere, lange vergessene Gebäude in Erfurt verstecken, die darauf warten, wiederentdeckt zu werden? „Auf jeden Fall!“, sagt Sczech. Unter einem Parkplatz etwa befindet sich vermutlich eine weitere alte Synagoge. Das haben Historiker:innen anhand eines historischen Schadensregisters herausgefunden. 1736 wurde diese Synagoge demnach in einem großen Stadtbrand zerstört. Sczech erklärt, dass auf einem „Brandplan“ von damals ihr Standort markiert ist.

Erfurts Pläne für die Zukunft

Auf dem Gelände dieser alten Synagoge soll in Zukunft ein Welterbezentrum entstehen, sagt Sczech. Es wird als Ausgangspunkt für Besucher:innen dienen. Außerdem soll ein koscheres Restaurant integriert werden. Und ein jüdisches Gemeindezentrum. 

Bei diesen Plänen arbeiten Sczech und ihr Team eng mit der jüdischen Gemeinde Erfurts zusammen, sagt Sczech. „Im Moment befindet sich das jüdische Gemeindezentrum in einem Plattenbau am Rand der Altstadt. Wir wollen es gern zurück ins Herz der Stadt holen, wo es hingehört.“ Sczech habe zudem vorgeschlagen, eine neue Mikwe zu bauen. Bislang fehlt die in Erfurt.

Die Unesco-Welterbestätten in Erfurt besichtigen
Drei Gebäude in Erfurt gelten seit September 2023 als Unesco-Welterbe: die Alte Synagoge, das Steinerne Haus und die Mikwe. Sie befinden sich in der Altstadt und belegen, dass Jüdinnen und Juden und Christ:innen hier bereits im Mittelalter gemeinsam gelebt haben.

Die Alte Synagoge
Sie ist zugleich historisches Gebäude und ein Museum, das die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Erfurt erzählt (Informationen zu Eintrittspreisen und Öffnungszeiten auf der Webseite). Im Keller ist der Erfurter Schatz ausgestellt: eine Sammlung Tausender Silbermünzen und -barren sowie Goldschmiedearbeiten aus dem 13. und 14. Jahrhundert. Am wertvollsten ist ein jüdischer Hochzeitsring. Wahrscheinlich hatte ein jüdischer Kaufmann den Schatz vor dem Pogrom 1349  vergraben. 

„In der Alten Synagoge erhält man einen umfassenden thematischen Einstieg in Erfurts jüdisches Erbe“, sagt die Unesco-Welterbe-Beauftragte Karin Sczech. Im Anschluss könne man durch die Altstadt spazieren und sich die weiteren historischen Orte anschauen.

Die Mikwe
Die mittelalterliche Erfurter Mikwe gilt als eines der wenigen erhaltenen jüdischen Ritualbäder in Europa. Mikwen spielen im Judentum bis heute eine wichtige Rolle, im Gegensatz zu früher wird das Wasser jedoch oft beheizt. Sie dienen der rituellen Reinigung. Frauen nutzen sie traditionell etwa nach der Menstruation und der Geburt eines Kindes, Männer häufig vor jüdischen Feiertagen. In die Erfurter Mikwe kann man von außen durch ein Fenster blicken. Betreten darf man sie im Rahmen einer kostenfreien öffentlichen Führung.

Das Steinerne Haus
Momentan kann man das Steinerne Haus nur von außen betrachten. Es stammt aus dem 13. Jahrhundert, und laut Sczech ist es „das am besten erhaltene steinerne Gebäude in Erfurts Altstadt aus dem Mittelalter“. In Zukunft sollen Tourist:innen es ebenfalls betreten dürfen. Ein Erschließungsplan sei in Arbeit, jedoch kompliziert, so Sczech. „Das Steinerne Haus ist umbaut von Gebäuden. Um hineinzukommen, muss man momentan durch mehrere Nachbarhäuser gehen.“

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