Maria Schrader: „Chefin zu sein ist bis heute ein Thema für mich“

Wohl jede:r Filmschaffende träumt davon, sie hat es geschafft: den Sprung nach Hollywood. Regisseurin (und Schauspielerin) Maria Schrader über die Arbeit in den USA, ihren Film über den Harvey-Weinstein-Skandal und darüber, warum ihr Harmoniebedürfnis ein Gefängnis für sie werden kann

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Christine Fenzl für DB MOBIL

Um 17 Uhr greift Maria Schrader in ihren Rucksack und packt Käsestullen und einen geschnittenen Apfel aus. Es ist das Erste, was sie an diesem Tag zu sich nimmt, nach Kaffee und Ingwer-Zitronen-Tee aus ihren mitgebrachten Thermoskannen. Es war ein langer Shooting-Tag im Kammermusiksaal der Philharmonie Berlin, den sich die Regisseurin gewünscht hat als einen ihrer Lieblingsorte in der Hauptstadt. „Ich halte gut durch ohne Essen“, sagt sie und lacht. Die Regisseurin – weite schwarze Hose, Schluppenbluse und grau-pinkfarbene Nike Air Max – ist Durchhalten gewohnt. Gerade hat sie, nach den Erfolgen von „Ich bin dein Mensch“ und der Serie „Unorthodox“, ihren neuen Film „She Said“ fertiggestellt. Er handelt von der Enthüllung des Skandals um Harvey Weinstein durch zwei Journalistinnen der „New York Times“. Die Aufdeckung des sexuellen Missbrauchs von Schauspielerinnen und Mitarbeiterinnen durch den US-Filmmogul gilt als Anfang der weltweiten #MeToo-Bewegung. „She Said“, übrigens von Brad Pitts Filmfirma produziert, feierte bereits im Oktober Weltpremiere in New York, wo Maria Schrader, 57, Standing Ovations erhielt. Der Regie-Autodidaktin, die vor allem als Schauspielerin bekannt geworden ist („Aimée und Jaguar“, „Deutschland 83‒89“), werden große Chancen in der Filmpreissaison vom Golden Globe bis zum Oscar ausgerechnet. In Deutschland startet „She Said“ am 8. Dezember 2022.

Christine Fenzl für DB MOBIL

Frau Schrader, die Enthüllungen über Harvey Weinstein kamen im Herbst 2017 raus. Können Sie sich erinnern, was Sie damals gedacht haben?

Auch ich hatte vorher Geschichten über Weinstein gehört, aber ich war überrascht über das Ausmaß. Die Zahl an Menschen, die sich nach der Veröffentlichung des Artikels aus aller Welt zu Wort gemeldet und ihre eigenen Missbrauchserfahrungen veröffentlicht haben, war überwältigend. Es war eine Zeitenwende. Und natürlich habe ich an meine eigenen Erlebnisse gedacht. Manches ist in meinem Unterbewusstsein verschwunden gewesen, weil es Normalität war. Der Bericht über Weinstein hat einen Damm des Schweigens gebrochen und zu einer Bewusstwerdung geführt, persönlich und gesellschaftlich.

Sexuelle Übergriffe waren normal für Sie?

Nein, aber chauvinistische Sprüche, verbaler Sexismus bis hin zu körperlicher Belästigung waren durchaus normal. Auf der Skala zwischen unangenehmem Erlebnis bis zu Gewaltverbrechen gibt es viele Abstufungen. Aber ich habe auch sexuelle Übergriffe erlebt, zum Beispiel bei einem meiner ersten Theaterengagements durch einen Kollegen.

Haben Sie den Mann angezeigt?

Sie meinen bei der Polizei? Nein, das war damals genau so ein Graubereich, der heute neu definiert wird. Ich hatte Angst und Widerwillen vor jedem Probentag, und irgendwann bin ich zur Intendanz gegangen. Dort habe ich einen Satz gehört, von dem ich dachte, es gebe ihn nur in ausgedachten Geschichten. Aber mir wurde wirklich gesagt: „Willkommen beim Theater, Mädchen.“ Ich habe dann einen Anwalt eingeschaltet, und der Kollege wurde verwarnt.

Mehr nicht?

Mehr nicht. Aber mein Anwalt hat mir gesagt, dass ich jederzeit das Recht hätte, die Bühne zu verlassen, sollte so etwas noch mal vorkommen. Das hat mir geholfen.

Sie waren damals noch sehr jung und am Anfang Ihrer Karriere. Woher haben Sie den Mut genommen, gegen den Kollegen vorzugehen?

Ich habe im Zuge der #MeToo-Debatte und bei der Produktion von „She Said“ auch darüber nachgedacht, welche Faktoren mich dazu bringen konnten.

Haben Sie eine Antwort darauf gefunden?

Zum einen haben meine Eltern mich schon als Kind darin bestärkt, mich gegen Dinge zu wehren, die mir nicht recht waren – egal, worum es ging. Außerdem fühlte ich mich nicht abhängig von diesem Engagement, ich hatte schon eigene Projekte. Ich hatte einen Freund, der mich unterstützt hat, und ich war glücklicherweise bis dahin unversehrt geblieben und habe den Übergriff als ungehörig und falsch empfunden. Das alles zusammengenommen ist eine privilegierte Situation und überhaupt nicht selbstverständlich.

Ich habe auch sexuelle Übergriffe erlebt

Maria Schrader

Sie haben mal gesagt, dass es Ihrer Vermutung nach kaum eine Schauspielerin oder überhaupt eine Frau gebe, die von #MeToo-Erlebnissen verschont geblieben sei …

Harvey Weinstein ist in unserem Film ja nicht mehr als ein Platzhalter. Für Machtmissbrauch brauchte man kein großer Filmproduzent zu sein, man benötigte keine riesige Firma wie Miramax, kein Imperium.

Es reichte ein Mann.

Ja, es reichte ein Mann in mächtiger Position. Das hat mit Hierarchie, Abhängigkeiten und gesellschaftlichen Strukturen zu tun. Ich glaube, dass jede Frau zumindest Erlebnisse von Einschüchterung mit sich herumträgt, ob durch einen Lehrer, einen Professor, einen Vorgesetzten oder einen Kollegen, ein männliches Familienmitglied.

Es gab auch Widerstand gegen die #MeToo-Bewegung. 2018 beispielsweise positionierten sich 100 Französinnen, unter ihnen Catherine Deneuve, mit einem offenen Brief, in dem sie #MeToo als Denunziationskampagne bezeichneten. Es dürfe auch, so die Autorinnen, eine „Freiheit lästig zu sein“ geben. Ihre Antwort darauf?

Diese Frauen haben die Stimme jener Männer adaptiert, die uns damals plötzlich gesagt haben: „Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich mich euch gegenüber verhalten soll. Was darf ich denn noch sagen und machen?“ Solche Sätze haben mich wütend gemacht. Weil ich denke: Es ist schon sehr deutlich, was ein einvernehmlicher Flirt ist und was etwas ist, das jemand anderem unangenehm sein könnte. Ich glaube auch, dass jeder Mann, der bei Verstand ist, genau diese Grenzüberschreitung selbst empfinden und benennen kann.

Wurde in der allgemeinen Aufregung in einigen Fällen das Augenmaß verloren?

Ich habe #MeToo als eine Art Revolution empfunden. Da hat sich etwas Bahn gebrochen, das so lange überfällig war, mit einer Wucht, die so umfassend war, dass Köpfe gerollt sind. In einigen Fällen war die alleinige Anschuldigung schon der Beweis, und Männer haben ihren Job verloren. Ich glaube aber, dass das im Wesen einer solchen Umwälzung liegt und kaum vermeidbar ist.

Christine Fenzl für DB MOBIL

„She Said“ ist Ihre fünfte Arbeit als Regisseurin, Sie sind aber als Schauspielerin bekannt geworden. Was tragen Sie in die Spalte „Beruf“ ein, wenn Sie ein Formular ausfüllen müssen?

„Schauspielerin“. Manchmal schreibe ich „Regisseurin“ noch dazu, aber nicht als alleinige Berufsbezeichnung.

Warum nicht?

Weil ich auch Schauspielerin bin. Und da habe ich ein Diplom. Bei der Regie bin ich Autodidaktin.

Sie kommen aus einem Künstler:innenhaushalt, Ihr Vater arbeitete nebenberuflich als Maler, Ihre Mutter als Bildhauerin. War Ihr Weg quasi vorgezeichnet?

Meine Eltern waren beide Lehrer, haben aber Kunst studiert und davon geträumt, von der Kunst leben zu können. Und ich war insofern linientreu, als ich den Traum meiner Eltern erfüllt habe: Vollzeit als Künstlerin zu arbeiten.

Haben sich Ihre Eltern nie gesorgt, weil Sie einen finanziell eher unsicheren Beruf ergriffen hatten?

Ihre Hauptsorge war eher, dass ich Ehefrau und Mutter werden könnte und dadurch nicht mehr unabhängig wäre (lacht).

Klingt, als wären sie ihrer Zeit voraus gewesen.

Sie waren sehr von Familie geprägt. Sie haben sich um ihre kriegsversehrten Eltern gekümmert, bis an deren Lebensende. Und so sehr sie für meine beiden Schwestern und mich liebende Eltern waren, haben sie die familiären Strukturen auch manchmal als Gefängnis empfunden. Insofern würde ich nicht sagen, dass sie ihrer Zeit voraus waren, sondern dass sie hin- und hergerissen waren zwischen eigener Sehnsucht nach Freiheit und Verantwortungsbewusstsein. Und deshalb gab es den Wunsch und auch die Erwartung, dass wir es in dieser Hinsicht mal besser haben sollten.

Christine Fenzl für DB MOBIL

Sie sind in einem kleinen Ort im Großraum Hannover groß geworden. Wann haben Sie gemerkt, dass Sie rauswollten in die Welt?

Ich habe mit 14 an einem Austausch von deutschen und israelischen Jugendlichen teilgenommen, einen Sommer lang konnte man in Israel Workshops machen. Ich habe den Theaterkurs belegt, eher durch Zufall, weil mir der Lehrer sympathisch war. Danach wollte ich Schauspielerin werden. Ich habe in der Schule Theater gespielt, Stücke gelesen und am Bühnenbild mit gebaut. Mit 16 konnte ich ein Praktikum am Theater Hannover machen. Und spätestens, als ich dort unter den Profis in einem Stück mitgespielt habe, war es um mich geschehen. Ab dem Zeitpunkt wollte ich nur noch weg aus meinem Heimatort.

Wie ging es dann weiter?

Ich nutzte die erste Gelegenheit, die sich bot: Ich habe mich heimlich an einer Schauspielschule in Wien beworben, wurde an meinem 18. Geburtstag aufgenommen und habe mein Abitur abgebrochen.

Wie sah die Reaktion Ihrer Eltern aus?

Wenn ich das Abi geschmissen hätte, um in der Fußgängerzone zu kiffen, dann hätten sie wahrscheinlich ein großes Problem damit gehabt. Aber ich habe ja etwas gemacht, wovon sie geträumt haben. Ich habe meinem Elternhaus den Rücken gekehrt und bin einmal im Jahr nach Hause gekommen – diese Art von Freiheit haben mein Vater und meine Mutter nicht erlebt und mich deshalb darin sehr unterstützt.

Ich freue mich auf den Tag, an dem ein von Frauen geführtes Team normal ist

Maria Schrader

Nachdem Sie lange Zeit als Schauspielerin gearbeitet hatten, waren Sie erstmals beim Film „Liebesleben“, der 2007 im Kino lief, alleinige Regisseurin. Wie groß war die Umstellung?

Es war eine enorme Veränderung: Als Schauspieler ist man ja darin geübt, auf die Vision der Regie zu reagieren, sich anzupassen. Für mich war es ein großer Schritt, die Ansagen zu machen.

Sie haben in einem Interview erzählt, dass Ihr Sprung in die Regie mit Schwierigkeiten verbunden gewesen sei, auf die männliche Kollegen vielleicht weniger stoßen würden. Wie sahen diese Probleme aus?

Ich glaube, dass die Mehrheit der Frauen zumindest meiner Generation noch so aufgewachsen und so erzogen worden ist, dass wir erstaunt sind, plötzlich an der Spitze einer riesigen Truppe von Leuten zu stehen. Männer wurden anders erzogen und treten dementsprechend mit einem anderen Selbstverständnis auf. Als ich „Liebesleben“ in Israel drehte, hatte ich selbst wahrscheinlich das größte Problem damit, plötzlich ein großes Team anzuführen. Es ist ein einsamer Posten, und ich bin eine Zweiflerin. Außerdem bin ich ein sehr harmoniebedürftiger Mensch – das kann auch ein Gefängnis sein.

Wie äußerte sich dieses Harmoniebedürfnis?

Ich wollte, dass es den Leuten gut geht. Ich bin ihnen hinterhergegangen und habe sie gefragt, ob sie genug zu trinken haben, ob sie einen Kaffee wollen und ob sie sich wohlfühlen. Deshalb hat es mir noch stärker die Kraft aus den Adern gezogen, einen Feind am Set zu haben.

Wer hat gegen Sie gearbeitet?

Der Hauptdarsteller. Ich habe mit ihm etwas Klassisches erlebt: Er hat mich nicht ernst genommen. Er ist in Israel ein berühmter Schauspieler, viel erfahrener, viel älter. Er hat sich geweigert, meine Regieanweisungen zu befolgen, er hat mich beschimpft und einen offenen Brief an die Produzenten geschrieben und sie aufgefordert, mich zu feuern.

Das klingt anstrengend. Konnten Sie den Konflikt lösen?

Ich habe mir den Gegenwind viel zu lange gefallen lassen. Aber irgendwann habe ich gesagt: „Wenn du mit mir nicht arbeiten willst, machst du es allein. Ich gehe jetzt.“ Und habe das Set verlassen. Ich wurde dann zurückgeholt, und ab dem Zeitpunkt hat er nur noch leise geschimpft. Als er viel später den fertigen Film gesehen hat, hat er sich bei mir entschuldigt.

Sind Sie heute gern Chefin?

Ich glaube, dass das Chefsein bis heute ein Thema für mich ist. Dieses selbstverständliche Auftreten, einfach Ansagen qua Amt zu machen – das muss ich immer noch lernen. Aber mir macht die Arbeit als Regisseurin großen Spaß. Es macht mich glücklich, wenn ich das, was ich im Kopf habe, umsetzen kann. Und am schönsten finde ich es, wenn sich die papierne Hierarchie auflöst und man auf Augenhöhe mit allen Mitarbeitenden ist.

Dan Stevens, der Hauptdarsteller Ihres letzten Films „Ich bin dein Mensch“ lobte die Atmosphäre beim Dreh und die Art, wie Probleme gelöst wurden: Da habe er schon ganz andere, sehr männlich domi­nierte Sets erlebt, mit einem ganz anderen Level von Stress, wie er betonte. Was machen Sie anders?

Ich brauche Verbündete. Und ich versuche, Raum für kreativen Mut zu schaffen, für alle Beteiligten, für die Schauspieler, aber auch für mich. Dreharbeiten sind stressige Ausnahmezeiten. Man kämpft den ganzen Tag über gegen die Zeit, es passieren immer unvorhergesehene Dinge, da macht ein Klima der Angst oder des Misstrauens alles nur noch schwieriger.

Christine Fenzl für DB MOBIL

Sie haben mit „She Said“ erstmals in den USA bei einer US-Produktion Regie geführt. Welche unerwarteten Dinge sind beim Dreh geschehen?

Die fingen schon früher an. Normalerweise wäre ich drei Monate vor Drehbeginn in die USA gereist, um alles vorzubereiten: um Locations anzuschauen, die Schauspieler und Mitarbeiter zu finden. Ich hatte mein Visum und brauchte nur noch den Stempel des Konsulats. Doch das war wegen Corona geschlossen. Letztendlich konnte ich erst fünf Wochen vor Drehbeginn losfliegen. Und so haben wir während des Drehs nachts weiter vorbereitet.

Ein großer Teil des Films spielt in den Redaktionsräumen der „New York Times“. Waren das die Originalräume und echte Mitarbeiter:innen, die man im Hintergrund arbeiten sieht?

Es waren die Originalräume, aber die Reporter waren alle im Homeoffice. Die Menschen, die man im Film dort sieht, sind alles Statisten. Manchmal waren es bis zu 350 am Set. Ich habe jeden Einzelnen ausgewählt.

Wieso denn das?

Es ist eine große Aufgabe, den Newsroom, die Arbeit der Journalisten glaubhaft zu portraitieren. Und nach den Erfahrungen bei meiner ersten Regie habe ich meine Arbeitsweise umgestellt und versuche, alle Mitarbeiter persönlich kennenzulernen und möglichst gleichwertig in den Plan einzuweihen. Wenn bekannt ist, was direkt vor der Kamera geschieht, können die Menschen in der zweiten und dritten Reihe darauf reagieren.

Brad Pitts Produktionsfirma Plan B Entertainment hat Ihnen das Drehbuch angeboten. Wie kam es dazu?

Als „Unorthodox“ rauskam, haben sich viele amerikanische Produzenten bei mir gemeldet. Eines der Zoom-Meetings fand im Sommer 2020 mit Dede Gardner statt, die zusammen mit Brad Pitt Plan B führt. Viele Filme dieser Firma finde ich großartig. Wir redeten über alles mög­liche, und sie erzählte eher vage von diesem Projekt. Im Herbst bekam ich für „Unorthodox“ den Emmy, und im Winter haben Dede und ich erneut gesprochen. Sie sagte, dass sie alle meine Arbeiten gesehen hätten und sich einig seien: „Wenn du das willst, ist es deins.“

Ihre Reaktion?

Ich habe in ziemlicher Aufregung sofort das Drehbuch gelesen, zweimal hintereinander. Und ich war einigermaßen überwältigt, als ich begriffen habe, welche Geschichte das ist, wie sie erzählt wird und dass sie in meinem Schoß gelandet ist. Es war wie eine Begegnung – zuerst eine Überraschung, eine Verwunderung, und dann dieses seltsame Erkennen: Daraus kann etwas Gutes erwachsen, und ich bin vielleicht genau die Richtige dafür.

Was hat Sie davon überzeugt?

Es ist einerseits eine sehr amerikanische Geschichte, die ins Herz von Hollywood führt. Davon bin ich denkbar weit entfernt und frei vom Zweifel der Befangenheit, ich hatte ja nie mit Weinstein zu tun. Gleichzeitig ist die Geschichte universaler, es geht ja nicht nur um Weinstein oder Hollywood, sondern auch darum, was es eigentlich bedeutet, als Frau in patriarchalen Strukturen aufzuwachsen, zu arbeiten.

Im Film erlebt man als Zuschauer:in schmerzhaft die Einsamkeit der missbrauchten Frauen, das Zögern und die Scham, über die Übergriffe zu berichten. Warum suchen Frauen oft die Schuld bei sich selbst?

Weil uns seit Jahrhunderten erzählt wurde, dass gegen den Sexualdrang des Mannes kein Kraut gewachsen sei und dass wir selbst für unsere Sicherheit zu sorgen hätten: kein kurzer Rock, nicht nachts in diese oder jene Gegend, am besten gar nicht ausgehen. Und wenn etwas passierte? Dann mussten wir zu oft beweisen, es nicht selbst provoziert zu haben und es nicht eigentlich doch zu wollen. Dass sexuelle Belästigung strafbar ist, gilt noch keine 10 Jahre. Wenn jemand in mein Haus einbricht und mein Geld klaut, dann werde ich als Person nicht angezweifelt. Niemand gibt mir das Gefühl, irgendetwas daran sei meine eigene Schuld. Warum und für was sollte ich mich schämen? So sollte es auch bei sexuellen Übergriffen sein.

Die meisten Ihrer Mitarbeitenden im Filmteam waren Frauen. War das so beabsichtigt?

Unser Hauptziel war es, die besten Leute zu finden, die diesen Film umsetzen konnten. Die Geschichte handelt von Frauen, die aufstehen, ihre Stimme erheben, und es hat sich richtig angefühlt, die Umsetzung vor allem in Frauenhand zu geben. Aber ich freue mich auf den Tag, an dem ein von Frauen geführtes Team normal ist und keine besondere Erwähnung mehr braucht.
 

Christine Fenzl für DB MOBIL

Vita

Geboren am 27. September 1965 in Hannover als Tochter eines Lehrers und einer Lehrerin.

Mit 14 entdeckt sie ihre Liebe zur Bühne, als sie in Israel einen Theaterkurs belegt. Mit 18 bewirbt sie sich als Schauspielschülerin am Max Reinhardt Seminar in Wien und wird angenommen.

Ihr Filmdebüt hat Schrader 1989 mit „RobbyKallePaul“, endgültig bekannt wird sie 1998 als Jaguar im Drama „Aimée und Jaguar“. 

Bei „Liebesleben“ (2007 im Kino) führt sie erstmals allein Regie. 2020 bekommt sie für ihre vierte Regiearbeit, die Netflix-Serie „Unorthodox“, einen Emmy. Die KI-Komödie „Ich bin dein Mensch“ steht 2021 auf der Oscar-Shortlist.

Am 8. Dezember 2022 startet Schraders Film „She Said“. Carey Mulligan und Zoe Kazan spielen die Hauptrollen in der US-Produktion über den Sexskandal um Harvey Weinstein.

Privates: Schrader lebt in Berlin und hat eine erwachsene Tochter.

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe Dezember 2022

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