Warum die Philharmonie Berlin zu den besten Musiksälen der Welt gehört

Große Bühne: Anlässlich des 60. Geburtstags durfte DB MOBIL einen Tag lang backstage im berühmten Konzerthaus verbringen – mit Einblicken in den aufregenden Alltag einer Musikerin

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Datum: 12.10.2023
Lesezeit: 8 Minuten
Doppelbild: links der Eingang der Berliner Philharmonie. Rechts ein Bild der Cellistin vor eine Glaswand.

Es gibt ödere Arbeitswege. Mit dem Cello auf dem Rücken kommt Solène Kermarrec bei schönstem Spätsommerwetter morgens zu Fuß zur Philharmonie. Hier ist die Musikerin seit fünfzehn Jahren angestellt, als Mitglied der 12 Cellisten, der international bekannten Kammermusikformation der Berliner Philharmoniker.

Regelmäßig den berühmten Bau des Architekten Hans Scharoun zu betreten, ist für Kermarrec immer noch etwas Besonderes. Und wenn sie sich auf der Bühne im Großen Saal befinde, spüre sie ein Gefühl der Freiheit, sagt sie: „Der Klang fliegt in jede Ecke. Es fühlt sich offen und unbeschränkt an, wenn man in der Mitte des Raumes sitzt.“ Niemand werde hervorgehoben, alle seien gleich, und man werde von überall gesehen. Diesen demokratischen Ansatz hat auch Scharoun bei seinem Entwurf des Musikhauses verfolgt, das am 15. Oktober sein 60. Jubiläum feiert. Aber dazu später mehr.

Vererbte Liebe: Solène Kermarrec (links) begann im Alter von fünf Jahren mit dem Cellospiel, seit 2007 ist die Philharmonie Berlin (rechts) ihr Arbeitsplatz. Auch Kermarrecs Tochter, 8, beherrscht das Instrument schon

Heute steht für die Cellistin Neue Musik auf dem Programm, im Rahmen des Musikfests Berlin. Der Begriff Neue Musik umschreibt Stücke aus dem 20. und 21. Jahrhundert, die sich oft durch extreme Klänge auszeichnen und dissonant und laut sein können.

Für die vier Kompositionen von Iannis Xenakis, Márton Illés, Karl Amadeus Hartmann und György Kurtág wird im fast ausverkauften Großen Saal mit seinen 2400 Sitzplätzen immens aufgefahren: Bis zu 18 Erste Geigen, 16 Zweite Geigen, 14 Bratschen und 12 Celli sind zu hören, auf der Bühne sitzen zeitweise 119 Musiker:innen. Die Generalprobe mit Chefdirigent Kirill Petrenko findet morgens statt, er lässt einige Passagen oft wiederholen, bis er zufrieden ist.

Eine von 27 Frauen bei den Berliner Philharmonikern: die französische Cellistin Solène Kermarrec, 40

Anstrengend und lang seien diese Stunden mit ihm immer erzählt Kermarrec vorher im Stimmzimmer, in dem sie ihr Cello auf die richtige Tonhöhe einstellt. „Petrenko arbeitet akribisch und achtet auf jedes Detail. Aber wenn wir dann das Konzert vor Publikum spielen, merke ich, dass das alles einen Sinn ergibt.“

Normalerweise seien eher klassische, romantische Stücke ihr Repertoire. „Neue Musik ist aber auch spannend. Sie entfaltet ihre Kraft vor allem im Zusammenspiel mit dem Publikum“, sagt die Cellistin. 

Von einem Auftritt in der Berliner Philharmonie träumen alle

Solène Kermarrec

Die gebürtige Französin hat früh angefangen. Bereits mit fünf schickten ihre Eltern sie zum Musikunterricht in ihrer Heimat Brest. Eigentlich wollte sie Kontrabass spielen, aber weil sie noch zu klein für das große Instrument war, wurde es das Cello.

Kermarrec stellte sich schnell als außergewöhnlich begabt heraus, pendelte mit vierzehn zwischen Brest und Paris, um dort Musikunterricht zu nehmen, und zog mit sechzehn allein in die französische Hauptstadt. Sie besuchte das Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse und ging danach für ein Stipendium nach Budapest. Mit 19 zog sie nach Berlin, um ein Studium an der Berliner Universität der Künste zu beginnen. 

Natürlich sei ihr die weltbekannte Philharmonie Berlin früh ein Begriff gewesen: „Schon in Paris waren wir wahnsinnig beeindruckt von allem, was aus der Philharmonie kam. Von einem Auftritt dort träumen alle.“ Ihr Lehrer an der Berliner Universität, selbst bei den Berliner Philharmonikern, ermutigte die Studentin 2006, sich für die Philharmoniker zu bewerben. 

Kermarrec spielte vor – und wurde direkt engagiert. Seit 2007 ist sie dort Mitglied und reist weltweit zu Auftritten. „Doch es ist immer wieder schön, nach Berlin zurückzukommen und hier auf der Bühne zu sein. Die Philharmonie ist inzwischen wie ein Zuhause für mich.“

Bill Murray mietete gleich die gesamte Philharmonie

Nicht nur Größen wie Herbert von Karajan oder Sir Simon Rattle standen hier schon als Chefdirigenten auf der Bühne, auch Sängerin Hildegard Knef, Pianist Lang Lang oder Komiker Bill Murray sind aufgetreten. Letzterer mietete gleich das ganze Haus für seine Show. Schauspieler Christoph Waltz wählte die Philharmonie für ein Modeshooting, und sein US-Kollege Bradley Cooper besuchte Proben und ein Konzert, um sich auf seine Rolle als Leonard Bernstein im Film Maestro vorzubereiten.

Lebenslange Freundschaft: Dank der Freunde der Philharmonie e.V. wurde nicht nur der Bau der Philharmonie Berlin durch Hans Scharoun ermöglicht, auch heute noch kümmert sich der Verein um das Haus und seine Musiker:innen, etwa durch die regelmäßige Ausstattung mit wertvollen Instrumenten oder die Veranstaltung besonderer Konzerte

Zur Saisoneröffnung vor einigen Wochen saßen Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel und ihr Mann Joachim Sauer ebenso im Publikum wie Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer, Komiker Olli Dittrich, Musiker Max Raabe oder Regisseurin Maria Schrader, mit der DB MOBIL auch schon Fotos im Gebäude des Konzerthauses machte.

Dabei waren die Anfänge des heute ikonischen Musikhauses alles andere als Erfolg verheißend. Nachdem die Alte Philharmonie im Zweiten Weltkrieg zerstört worden war, gründete sich 1949 die Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie e.V. (seit 2008: Freunde der Berliner Philharmoniker e.V., siehe Kasten), um den Berliner Philharmonikern zu einem neuen Konzertsaal zu verhelfen. 

Unbefristet: Solène Kermarrec hat nicht vor, ihren Arbeitsplatz noch einmal zu wechseln. Das tun übrigens die wenigsten Musiker:innen der Berliner Philharmoniker, wenn sie einmal fest dazu gehören

Mit Benefizkonzerten, Lotterien, Spendenaktionen und Sonderbriefmarken sammelte der Verein Spendengelder und verantwortete die Ausschreibung des Bauwettbewerbs von 1956. Der Gewinner: Künstler und Architekt Hans Scharoun.

Doch dessen Entwurf mit moderner Architektur und revolutionärer Konzeption des Konzertsaals mit dem Orchester in der Mitte bekam so viel Gegenwind, dass er beinahe nicht umgesetzt worden wäre. Wohl nur dem Einsatz von Scharouns Freund, dem Chefdirigenten Herbert von Karajan, war es zu verdanken, dass der Architekt 1956 doch noch mit der Verwirklichung seiner Vision beginnen konnte. 

Beste Freunde

Die Freunde der Berliner Philharmoniker e.V. (früher: Gesellschaft der Freunde der Berliner Philharmonie e.V.) trugen maßgeblich zum Bau der Philharmonie bei. In den Achtzigerjahren sorgte der Verein dann dafür, dass der „kleine Bruder“ der Philharmonie, der Kammermusiksaal, entstand. 

Das Engagement setzt sich bis in die Gegenwart fort. Die Freunde ermöglichen viele Projekte des Orchesters. Sie engagieren sich für den Ankauf neuer Instrumente, die vor allem jungen Orchestermitgliedern zur Verfügung gestellt werden. Außerdem kümmern sie sich um die Verbesserung der Ausstattung des Musikhauses: Zum Beispiel gehören die Modernisierung und der Ausbau der Tonstudios und die Renovierung der Orgel im Großen Saal zu den Förderprojekten.

In den Folgejahren wurde die Berliner Philharmonie Vorbild für Konzertsäle weltweit – das Podium inmitten des Publikums findet sich zum Beispiel auch in der Walt Disney Concert Hall in Los Angeles, der Suntory Hall in Tokio oder im Opera House in Sydney. Und das Dach der Elbphilharmonie in Hamburg weist ähnlich geschwungene Formen auf wie die dafür einst vom „Spiegel“ 1956 als „gebaute Kakophonie“ verspottete Berliner Philharmonie. 

Lange vor der Coronapandemie, als noch kaum jemand an die Möglichkeit von Streaming-Konzerten dachte, entstand hier die Idee einer Digital Concert Hall, mit acht fest installierten Kameras, diversen Mikrofonen und einem professionellen Videostudio. Seit fünfzehn Jahren nun können Interessierte Konzerte, Interviews und Playlists anschauen, sie finden knapp 2500 Werke im Archiv. Um die 50.000 Abonnent:innen hat die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker inzwischen, es gibt Tickets von sieben Tagen bis zu einem Jahr. Dreimal im Jahr werden Konzerte live in teilnehmende Kinos übertragen, das nächste Event findet an Silvester mit Opernsänger Jonas Kaufmann statt.

Von der Philharmonie in die Welt

Auch das Konzert an diesem Abend wird aufgenommen und später gestreamt. Wie findet Solène Kermarrec es, dass ihre Musik in die Welt hinausgeht? „Wenn nicht gefilmt wird, dann bleibt es ein Konzert, das einmalig ist, intimer“, sagt sie.

Klassik-Streaming: Schon seit 15 Jahren gibt es die Digital Concert Hall der Berliner Philharmoniker. Auch die Proben für das Konzert am Abend werden im Videostudio aufgezeichnet (links im Bild: Solène Kermarrec). Vor dem Konzert genießt die Cellistin die Ruhe in der noch leeren Philharmonie (rechts)

Aber natürlich habe es seinen Reiz, wenn man wisse, dass man weltweit gehört und gesehen werden könne. „Dadurch werden wir als Orchester noch einmal ganz anders wahrgenommen. Wenn mich zum Beispiel Kollegen aus New York auf ein Konzert ansprechen, das sie gesehen haben, freut mich das.“ 

Aber wenn etwas schiefläuft, ist es für immer im Netz. Zum Beispiel ein Video von einem Konzert 2017, in dem zu sehen ist, wie ein Saitenhalter von Kermarrecs Cello samt Saiten abbricht und der verblüfften Musikerin entgegenfliegt. Sie habe sich total erschrocken und im ersten Moment gar nicht gewusst, was passiert sei, erzählt Kermarrec. „Es hat so laut geknallt. Ich bin dann von der Bühne gegangen und habe für die zweite Konzerthälfte mein anderes Cello geholt, das in meinem Spind stand.“

An diesem Abend im Rahmen des Musikfests jedoch läuft alles glatt. Wenn man das Wort „glatt“ im Zusammenhang mit Neuer Musik überhaupt verwenden kann. Kermarrec, mit einem der Ersten Geiger des Orchesters verheiratet und Mutter einer achtjährigen Tochter, kommt erst kurz vor dem Konzert in die Philharmonie. 

Nachdem sie ihren bunten Sommeroverall mit Blumenmuster gegen eine schwarze Bluse und eine schwarze Hose getauscht hat, geht es auch schon los. Die Musikerin bahnt sich ihren Weg über die voll besetzte Bühne. „Hier kommt man ja kaum durch“, sagt sie und setzt sich schließlich lachend auf ihren Stuhl in den vorderen Reihen.

© Bettina Stöss
Großer Aufschlag: Zeitweise befinden sich beim Konzert im Rahmen des Musikfests Berlin 119 Musiker:innen auf der Bühne

Das Konzert beginnt, es ist kurz – nur 35 Minuten bis zur Pause und 37 Minuten danach –, aber diese gute Stunde hat es in sich. Es ist sehr laut, Geigen, Celli, Flöten & Co. kreischen, kratzen, quietschen, der Schlagzeuger trommelt wie wild auf die Pauke ein. Das Publikum liebt das „herb-heutige Programm“, als das der „Tagesspiegel“ das Konzert später beschreiben wird. 

Die Leute jubeln, klatschen, trampeln. Als alles vorbei und der Applaus verklungen ist, eilt Kermarrec von der Bühne. Sie muss schnell los, die Babysitterin zu Hause ablösen. Aber sie freut sich: „Die harte Arbeit während der Proben hat sich gelohnt, der Abend war ein echter Erfolg!“

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