Vitamine satt mitten in der Stadt

Oft eilen wir achtlos an begrünten Streifen in der Stadt vorbei – dabei finden sich beinahe überall gesunde Wildkräuter, die unsere Ernährung bereichern können. DB MOBIL hat sich auf die Suche gemacht

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Datum: 27.10.2023
Lesezeit: 9 Minuten
Wandelndes Kräuterlexikon: Laureen, die Leiterin der Kräuterwanderung, ist unter anderem Gärtnerin und Phytotherapeutin und verfolgt akribisch die Wissenschaft rund um Heilkräuter

„Sucht mal genau hier eine essbare Pflanze“ – Laureen, die Leiterin unserer Kräuterwanderung, eine freundliche Frau mit Nasenpiercing und schwarzer Mütze, unter der gelbe Dreadlocks hervorlugen, wartet nicht lange, bis sie uns Teilnehmer:innen zum ersten Mal herausfordert. Was sollen wir schon finden, an unserem Treffpunkt, östlicher Rand Berlins, die S-Bahn-Station Neuenhagen im Rücken, vor uns ein paar Bäume und Gestrüpp, neben uns ein Wohngebiet. Vermutlich werden wir alle mit einem einsamen Löwenzahnblatt zurückkehren.

Das Kinn Richtung Brust geneigt, Blick zum Boden, auf Gräser und Unkraut, ändert sich meine Prognose schlagartig: Im Wildwuchs erkenne ich plötzlich, als halte jemand einen Lichtkegel darauf, allerlei Wildkräuter. Schafgarbe, Brennnessel, Spitzwegerich, um nur drei zu nennen.

Warum ich sie erkenne, weiß ich gar nicht so genau, vermutlich habe ich mein Wissen en passant, im Alltag aufgesaugt. Habe im Supermarkt Spitzwegerich-Hustensaft und Brennnesseltee entdeckt, etwas über Gartenanbau gelesen und bin plötzlich in die Welt der vermeintlichen Unkräuter abgetaucht. Heute soll es also darum gehen, dieses beiläufig erworbene Wissen auszubauen. Und ich werde, das kann ich vorab verraten, alles andere als enttäuscht.

Im Gänsemarsch: Die Teilnehmer:innen der Kräuterwanderung folgen Laureen (vorne) auf der Suche nach dem nächsten Wildkraut

Nach einer kurzen Suche hält eine andere Teilnehmerin, klein, weißer Pagenkopf, Turnbeutel auf dem Rücken, tatsächlich ein Blatt Löwenzahn in der Hand. Löwenzahn, doziert Laureen, die eine große Flasche selbst gebrühten Tee zwischen ihren Füßen platziert hat, hilft uns mit seinen Bitterstoffen, macht uns Appetit, fördert die Verdauung, steigert Blasen- und Nierenfunktion. „Und was kann man damit machen?“ fragt sie – Tee und Salat aus Blättern und Blüten, ist die einhellige Meinung.

Laureen, die hier nur mit Vornamen auftauchen möchte, hat noch ein paar weitere Ideen: Blütensirup kochen, die Knospen wie Kapern in Essig einlegen. Was uns alle überrascht: „Auch die Wurzel kann man essen“, einen Kaffeeersatz daraus mahlen, aber auch wie Gemüse kochen, „da ist viel Inulin drin“, ein Ballaststoff, der unseren Darm anregt.

Für viele ist Löwenzahn Unkraut, für uns ist er binnen Minuten zum Multifunktionskraut geworden. Was zählt außerdem zu den Wildkräutern? Wie erkenne ich sie? Und in welcher Weise kann ich sie verarbeiten? Wie eine Creme anrühren? Was tun sie Gutes für mich? Es gibt viele Fragen, die die heutige Gruppe zu dieser Kräuterwanderung zusammengebracht hat, sechs Frauen und ein Mann, die nun, eine:r hinter dem und der anderen, im Gänsemarsch durch einen Grünbereich stapfen, Rucksäcke und Turnbeutel wie kleine Panzer auf dem Rücken.

Schätze der Stadt: Brennnesseln, hier mit langen Samendolden, sind wahre Proteinwunder; Giersch (r.), ein spinatähnliches Kraut, lässt sich mit der Dreierregel sicher bestimmen.

Zwei der Frauen bekamen die Tour geschenkt, von der Freundin, von der Tochter. Was sich alle wünschen: den Blick zu schärfen für das, was die Natur der Stadt uns so anbietet. Und so halten wir alle paar Meter an, um etwas über das Stadtgrün zu lernen, an dem wir normalerweise achtlos vorbeihetzen, zur Arbeit, zu Freund:innen, nach Hause. Dabei finden wir gesunde Lebensmittel nicht bloß im Biomarkt oder im eigenen Garten. Sondern oft direkt vor unserer Tür.

Laureen ist unser Kompass an diesem Tag. Als gelernte Gärtnerin beschäftigte sie die Fülle der Unkräuter, die zwischen dem Gemüse sprossen. Sie wollte erfahren, ob sie in Wahrheit nicht zu gebrauchen sind. Also machte sie eine Ausbildung zur Phytotherapeutin oder Pflanzenheilkundlerin bei einer Pharmazeutin. Derzeit studiert sie außerdem Landschaftsnutzung und Naturschutz an der Universität Eberswalde. Bei „Waldsamkeit“, einer Gruppe von Biolog:innen und Kräuterexpert:innen, die Kräuterführungen und mehrtägige Workshops anbietet, ist eine wissenschaftliche Expertise zum Thema Kräuter Pflicht.

Wer Giersch im Garten hat, kann ihn nur akzeptieren – und ihn essen.

Laureen, Kräuterexpertin

Wir suchen und kaufen uns Natürlichkeit

Sie sprechen eine immer größer werdende Gruppe an Kräuterkenner:innen in spe an, auch Firmen buchen inzwischen Touren durchs Stadtgrün als Teambuilding: Natur kommt gut an. Womöglich wächst unser Interesse daran, ihre Vielfalt zu durchdringen, mit der wachsenden Gefährdung.

Vor allem Städter:innen flüchten sich zunehmend ins Grüne, sie fotografieren Naturmotive, trocknen selbstgepflückte Blumen, fermentieren Gemüse, suchen Pilze – und eben auch Kräuter. „Cottagecore“ wird dieses Feiern von Landhausromantik, Natur und Selbermachen oft genannt.

In den Regalen von Drogeriemärkten finden sich zahlreiche pflanzliche Heilmittel, Start-ups wie „kruut“ vertreiben Essenzen aus Wildkräutern, sogenannte Oxymels, die mit Honig und Essig angesetzt werden und besonders vitaminreich sein sollen. In einer industrialisierten Welt sehnen wir uns nach Grün und kaufen Natürlichkeit.

Dabei sind Wildkräuter meist noch schneller zu finden als das nächste Geschäft. Sie wachsen an Straßenrändern, auf Brachen und in Parks. Und besitzen allerlei Vorzüge: Sie wachsen ungespritzt heran, sind vitaminreich und haben nicht selten einen würzigen Geschmack, der Salate oder Tees bereichert. Zudem besitzen viele Kräuter tatsächlich eine wissenschaftlich bestätigte Heilwirkung. Der eingangs erwähnte Spitzwegerich etwa wirkt schleimlösend, und legen wir ein zerstoßenes Blatt auf einen Insektenstich, wird der Juckreiz gelindert.

All das erzählt uns Laureen, während wir nun über Asphalt schlendern. Einmal bleibt sie an einer gelbblühenden, mittelgroßen Pflanze stehen. Sie bricht einen Stiel ab, orange-gelblicher Saft rinnt daraus. Zwei der Teilnehmerinnen erkennen direkt: Das ist Schöllkraut.

Eine Pflanze, die lange Zeit als hochwirksames Heilmittel galt: In der chinesischen Medizin beispielsweise nutzte man das Kraut, um die Durchblutung zu fördern, der Saft soll zudem gegen Warzen helfen. Auch beliebte pflanzliche Magentropfen beinhalten Schöllkraut, da es krampflösend wirkt. „Nur hat man inzwischen festgestellt: Wer regelmäßig Schöllkraut zu sich nimmt, schädigt die Leber.“ Das Magenmittel werde inzwischen auch ohne Schöllkraut als Inhaltsstoff vertrieben.

Wissenschaft, das merkt man schon nach kurzer Zeit, ist Laureen sehr wichtig. Sie möchte in keine Esoterik-Ecke einsortiert werden. „Meine Devise: Wenn etwas seit mehr als 20 Jahren nachweislich als Heilkraut eingesetzt wird, hat es auch seine Berechtigung.“ Viele Arzneimittel fußen auch auf Erkenntnissen aus der Phytotherapie. Trotzdem kann sie Menschen verstehen, die misstrauisch sind: „Auf manchen Blogs werden wirklich abenteuerliche Heilversprechen angegeben“, erzählt sie, oft auch verbunden mit esoterischen Ritualen. Auch deshalb checkt sie regelmäßig die Studienlage zu den Heilkräutern, die sie vorstellt.

Auf die Details kommt es an: Immer wieder erklärt Laureen anhand winziger Merkmale, wie sich Wildkräuter sicher bestimmen lassen

Wichtig für kundige Kräutersammler:innen: viele Bestimmungsdetails kennen

Auf unserer Tour durchwandern wir einen kleinen Waldabschnitt, ein Wohngebiet, eine Kleingartensiedlung, eine größere freie Wiese. Immer wieder bleibt Laureen unvermittelt stehen; die Gruppe schaut sich dann aufmerksam um – welches Kraut wird sie nun vorstellen?

Diesmal geht es um Giersch, der als regelrechter Teppich über den Boden wächst, er bilde nämlich Rhizome unter der Erde, erklärt Laureen, bückt sich und pflückt eine Pflanze, die sie aufrecht zwischen den Fingern hält. „Wer ihn im Garten hat, kann das nur akzeptieren – und ihn essen“, sagt sie, ihn zum Beispiel wie Spinat kochen oder in den Salat schneiden. Viel Vitamin C und Eisen stecken in der Pflanze. Weil er als eine der ersten Grünpflanzen nach dem Winter sprießt, galt er volkskundlich als Mittel gegen Frühjahrsmüdigkeit.

„Wichtig bei der Bestimmung ist die Dreierregel“, sagt Laureen. Giersch hat einen dreikantigen Stiel, von dem drei Blätter abgehen. Diese Blätter wiederum sind dreifach unterteilt, sie fährt die Form mit den Fingern nach. Wie er riecht? Nach Petersilie und Möhre, auch, wenn man die Blätter zwischen den Fingern reibt. „Der Doppelgänger, ein Schierling, riecht eher nach Urin von Mäusen“, sagt die Kräuterexpertin, nur wüssten vielleicht viele den Geruch gar nicht mehr zuzuordnen. Auch deshalb versucht sie, so viele Bestimmungsdetails wie möglich zu vermitteln.

Süßsaure Schale, juckender Kern: Die Hagebutte ist reich an Vitamin C, ihre Kerne allerdings haben kleine Haken, die sich in den Härchen in unserem Nacken verfangen können und sich dabei wie Juckpulver anfühlen.

Wir stoppen bei einem Hagebuttenstrauch, orangerote Früchte, leicht klebriges Fruchtfleisch. Eine der Teilnehmerinnen tritt vor, teilt ihr Marmeladenrezept, einfach durch die Flotte Lotte durch, eine klassische Passiermühle. „Nur leider ist das Vitamin C in den Hagebutten nicht hitzestabil“, sagt Laureen. Also roh essen? Kann man.

Beim Reinbeißen zieht sich die Zunge zusammen, dann breitet sich eine zarte Süße im Mund aus. Laureen allerdings zeigt nur, sie probiert nicht. „Ich wasche alles, bevor ich es verarbeite“, sagt sie. Von Hundeurin bis zu Feinstaub: Stadtpflanzen müssen einiges an Schmutz ertragen. Dennoch reicht es meist, alles Gesammelte gut abzuspülen, erklärt sie.

Seltener Fuchsbandwurm: nur 25 gemeldete Erkrankungen pro Jahr

Und was sei mit dem Fuchsbandwurm, fragt der Mann der Runde? „Das ist für viele ein emotionales Thema“, sagt Laureen, schon als Kinder werden viele gewarnt, keine Beeren nah am Boden zu pflücken, um sich nicht mit dem gefährlichen Parasiten anzustecken. Dabei weiß man bis heute nicht genau, wie die Übertragung eigentlich stattfindet. „Inzwischen wird vermutet, dass eine Ansteckung erfolgt, wenn man die Stäube alten Fuchskots einatmet“, sagt die Kräuterkundlerin.

Ohnehin gebe es bloß um die 25 gemeldete Erkrankungen pro Jahr, meist unter Gärtner:innen oder Jäger:innen. Die Wahrheit ist nämlich auch: Füchse durchstreifen ebenso Felder von Gärtnereien und hinterlassen ihren Kot. Sicher abwenden kann man eine Ansteckung ausschließlich, wenn man alles Obst und Gemüse erhitzen würde.

Auch an einem kleinen Grünstreifen neben der Straße finden sich Wildkräuter (links), die Schoten der wilden Rauke sind schmal und länglich.

In drei Stunden Wanderung lernen wir außerdem, dass man mit Walnussschalen Kleidung färben kann, dass die roten Früchte des Weißdorns gut fürs Herz sind, der Wirkstoff aber am besten in der Apotheke besorgt werden sollte, wo eine strenge Überwachung und Dosierung gewährleistet ist. Wir erfahren, dass man schon zehn Meter entfernt von großen Straßen wenig belastete Wildkräuter sammeln kann und dass wir sie trotzdem nur in Maßen genießen sollten, weil die Pflanzen Giftstoffe aus belasteten Böden einlagern, egal, ob man sie stadtnah sammelt oder im Wald. Dass Brennnesselsamen über 30 Prozent Proteine besitzen und Waldmeister in größeren Mengen giftig ist. Dass Kräuter nicht zu warm (zum Beispiel im Backofen) getrocknet werden sollten, weil dann ätherische Öle oder andere Wirkstoffe verfliegen können. Dass Gundermann für Pferde giftig ist, die gelben Blüten des Topinamburs als Tee aufgegossen werden können und die Pflanze zu einer richtiggehenden Plage werden kann, weil sie oft wuchert.

Die Teilnehmer:innen teilen Rezepte für Schnäpse und Säfte und am Ende trägt jede:r nicht nur ein kleines Körbchen mit Kräutern davon, sondern auch viel Wissen und einen geübten Blick für das Grün im Alltag. Auf dem Rückweg zur S-Bahn bleiben eine junge Frau und ihre Mutter plötzlich stehen: Sie wollen sich jetzt schon verabschieden, wenn das okay sei, „wir haben da ein paar Stellen entdeckt, an denen wir gerne noch mehr sammeln wollen“.

Unsere Autorin bei der Geruchsprobe: Wiesensalbei (Blüte im Vordergrund) wächst auf trockenen, nährstoffhaltigen Böden und riecht sehr würzig, er schmeckt allerdings weniger intensiv als echter Salbei

Auf den Spuren der Kräuter

Das Team von „Waldsamkeit“ bietet Kräuterwanderungen und Pilzexkursionen mit naturwissenschaftlichem Hintergrund rund um Berlin und Hamburg an. Es gibt drei- und sechsstündige Kurse sowie Onlineworkshops als auch ganze Wildkräuterwochenenden, an denen Tees und Tinkturen hergestellt werden. Waldsamkeit bietet zudem mehrtägige Ausbildungen als Bildungsurlaub an.

Auch in anderen Städten finden sich Anbieter, die Kräuterwanderungen sowie Wochenend-Retreats anbieten. Drei Beispiele:

Nina Heine aus Hamburg ist Phytotherapeutin und veranstaltet Workshops zum Thema Kräutertee. Sie organisiert auch Kräuterwanderungen für private Gruppen mit Kindern.

Heger und Sammler“: Die Heilpflanzenkundlerin und Wildkräuterpädagogin in Ausbildung Isabel Fischer bietet Retreats und Wanderungen in Kiel und Lüneburg an.

Bei Heilpflanzenkundlerin Anne Schmidt-Luchmann kann man auch Dinnerabende rund um Wildkräuter in Berlin buchen.

Bei Wildschytz finden sich Anlaufstellen für Kräuterwanderungen in ganz Deutschland.

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