Alge gut, alles gut

Algen sind Alleskönner, manche schreiben ihnen sogar Weltrettungspotenzial zu. Wie die Meereslebewesen zu Baustoff werden und wo sie besonders gut schmecken

Von:
Lesezeit: 5 Minuten
mauritius images/Josh Westrich
Der Siebtang kommt vor allem im Eismeer vor und wird bis zu 90 x 50 Zentimeter groß. Er könnte zukünftig zu einem Medikament gegen Eierstockkrebs und Demenz verarbeitet werden

Wir reisen kurz in die Zukunft. Dort stehen wir auf und knipsen das Licht an, dessen Strom sich aus Algenelektronen speist, einem Beiprodukt der Fotosynthese. Zähne putzen wir mit Algenzahnpasta, die besonders gut Bakterien abtötet. Zum Frühstück gibt’s einen Smoothie mit Algenpulver. Der versorgt den Körper mit besonders vielen Proteinen (machen stark), Omega-3-Fettsäuren (wirken entzündungshemmend) und B-Vitaminen (gegen Müdigkeit, für die Nerven). Wer sich beim Zubereiten in die Hand schneidet, kann die Blutung mit einem Algenpflaster stoppen. Für die Fahrt zur Arbeit steht ein Roller aus Algencarbon bereit, der mit Algentreibstoff vorandüst. Wir passieren Litfaßsäulen, darin blubbern grüne Mikroalgen, die sich das CO₂ aus der Luft ziehen. Eine Säule kann so viel Kohlenstoffdioxid binden wie 112 Bäume. Die entstandene Algenmasse wird in die Kläranlage geleitet und produziert Biogas. Das wiederum fließt in Ihr Haus fürs Heizen. Eine Kollegin erzählt, sie habe ihre bakterielle Infektion mit einem neuen Algenmedikament behandelt, ein Antibiotikum war nicht nötig. Darauf eine Portion Meeresspaghetti und ein Bier mit Kombu. Willkommen in der Algenutopie.
Für viele von uns sind Algen eher ein Grund zum Ärgern: Als giftige Blaualge vermiest sie uns das Baden im See und kann Meereszonen den Sauerstoff nehmen, sodass kein Leben mehr möglich ist. Als schleimig grüne Fadenalge verpestet sie den Fischteich. Wissenschaftler:innen aber setzen große Hoffnung in sie. „Die kleinen Organismen sind Multitalente“, sagt der Biochemiker Thomas Brück, der an der TU München zu Algen forscht: Sie wachsen bis zu zehnmal schneller als andere Pflanzen und können durch Fotosynthese Biomasse herstellen – und die wiederum kann für allerlei verwendet werden: zur Stromgewinnung genauso wie für Nahrungsergänzungsmittel. Weltweit forschen Menschen deshalb an der umfäng­lichen Nutzung der Pflanze, bisweilen wird sie schon Weltretter getauft.

Algen in Cremes und Haferdrink

Es gibt schätzungsweise eine halbe Million Algenarten, doch nur ein Bruchteil von ihnen wird genutzt, in Europa sind es kaum mehr als ein Dutzend. Man unterscheidet zwischen Mikro- und Makroalgen. Im Alltag begegnen uns eher Letztere. Aus dem Wasser gezogen, können sie aussehen wie zu lange gekochter Spinat. Matschig, glitschig, unappetitlich. Wirft man einen Blick unter die Wasseroberfläche, treten sie als mächtige Tänzerinnen im Meeresrauschen auf, gleiten als eng verwobene, schwerelose Teppiche dahin, sind reißfest und robust gegenüber Krankheiten, kommen mit Stürmen, Hitze, Kälte klar.

mauritius images/Josh Westrich
Der Meersalat wächst in Gezeitentümpel und wird bis zu einen Meter groß. Er enthält viel Vitamin C, Jod sowie Proteine und kann roh gegessen werden oder als Pulver

Andere Länder wie Japan und Frankreich haben Algen schon seit langer Zeit in ihren Speiseplan integriert, wir nehmen sie allenfalls bewusst als dunkelgrüne Sushi-Ummantelung war. TU-Professor Brück sagt aber: „Algen sind längst auf dem Nahrungsmittelmarkt angekommen.“ Als Proteinquelle, aber auch als Lieferantinnen von Mineralien und B-Vitaminen. Und tatsächlich: Schon jetzt nehmen wir häufiger Algen zu uns, als wir denken. Als Kalziumzugabe in Haferdrinks, als blaue Farbe in Gummibärchen oder Bindemittel Carragen in Eis oder Pudding. Ein Discounter vertreibt Thunfisch-Sandwiches auf Algenbasis. Gesundheitsbewusste kaufen Spirulina- oder Chlorella-Kapseln aus giftgrünem Mikroalgenmehl: Diese sollen besonders nährstoffreich sein. Auch die Kosmetik und die Medizin setzen immer stärker auf die Wirkstoffe der Algen.
Den Wissenschaftlerinnen Anna Fricke und Monika Schreiner reicht das nicht. „Wir stellen uns vor, dass Menschen künftig Algen in ihrer Küche kultivieren oder in der Industriebrache nebenan, damit die Lieferwege möglichst kurz sind“, sagt Schreiner. Als öffentlich geförderte Initiative Food4Future arbeiten sie in einem Gewächshauskomplex in Brandenburg daran, Algen, aber auch salztolerante Pflanzen, Grillen und Quallen zu Nahrungsmitteln der Zukunft zu machen. Derzeit laborieren sie vor allem mit Meersalat.

Ein Kilo Algen schluckt zwei Kilo CO₂

Der gedeiht, wie alle Algen, mit Wasser, Sonne, CO₂ und ein paar wenigen Nährstoffen und braucht auch kein Trinkwasser, sondern bloß eine Salzlösung, um zu wachsen. Also doch Algenutopie? „Wir wollen keine Nahrungsmittel durch Algen ersetzen, sondern vielmehr die tägliche Ernährung erweitern“, sagt Fricke. Sie forscht zudem mit einem internationalen Team daran, wie Makroalgen großflächig angebaut und verbreitet werden können – und auch welche Nachteile das mit sich bringen könnte.

mauritius images/Josh Westrich
Der Kraussterntang wächst an den felsigen Küsten der britischen Inseln. In Irland wird er als Hustentee aufgegossen, sein Carragen steckt in Kosmetika und Nahrungsmitteln wie Pudding

Einen wichtigen Vorteil kennen wir schon: Algen verbessern unsere Luft erheblich. Sie produzieren gut 50 Prozent des Sauerstoffs, den wir atmen. Zudem binden sie bis zu ein Drittel des Kohlenstoffdioxids, das wir produzieren, und sorgen dafür, dass es sicher zum Meeresboden sinkt. Wenn Algen absterben oder gefressen und wieder ausgeschieden werden, sinken sie auf den Meeresboden und ziehen das CO₂ für die nächsten Tausende von Jahren mit in die Tiefe. Ein Kilogramm Algen kann die doppelte Menge Kohlenstoff schlucken.

Baustein zur Lösung der Klimakrise

Je mehr Sonne, desto mehr Algen wachsen und produzieren Biomasse. Und die nutzen Forschende inzwischen auch für ihre Zwecke: Aus dem eigentlichen Abfallprodukt lässt sich Biosprit herstellen oder Glycerin, das in Seifen steckt. Nach einem weiteren Arbeitsschritt auch Carbonfasern, die zu Baustoffen werden können, ähnlich Stahl oder Beton. An Letzterem forscht auch Brück mit. Anlagen zur Algenproduktion könnte man in der Wüste bauen, wo oft die Sonne scheint und keine landwirtschaftliche Fläche genutzt wird.
Doch es wird noch mehrere Jahre dauern, bis die Herstellungsprozesse für Baustoffe und auch Strom so optimiert sind, dass sie sich finanziell rechnen. Wir seien, sagt Brück, mit vielem wie immer zu langsam. Kann die Alge uns trotzdem retten? „Die Alge kann ein Baustein sein, gegen die Klimakrise zu wirken, sie ist aber nicht die alleinige Lösung“, sagt er. Ein bisschen Algenutopie im Alltag kann aber ein guter Anfang sein.

Lecker Algen!
Sechs Orte, an denen Sie Algen schmecken, auf der Haut fühlen oder studieren können

  1. Der vormalige Sternekoch Jörg Wissmann serviert im Jae in Düsseldorf Gourmetküche mit asiatischen Einflüssen. Unter anderem stehen geröstete Nori-Algen und Kombu-Eis auf der Karte. Fußläufig vom Hauptbahnhof erreichbar. Frühzeitige Reservierung empfohlen.
  2. Auch die meisten Sushi-Restaurants, viele davon verkehrsgünstig an großen Bahnhöfen gelegen, bieten Algen an. Die dunkle Ummantelung des japanischen Nationalgerichts besteht aus Nori-Algen, als Beilage wird meist saftig grüner Wakame-Salat gereicht.
  3. In verschiedenen Wellnesshotels, zum Beispiel im Hotel Heinz im Westerwald oder im Hotel Neptun in Warnemünde kann man eine Algentherapie buchen. Zunächst badet man in einem Meerwasser-Bad mit Algenzusätzen, anschließend folgt eine Algenpackung mit Schwitzkur, die den Stoffwechsel anregen soll und Wirkstoffe der Algen in die Haut transportiert. In beiden Häusern lassen sich auch Tagespässe fürs Spa buchen.
  4. Der Chlorella-Hersteller Algomed bietet an seinem Firmenstandort in Klötze in Sachsen-Anhalt Führungen inklusive Verkostungen an. 
  5. Auf der kleinen dänischen Insel Endelave südlich von Aarhus können Sie einen ganzen Algentag verbringen. Vom Restaurant über die Bäckerei und den Hofladen bis zur Algensafari kann man im dortigen Wissens- und Infozentrum Tanggården Algen schmecken, sammeln und über sie lernen. Per Zug und Bus ca. 5 Stunden Reisezeit ab Hamburg Hauptbahnhof.
  6. Wer sich zu Hause durch verschiedenste Algensorten und -gerichte kosten mag, findet bei algenladen.de eine große Auswahl

Schreiben Sie uns!

Der Artikel hat Ihnen gefallen, Sie haben eine Frage an die Autorin/den Autor, Kritik oder eine Idee, worüber wir einmal berichten sollten? Wir freuen uns über Ihre Nachricht.