Michael „Michi“ Wohlleben: Rekord-Bergsteiger in den Alpen

Neue Wege gehen und ein Pionier sein: Michael Wohlleben ist der kletternde Beweis, dass niemand in den Himalaya fliegen muss, um extreme Routen zu bewältigen. Die Alpen bieten schon genug Nervenkitzel

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Datum: 09.11.2023
Lesezeit: 8 Minuten
Michael Wohlleben klettert auf den Salbitschijen
© AlpsolutPictures
Angst? Hat Bergsteiger Michael Wohlleben durchaus – aber er sieht sie als wohlwollende Begleiterin. Auf dem Bild besteigt er den Salbitschijen in der Schweiz

Michael Wohlleben, 33, den die meisten in der Szene einfach „Michi“ nennen, stellt regelmäßig Rekorde im Bergsteigen auf und beschreitet gern als Erster neue Wege. Im Februar 2023 beispielsweise meisterte er eine „Wintertrilogie“, indem er mit seinem Freund Lukas Hinterberger über den Süd-, den West- und den Ostgrat auf den 2985 Meter hohen Salbitschijen (Schweiz) kletterte – innerhalb von 45 Stunden. Nie zuvor war jemandem diese dreifache Besteigung im Winter gelungen. 2017 überschritt er als Erster im Winter die insgesamt fünf Gipfel der berühmten Drei Zinnen in den italienischen Dolomiten.

Geboren ist Michael Wohlleben in Augsburg. 2015 ist er mit seiner Frau in die Schweiz gezogen, dort leben sie mit ihrem Sohn auf 600 Metern Höhe im Appenzeller Vorderland – für Wohlleben perfekt, um klettern zu gehen. Bei seinen Touren und zudem als Bergführer erlebt er unmittelbar, wie schnell sich die Alpen durch den Klimawandel verändern.

Im Interview erkärt er, warum für ihn Bergsteiger:innen umweltschonender unterwegs sind als die Kühe einer Almwirtschaft, weshalb er nicht mehr in den Himalaya fliegt und was das Besondere am Bergsteigen im Winter ist. Zudem gibt er am Ende Tipps für Winterausflüge in die Alpen.

© AlpsolutPictures; Jake Holland
Pioniere: Michael Wohlleben (links) ist zusammen mit seinem Partner Lukas Hinterberger im Winter auf den Salbitschijen geklettert – als Erste haben sie die Besteigung über drei verschiedene Grate geschafft und dafür 45 Stunden gebraucht

Was reizt Sie besonders am Bergsteigen im Winter?

Der Winter ist garstig – sozusagen abstoßend. Das macht das Bergsteigen spannend. Es ist risikoreicher, und man muss sich logistisch besser vorbereiten. Allein dadurch, dass man mehr Ausrüstung braucht. Im Sommer kann man im Notfall irgendwo biwakieren, im Winter hingegen wird das ziemlich kalt. Im Winter in die Berge zu gehen ist also komplizierter und gefährlicher. Aber der Reiz ist dadurch größer. Und es sind viel weniger Menschen unterwegs. Auf den schwierigen Routen, die ich mache, bin ich meistens mit meinem Partner Lukas Hinterberger allein. 

Wie suchen Sie sich aus, welche Wege Sie neu erschließen möchten? Haben Sie eine Liste, die Sie abarbeiten?

Ich habe immer ein nächstes Projekt im Kopf. Aber darüber entscheide ich intuitiv. Man muss wirklich überzeugt und dazu motiviert sein. Wenn ich mir selbst nicht sicher bin, mache ich es nicht. Am spannendsten finde ich schwierige Projekte, die noch keiner bewältigt hat, wie es auch bei der Salbitschijen-Wintertrilogie der Fall war.  

Die Salbitschijen-Wintertrilogie im Kino

In knapp 3000 Metern Höhe die drei Grate des Salbitschijen überqueren – und zwar als Erste im Winter: Das war das Ziel von Michael „Michi“ Wohlleben und seinem Partner Lukas Hinterberger. Nachdem sie 2022 daran gescheitert waren, haben sie es 2023 geschafft. Ihr Vorhaben wurde in einem Kurzfilm dokumentiert („Triple Edge“) und ist bis Sommer 2024 auf der European Outdoor Film Tour (EOFT) in Kinos zu sehen. Die EOFT ist das größte Outdoor-Filmfestival Europas. Seit 2001 zeigt sie jedes Jahr eine Auswahl verschiedener Filme rund um Abenteuer und Extremsport.

Warum ist es Ihnen so wichtig, der Erste zu sein?

Erstens um zu zeigen, dass ein Vorhaben überhaupt zu meistern ist. Es ist der Pioniergeist, der mich fasziniert. Reinhold Messner zum Beispiel hat ja als erster den Mount Everest ohne Sauerstoff bestiegen. Unsere Wintertrilogie ist natürlich nicht so relevant, aber sie geht, glaube ich, in dieselbe Richtung. Und zweitens möchte ich zeigen, dass es gute, schwierige, extreme Projekte in den Alpen gibt und nicht alle immer nach Patagonien fliegen müssen, wo sich die Leute auf den hohen Bergen stapeln.

Sie selbst waren ebenfalls schon in Patagonien klettern, genauso wie an vielen anderen Orten weltweit. Was ist an den Alpen im Vergleich dazu das Besondere?

Ich würde die Alpen nicht per se als reizvoller als Patagonien, den Himalaya oder die Anden in Peru bezeichnen. Aber die Alpen haben genauso schöne, interessante und schwierige Berge, die für uns jedoch erreichbar sind, ohne dass wir hinfliegen müssen. Das ist nachhaltig und hat außerdem den großen Vorteil, dass wir zeitlich nicht beschränkt sind. Wenn ich wegfliege und nur einen Monat Zeit habe, kann es ja sein, dass das Wetter schlecht ist und ich keine Chance habe, mein Ziel zu erreichen. In die Alpen gehe ich einfach dann, wenn die Bedingungen gerade gut sind. Zuletzt bin ich vor der Corona-Pandemie geflogen, seitdem trainiere ich nur noch hier. 

Das erste Mal überhaupt sind Sie mit sieben Jahren geklettert. Wie kam es dazu?

Ich war mit meinen Eltern oft in Südtirol wandern und habe dort an den Felsen Menschen klettern gesehen. Das hat mich fasziniert. Irgendwann durfte ich dann auch mal an eine Kletterwand und das hat mir total Spaß gemacht. Also habe ich meine Eltern überredet, dass ich regelmäßig in eine Klettergruppe darf.  

Wie hat sich das danach entwickelt – vom Hobby zum Profi?

Ich wurde schließlich Mitglied in einer Jugendgruppe und bin immer besser geworden. Ich habe früh schon hochalpine Viertausender geklettert, also schwierigere alpine Routen. Dadurch wurde ich in den Expeditionskader des Deutschen Alpenvereins aufgenommen. Das ist eine Auswahlmannschaft von sechs bis acht Jugendlichen, die zu den besten ihrer Altersklasse gehören. Wir hatten einen Trainer, bekamen Zugang zu Sponsoren und standen in der Öffentlichkeit. 

Ich möchte zeigen, dass es gute, schwierige, extreme Projekte in den Alpen gibt und nicht alle immer nach Patagonien fliegen müssen.

Michael Wohlleben

Gab es einen Zeitpunkt, an dem Sie sich entschieden haben, dass das Klettern Ihr Beruf ist?

Während der Schulzeit habe ich schon eine Ausbildung als Bergführer angefangen. Danach habe ich direkt als Bergführer-Aspirant gearbeitet und wurde auch von Sponsoren unterstützt. Ich habe günstig gelebt und hatte Zeit, um schwierige Projekte anzugehen. Dadurch bin ich an bessere Sponsoren gekommen. Heute bin ich außerdem aktiv in den sozialen Medien, die gab es damals noch nicht so. 

Wo ziehen Sie für sich die Grenze zwischen Influencer und Athlet?

Manchmal muss man in den sozialen Medien für den Algorithmus posten, denn nur, wenn man regelmäßig postet, wird man sichtbar. Trotzdem gehe ich auf keinen Fall ins Gebirge, um einfach nur ein schönes Bild zu machen. Wenn ich etwas teile, bin ich wirklich mit Gästen oder privat unterwegs. Das Problem ist, dass wir als Athleten vielleicht zwei große Projekte pro Jahr machen. Von einem Projekt müsste man also theoretisch ungefähr an jedem zweiten Tag einen Post machen. Früher wurde über ein Projekt in einer Zeitschrift oder im Fernsehen berichtet und danach hat man ein halbes Jahr nichts von sich hören lassen. Heute denken die Leute dann, dass du nicht mehr klettern würdest. Dabei trainiert man die ganze Zeit. Ich habe zum Glück gute Sponsoren, für die am Ende meine Leistung zählt. Wenn sie außerdem Influencer brauchen, haben sie andere als mich unter Vertrag. 

 

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Allein in den Alpen: Bei den schwierigen Touren im Winter sind Michael „Michi“ Wohlleben und sein Partner Lukas Hinterberger meist die einzigen Bergsteiger

Was war Ihre schwierigste Erstbegehung?

Eine Felswand, die ich 150 Meter hochgeklettert bin. Ich habe alle Haken selbst eingebohrt, das hat viel Energie gekostet und viel Durchhaltewillen gebraucht. Ich hing während zwei Jahren insgesamt 50 oder 60 Tage an dieser Wand. 

Denken Sie zwischendrin mal ans Aufgeben?

Ich wusste, dass ich die Route klettern kann. Es war nur eine Frage der Zeit. Aufgegeben habe ich noch nie, aber ab und an habe ich trotzdem Zweifel, ob ich es schaffe.  

Nur Zweifel oder auch Angst?

Die Angst ist ein ständiger Begleiter und ein gutes Warnsignal. Ich unterscheide zwischen „Oh, das find ich jetzt nicht so cool“ oder „Ich habe große Angst“. Wenn ich wirklich Angst habe, dass etwas passieren könnte, drehe ich um. Es kann sein, dass ich dann in einem Monat nochmal wiederkomme, wenn zum Beispiel die Lawinengefahr geringer ist. Oder ich wähle eine andere Route.  

Du siehst das Gebirge unter dem Klimawandel wirklich leiden.

Michael „Michi“ Wohlleben

Wie haben sich die Berge in den rund 25 Jahren, seit Sie zu klettern begonnen haben, verändert?

Sie verändern sich durch den Klimawandel brutal. Du siehst das Gebirge wirklich leiden. Es wird ja schon lange darüber gesprochen, dass die Gletscher kleiner werden. Aber es passiert noch so viel mehr. Die Steinschlaggefahr steigt zum Beispiel, insbesondere dort, wo es schmelzenden Permafrost gibt. Das macht das Bergsteigen gefährlicher. Schon jetzt werden Wege beispielsweise am Matterhorn oder Mont Blanc zeitweise geschlossen, wenn sich die Anzeichen für Steinschläge verdichten. Ich glaube, dass das in Zukunft mehr Berge betreffen wird. 

Worauf achten Sie beim Klettern, um die Natur zu schonen?

In besonders sensiblen Gebieten, in die zum Beispiel Vögel sich zurückziehen oder brüten, ist das Klettern verboten. Da darf man auch keine Erstbegehungen machen. Generell sind wir Bergsteiger, zugespitzt gesagt, naturfreundlicher als eine Kuhherde, weil wir auf den Wegen bleiben und keine Pflanzen rausreißen. Wir machen nichts kaputt. Wichtig ist zum Beispiel, dass man nicht nach Nepal, Südamerika oder was weiß ich wohin fliegt, sondern dorthin reist, wo man mit der Bahn oder dem Auto hinkommt. Und dass man dort auch länger bleibt, denn die Anreise stößt am meisten CO2 aus. Um den eigenen CO2-Fußabdruck zu verringern, kann man noch vieles weiteres tun, etwa sich vegetarisch oder vegan ernähren und generell weniger konsumieren. 

Machen Sie noch andere Outdoor-Sportarten?

Nur Gleitschirmfliegen.

Was gefällt Ihnen so sehr am Klettern, dass Sie sich darauf fokussieren?

Es ist die gleiche Leidenschaft, mit der ich auch als Kind angefangen habe. Wenn ich in den Klettergarten gehe, bin ich noch immer genauso neugierig und habe Spaß an der Bewegung. Alpinismus ist nicht dieselbe Freude an der Bewegung – hier ist es der Reiz am Unbekannten. Kann ich das bewältigen? Bin ich der Situation gewachsen? Gehe ich an meine körperliche und mentale Grenze? Es ist ein Spiel mit dem Risiko. 

Michael Wohllebens Tipps fürs Bergsteigen im Winter
Wer mit dem zertifizierten Bergführer in die Berge geht, braucht sich keine Sorgen zu machen: Wohlleben passt die Touren (Klettern und Wanderungen) an jedes Level individuell an. Anfragen für Touren kann man ihm auf Instagram senden. Allen, die auf eigene Faust oder begleitet in die Berge gehen möchten, empfiehlt er die folgenden Gebiete:

Appenzeller Land
Die Wohngegend von Michael Wohlleben ist auch sein Lieblingsort, um die Berge zu erkunden. Im Winter empfiehlt er Ski- und Schneeschuhtouren, die man jedoch wegen der Lawinengefahr nur geführt machen sollte, wenn man noch keine Erfahrung hat. Die Tour auf den Säntis mag er besonders gern. Auch im Sommer lohnt sich das Appenzeller Land, dann schätzt Wohlleben vor allem die Vielzahl der Bergseen.

Zugspitzgebiet
Dort war Wohlleben viel unterwegs, als er noch in Deutschland lebte, sagt er. Im Winter kann man hier Skitouren unternehmen und Schneeschuhwanderungen machen. Sein Tipp dafür ist der Jubiläumsgrat – der allerdings schwierig ist.

Eisklettern
Als Einsteiger:in kann man Eiskletterkurse machen und dabei lernen, wie man Eiswände hinaufkommt. In der Schweiz empfiehlt Wohlleben dafür das Averstal, in Österreich das Ötztal, beides bekannte Gebiete für das Eisklettern.

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