Null Promille

Cocktails ohne Alkohol – macht das Spaß? In Berlin wollen Bars und Läden beweisen, dass Drinks auch ohne Prozente berauschend schmecken können. Wir haben vor Ort tief ins Glas geschaut

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Willi Bittorf
Foto: Christian Werner
Erfindergeist: Willi Bittorf kreiert in der Bar am Steinplatz alkoholfreie Drinks mit viel Charakter

Irgendwann gegen Mitternacht ist es so weit: Ich bin voll, richtig voll. Vor mir auf der Theke der Bar Fabelei steht ein Getränk, bei dem ich ganz sicher bin, dass ich es nicht mehr runterkriege. Denn hinter mir liegt eine Tresentour, auf der ich Sekt, Bier und – kurz nachrechnen – acht Cocktails getrunken habe. Mal sauer, mal herb, mal süßlich oder mit salziger Note, aber alle charakterisiert durch ein besonderes Merkmal: null Prozent Alkohol. Ich wollte wissen, ob es stimmt. Ob Berlin, bekannt für sein buntes Nachtleben, auch die deutsche Hauptstadt der „Sober-Bars“ ist. Sober heißt so viel wie nüchtern bleiben, trinken ohne Alkohol, feiern ohne Rausch – kann das Spaß machen?

Foto: Christian Werner
Scharfe Sache: der „Eibisch & Drachenchili“

1. Revolution im Glas

Ich beginne meine Sober-Tour in Berlin-Charlottenburg in der Bar am Steinplatz. Einem Ort mit Geschichte, denn in diesem Separee eines früheren Grandhotels nippten einst Filmstars wie Greta Garbo und Zarah Leander an ihren Drinks. Auch heute noch verbreiten elegante Ledersessel auf grauschwarzem Marmorboden einen Hauch von Noblesse, während hinter dem Tresen Willi Bittorf, 32, seit einem Jahr die Revolution probt: Er ist der erste Chef einer Hotelbar in Deutschland, der eine komplette Karte mit ausschließlich alkoholfreien Cocktails entwickelt hat.

Im Halbdunkel der Bar greift Bittorf zu verschiedenen Flaschen, um einen „On the Seaside“ anzurichten. Er füllt kleine Messbecher mit Limettenwasser und Kokossirup, beides von ihm selbst hergestellt. Hinzu kommt gesalzene Grapefruit-Limonade – die betone den herzhaft-würzigen Geschmack. Dann noch einen Schuss alkoholfreien Wermut für die Kräuternote, alles im Shaker vermischt und sanft über Eis abgeseiht. Im Glas bildet sich über einer blassroten Flüssigkeit heller Schaum, auf den Bittorf einen Chip aus getrocknetem Seegras legt. Voilà!

Ich nippe, nippe noch mal – wow! Bombe, denke ich, aber keine mit Alkohol, eine mit ganz viel Geschmacksvolumen. Meinen Gaumen überfällt ein Schwall fruchtiger Noten, begleitet von Kokos- und Vanilletönen, die ein raffiniertes Wechselspiel von süß und sauer in Gang setzen, bis sich die Explosion mit einem leicht salzigen Abgang verflüchtigt. „On the Seaside“, so viel ist schon mal klar, wird meine Einstiegsdroge in die Welt der Sober-Drinks. Dabei hat Bittorf noch neun weitere Kreationen auf der Karte, zum Beispiel „Let’s talk about Sekt, Baby!“, für die er alkoholfreien Schaumwein mit Essenzen von Crema Catalana und Johannisbeeressig in einen erfrischenden Aperitif verwandelt.

Wie kommt man auf diese Ideen? „Monatelang haben wir im Team an Mixturen getüftelt“, erzählt der Berliner, „es ging uns nie einfach darum, eine alkoholfreie Variante von Klassikern wie Caipirinha zu machen. Wir wollten eigene hochwertige Alternativen schaffen.“ Die große Herausforderung dabei: den Geschmacksträger Alkohol zu ersetzen und dem Drink dennoch so viel Tiefe zu verleihen, dass er nicht wie gepimpter Fruchtsaft schmeckt.

Wichtig sei ein ausgewogenes Zusammenspiel von Süße, Säure, Schärfe, salzigen und bitteren Komponenten, verrät er, „aber das herauszufinden braucht Zeit“. Bittorf ist kein Missionar, er mixt auch Hochprozentiges. Aber er hat den Ehrgeiz, die Bar ganz oben in der Sober-Szene zu platzieren. So wie The Virgin Mary Bar in Dublin oder die Listen Bar in Manhattan, die schon vor ein paar Jahren von sich reden machten. „Man hat dort früh erkannt, dass immer mehr Gäste auf Gesundheit und Wellness achten. Das sehen wir auch bei uns. An manchen Tagen sind schon mehr als 30 Prozent aller Cocktails, die wir servieren, alkoholfrei.“

Foto: Christian Werner
Erfindergeist: Willi Bittorf kreiert in der Bar am Steinplatz alkoholfreie Drinks mit viel Charakter
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2. Früh dran im Späti

Beruht der Erfolg der Bar am Steinplatz allein auf Bittorfs Kreativität – oder haben tatsächlich immer mehr Menschen Lust, ohne Alkohol zu feiern? Die Antwort darauf suche ich im Bergmannkiez in Berlin-Kreuzberg, wo Isabella Steiner einen ganz besonderen Laden betreibt: den Null Prozent Späti. Bitte? Ein Büdchen für die Partyjünger, in dem man nicht vorglühen oder nachtanken kann – und wenn, dann nur mit ohne Prozente? „Ich weiß, klingt erst mal absurd – aber es funktioniert“, sagt die 33-Jährige und führt mich durch den Souterrainladen, der voller Kundschaft ist. Die Flaschen in den Regalen tragen edle Etiketten, so wie Produkte mit Promille. Gin, Whisky, Wermut, Wein. „Schmeckt der auch wie Riesling?“, möchte eine Kundin wissen. Steiner berät sie ausführlich. Und weist darauf hin, dass ihre Weine und Sekte bis zu 0,5 Volumenprozent Alkohol enthalten können, was nach dem Lebensmittelrecht noch als „alkoholfrei“ gilt.

Ihr Laden ist mehr Fachhandel als Späti und Steiner die Prophetin einer neuen Zeit. „Die Zukunft von Alkohol ist alkoholfrei“, sagt sie, und auch: „Alkoholfrei ist das neue vegan.“ Echt? Man muss ihr nur lange genug zuhören, um zu der Einsicht zu gelangen: Sie meint es bierernst. Nach Gründung der Onlineplattform „Nüchtern Berlin“ schrieb sie mit einer Co-Autorin das Buch „Mindful Drinking“ und wurde so zur deutschen Botschafterin einer neuen Bewegung. Die heißt „Sober Curiosity“ und meint vor allem jüngere Menschen, die sich mit dem Bewusstsein für gesunde Ernährung und Fitness voller Neugier alkoholfreien Produkten zuwenden.
 
Steiner räumt ein, ab und zu auch ein Glas Wein zu trinken. „Ich finde aber, dass es heute tolle Alternativen gibt.“ Das sei vor zwei Jahren noch nicht der Fall gewesen. „Vieles, was ich probiert habe, schmeckte wässrig oder nach Saft.“ Seither seien aber immer mehr hochwertige alkoholfreie Getränke auf den Markt gekommen, darunter auch Varianten von Rum, Gin und Kräuterschnäpsen.

Foto: Christian Werner
Macht sich keinen Kopf: Isabella Steiner propagiert Genuss ohne Alkohol. Sie betreibt mit Erfolg den „Null Prozent Späti“ in Berlin und plant für 2022 den Ausbau des Onlinehandels
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3. Auf nach Schöneberg

19.30 Uhr – Zeit, eine der neuen Sober-Bars anzusteuern. Mit dem Zerolique in Friedrichshain eröffnete zu Beginn der Pandemie die erste gänzlich alkoholfreie Bar in Deutschland, doch seit dem ersten Lockdown kämpft sie ums Überleben. An diesem Abend ist sie geschlossen. Mein Ziel ist daher Schöneberg, das Zentrum des gepflegten „Non-alcohol“-Genusses in Berlin. Hier buhlen mit dem Voima, dem Bonvivant und der Fabelei gleich drei Bars um die Gunst von Gästen, die feiern wollen, ohne sich einen Kopf zu machen. Auf dem Weg dorthin denke ich an die Worte von Stefan Adrian, mit dem ich am Morgen telefoniert hatte. Der Stellvertretende Chefredakteur von „Mixology“, Deutschlands wichtigstem Magazin für Barkultur, ist überzeugt, dass „sober“ die Gastronomie nachhaltig prägen werde. „Die Nachfrage wächst, und die Bars nehmen das Thema immer ernster“, sagt er. Die Pandemie habe diese Entwicklung noch gefördert: „Corona verstärkt das Bedürfnis, gesund zu leben. Man verzichtet öfter auf Alkohol, zu feiern gibt es gerade auch nicht so viel.“

Der Trend verändert auch die Trinkzeiten. Ohne Alkohol geht schon früher – warum nicht mittags? Das Bonvivant lockt seine Kundschaft nicht nur mit einfallsreicher vegetarischer Küche, es serviert dazu auch alkoholfreie Drinks. Dafür greift die Crew auf regionale Zutaten und viel Selbstgemachtes zurück. „Gäste, die sonst nie Cocktails trinken, probieren mal einen zum Essen“, berichtet Julik Schimmel, 20, der heute am Tresen steht. „Das ist meist der Türöffner.“   

Schimmel mixt mir einen der Signature-Drinks des Hauses, genannt „Eibisch & Drachenchili“. Er vermengt dafür kleine Mengen von Hibiskustee und Himbeerjus mit Beerenessig und gießt die Mischung mit etwas Soda auf. Den Rand des eiskalten Glases hat er zuvor in ein Granulat aus Pfeffer-Himbeer-Salz gestippt. Der Stoff schmeckt, wie er aussieht: feurig. Wobei unter der Schärfe verschiedene Aromen aufbegehren, sich aber unter der kräftigen Chilischicht leider nicht durchsetzen können. Ich probiere einen weiteren Drink mit viel Fruchtaroma, bevor ich weiterziehe.

Foto: Christian Werner
Feuer frei: Julik Schimmel mixt in der Bar des Restaurants Bonvivant würzig-pikante Drinks
Foto: Christian Werner
Kostprobe: der Autor mit Bonvivant-Mixer Schimmel (links)

4. Aperitif kreativ

Während das Bonvivant mit seinem bunten Mobiliar verspielt wirkt, empfängt mich die Fabelei gleich ums Eck mit einer wohnlichen Atmosphäre, die Pflanzen und florale Muster an den Wänden schaffen. Filip Bochenski, 33, will die Aperitif-Kultur ins Alkoholfreie übersetzen, und er serviert Drinks zu polnischen Spezialitäten, zum Beispiel gefüllten Teigtaschen. Auf der wechselnden Karte stehen Cocktails wie der „Clean to Punsch“, dessen Zutaten (weißer Tee mit Galgant, Kaffir-Limette, Sojamilch) mich neugierig machen. Für den herb-süßen Aperitif „Beltracchi“ mischt Bochenski Anteile von alkoholfreiem Martini und einem Kräuterextrakt mit Grapefruitessenz und Feigenblattsirup aus eigener Herstellung. Zehn Liter habe er von dem Sirup gekocht. Und wenn der verbraucht ist? „Nehme ich den Drink von der Karte und mache etwas Neues.“

Und nun, kurz vor Mitternacht, zum Finale meiner Tour, steht also Bochenskis neueste Kreation vor mir, gelb und mit einer hellen Blume aus Schaum, und will meine „sober curiosity“ wecken. Doch ich muss gestehen: Meine Neugier ist gestillt. Der Abend hat mehr Spaß gemacht, als ich dachte, weil in Berlin ein paar Barchefs mit viel Enthusiasmus „alkoholfrei“ neu definieren. Ich habe köstliche Mixturen probiert, aber auch einiges, das mich mit dominant fruchtigen, scharfen und sauren Noten ratlos zurückließ. Ich habe gelernt: Geschmack ist wichtig, jedoch nicht alles – so mein nüchternes Fazit. Für heute aber habe ich genug von Alkoholfreiem. Es ist spät, aber nicht zu spät – ich muss jetzt was trinken, das knallt. Auch wenn das furchtbar unvernünftig ist.

Foto: Christian Werner
Ausprobierer: Filip Bochenski und Anastasia Schöck von der Fabelei

Zum Nachmixen: drei Rezepte aus der Berliner Sober-Szene

CUCUMBER SMASH

  • 5 Scheiben Salatgurke

  • 100 ml naturtrüber Apfelsaft

  • 6 Blätter frisches Basilikum

  • 20 ml frischer Zitronensaft

  • 20 ml Mandelsirup

Zubereitung: Die Barkeeper der Fabelei zerstoßen Gurken und Basilikum im Shaker, fügen Zitronensaft, Apfelsaft und Sirup hinzu und füllen das Gefäß bis zur Hälfte mit Eis. Nach 20 Sekunden Schütteln bekommt der Mix eine cremige Konsistenz. Durch ein Barsieb ins Glas gießen und einen Schuss Soda dazugeben.

Fabelei  
Kyffhäuserstraße 21, 10781 Berlin

 

ON THE SEASIDE

  • 50 ml Undone NO. 8 (This is not Vermouth)
  • 20 ml Kokossirup
  • 30 ml Limettensaft
  • 30 ml Grapefruitlimonade

Zubereitung: Für die vereinfachte Version zum Selbstmixen mischt Willi Bittorf Wermut, Sirup und Limettensaft, gibt eine Prise Salz hinzu und seiht das Ganze zweimal über Eis ab. Dann gießt er es im Glas mit Limonade auf.

Bar am Steinplatz
Steinplatz 4, 10623 Berlin

 

BERLIN MULE*

  • 50 ml alkoholfreier Gin
  • 10 – 20 ml frisch gepresster Limettensaft
  • 80 – 100 ml alkoholfreies Ginger-Bier

Zubereitung: Isabella Steiner vom Null Prozent Späti füllt Gin und Limettensaft in ein Glas mit Eiswürfeln, gießt Ginger-Bier hinzu und garniert den Drink mit einer Limettenspalte.

* In dem Buch „Mindful Drinking“ (Knesebeck) von Isabella Steiner und Katja Kauf finden Sie weitere Rezepte.

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