Freie Bahn!

Unser Autor hat eine Leidenschaft: Schwimmen. So oft wie möglich. Und am liebsten in verwunschenen Seen, wo man höchstens auf Hechte oder Nixen trifft. Über das Glück, für eine Stunde schwere- und sorglos zu sein

Von:
Lesezeit: 5 Minuten
Thilo Mischke
Stephan Pramme für DB MOBIL
Karibik in Brandenburg? Unser Autor teilt bereitwillig seine Tipps – nur den Namen dieses Sees will er nicht verraten

Und dann ist die Welt verschwunden. Noch vor zehn Minuten waren da Arbeit, Verpflichtungen, die Zukunft. Dieses allgegenwärtige Klirren und Klappern, das Rauschen unserer Wirklichkeit. Einfach weg. Ich schwebe in eisigem Wasser, allein in einem See. Es ist Frühling, eine dünne Schicht Nebel bildet den Übergang zwischen Luft und Wasser. Und ich treibe zwischen diesen Welten – Kopf im Dunst, Körper unter der Wasseroberfläche.
Die Badekappe schneidet in die Haut, mein Körper erwärmt die dünne Schicht Wasser in meinem Neoprenanzug. So bewahrt er mich vor dem Auskühlen (auch an warmen Tagen wie dem, als wir die Bilder auf diesen Seiten machten). Neige ich den Kopf, sehe ich die Pappeln, die vollgesogen und satt am Ufer stehen, das Schilf, das sich ungehobelt ausbreitet. Weiter hinten schwimmt Hansi, der Schwan. Oder eines seiner Kinder. Wir kennen uns. Wir haben uns schon miteinander angelegt.


Ich ziehe die Arme abwechselnd am Kopf vorbei – dreimal, dann Luft holen. Kämpfe mit der Angst, die ich nur in einem See habe. Ich denke an die Welse, die faul im Grundschlamm liegen und meinen Fuß vielleicht für eine Ente halten. An Hechte, die sich in meine Beine verbeißen könnten. An Nixen, die ja böse sind und mich mit ihren feingliedrigen Händen auf den Grund reißen wollen. Nixen und andere Kreaturen der Tiefe – ich vermute sie hier, im Grienericksee bei Rheinsberg.

Stephan Pramme für DB MOBIL
Allein mit den Seerosen: Autor Thilo Mischke im Grienericksee bei Rheinsberg

Ich denke das wirklich, wenn ich schwimme. Und ich bin ein glücklicher Mensch, wenn ich mit regelmäßigen Armzügen durchs Wasser gleite.
Seit einigen Jahren bin ich Schwimmer. Im Sommer im See, im Winter in der Halle. Dreimal die Woche schalte ich die Welt für 45 Minuten aus. Ich empfinde großes Glück, dass ich diese Möglichkeit gefunden habe, und spüre dieses Glück jedes Mal in den ersten zehn Minuten. Klar, ich habe manchmal keine Lust, würde lieber mit Freunden abhängen. Aber ich bekämpfe den inneren Schweinehund, der gerade im Fall des Schwimmens besonders groß und gemein zu sein scheint. Ist auch kein Wunder, Schwimmen ist nichts für Eilige. Der Weg zum Wasser, das Umziehen, das Bibbern, dann der Sport selbst und danach: wieder anziehen, Haare trocknen, vor der Halle oder am See frieren.
Es ist aber eine besondere Sportart, und ich muss nicht erklären, dass sie sehr gesund ist. Gesünder als Joggen oder CrossFit oder alles, was man im Fitnessstudio tut. Schwimmen schont im Gegensatz zu anderen Ertüchtigungen die Gelenke, trainiert jeden Muskel zur gleichen Zeit, ist gut für Herz und Körperkraft. Eine halbe Stunde Schwimmen verbrennt so viel Kalorien wie eine Stunde Fahrradfahren. 
Anfangs war mir wichtig: Wie schnell kann ich stark und dünner werden? Aber irgendwann schwamm ich nicht mehr für meinen Körper, sondern nur noch für meine Seele.

Ich kraule und finde in dem Nichts in meinem Kopf die Ruhe, die ich im Getriebe des Tages oft vergebens suche

Einschwimmen

Ich bin früh am Morgen am Grienericksee angelangt. Im Norden Brandenburgs ist der Boden sandig, die Menschen erscheinen mir grundsätzlich schlecht gelaunt. Der See ist einsam und kalt. Ich stehe auf einem Steg und kämpfe mit der Neoprenpelle. Die Eleganz, die ein Schwimmer ausstrahlen kann, geht ihm beim Anziehen des Anzugs gänzlich ab. Er wirkt dabei ungelenk wie ein Fisch an Land. 
Dann der Sprung ins Wasser. Das Herz schlägt wild, die Augen flackern, hinein mit einem Schrei. Als würde das gebrüllte „Huu!“ irgendetwas daran ändern, dass das Wasser eisig ist. Dann die ersten Züge. Eckig und erschrocken bewege ich mich durch das Wasser, ich gewöhne mich erst nicht an die Kälte. 


Keine Boote, keine anderen Menschen, ich sehe im Augenwinkel Schloss Rheinsberg, es strahlt weiß und rokoko-verspielt vom Ufer. Morgens, wenn der See noch so still daliegt, schwimmt es sich besonders schön. Ruhig. Ich höre in mich hinein, zähle die Atemzüge, strecke mich mit jeder Bewegung, weil ich Strecke machen will. Mein Körper beruhigt sich. Dann kommen die Gedanken: Breche ich vorzeitig ab? Reichen heute vielleicht 20 Minuten? Weiter. Meine Arme ziehen mich, ich will Gedanken loswerden wie: Ist eigentlich egal, ob ich heute schwimme, ich war doch gestern schon. Schnauze, Gehirn!, denke ich. Fünf Minuten sind vergangen, sagt mir meine Uhr, es fühlt sich an wie eine Ewigkeit. Ich muss durchhalten. Laut meines Telefons, auf dem ich all meine sportlichen Aktivitäten speichere, war ich im vergangenen Jahr 100-mal schwimmen. 100-mal kamen mir diese Gedanken ans Aufgeben. Und ich habe sie immer überwunden. 
Nach weiteren fünf Minuten, ich schwimme in Richtung der Sandbank, erreiche ich die Algen. Ich kenne sie schon, sie sind fest und kratzig wie die Striche auf dem Grund einer Schwimmhalle. Die Algen sagen mir: Ich bin ungefähr 500 Meter geschwommen, das Einschwimmen ist vorbei, jetzt beginnt das Freischwimmen. 


Schwimmen im See unterscheidet sich grundsätzlich von dem in der Halle. Es gibt weder militante Schnellschwimmer:innen noch übermütige Rentner:innen, keine Haarbüschel oder abgelösten Pflaster, die umhertreiben. Aber auch keine Aufsicht. Wer im Freien schwimmt, braucht eine Begleitung. Ich habe für den dramatischen Effekt am Anfang verschwiegen: Während ich im See die Freiheit, den Schweinehund und das Glück spüre, begleitet mich meine Freundin im Ruderboot. 
Im Freien zu schwimmen ist nicht ungefährlich. 2020 sind laut DLRG in Deutschland 378 Menschen ertrunken. Es kann alle treffen: ein Krampf, ein wild schlagendes Herz, Panik. Und immer wieder werden Schwimmer:innen auch von Kapitän:innen, Segler:innen oder betrunkenen Floßfahrer:innen übersehen. Deswegen gilt es, nicht nur eine Begleitung zu haben, sondern auch warnfarbene Badekappen zu tragen. Wer noch sicherer gehen will: Im Handel gibt es kleine aufblasbare Bojen, die man sichtbar hinter sich herzieht. 

Stephan Pramme für DB MOBIL
Leuchtboje: Ja, die Kappe ist hässlich – aber sie macht den Schwimmer für Segler sichtbar

Freischwimmen     

Zweieinhalb Kilometer in 45 Minuten – das ist mein Ziel, aber nach zehn Minuten spielt es keine Rolle mehr. Mein Geist hat sich beruhigt, Arme und Beine arbeiten verlässlich. Ich kraule und finde in dem Nichts in meinem Kopf die Ruhe, die ich im Getriebe des Tages sonst oft vergebens suche. Corona, Klimawandel, die Arbeit, die alt werdenden Eltern, das eigene Altern – all das lasse ich hinter mir.
Ich habe eine sehr moderne Schwimmbrille. Ein kleiner Computer zeigt mir auf dem Brillenglas an, wie schnell mein Herz schlägt, wie viele Züge ich schon gemacht habe, und wie weit ich schon geschwommen bin. Aber diese Werte sind jetzt ebenfalls egal. Ich muss nur vorankommen. Keine Schwäne, keine Welse – nur noch die richtige Atmung ist wichtig, also dreimal den Arm ins Wasser, dann Luft holen. Mir ist auch nicht mehr kalt. Wenn das Freischwimmen beginnt, bin ich der freieste Mensch, der ich sein kann. Weil sonst nichts mehr zählt. Ich muss nichts erledigen, es gibt keine Anrufe, es ist nichts zu schaffen außer eineinhalb Kilometern Reststrecke. Nur selten werde ich aus dieser Meditation gerissen – zum Beispiel, wenn mir meine Brille anzeigt, wie schnell ich auf 100 Meter schwimme. Ich werde darin stetig besser, gleite immer geschmeidiger durchs Wasser. Manchmal denke ich: wie der Bug eines Katamarans.


Gelegentlich begleitet mich nicht meine Freundin, sondern ihre Schwester, die als Leistungssportlerin mit Franzi van Almsick geschwommen ist. „Schön!“, ruft sie dann. Oder: „Deine Lage ist schlecht!“ Aber ich will ja nichts gewinnen, keine Rekorde aufstellen, nicht der Beste sein. Ich will meine Ruhe. Im Wasser finde ich sie. 
Freischwimmen kann man auch professionell betreiben, logisch. Doch Distanzen von zum Beispiel 25 Kilometern machen mir Angst. Würde ich das schaffen wollen, meine Meditation verkäme zum Zwang. Wettbewerbe will ich nicht. Wenn überhaupt: nur mit mir. Ich müsste sonst ungesunde Mengen Nudeln essen, viel mehr Sport treiben, als ich Zeit dafür habe. Ja, ich würde zu einem dieser sehnigen, tiefgebräunten Triathleten, die man manchmal auf Landstraßen oder in Freibädern trifft. Nein, deswegen gehe ich nicht ins Wasser.

Mischkes Badestellen

Grienericksee
Der Haus-See des brandenburgischen Rheinsberg ist knapp dreieinhalb Kilometer lang, gut 800 Meter breit – und weil er nur eine Fahrrinne für Schiffe hat, auch gut beschwimmbar. Vom Wasser aus kann man das Schloss Rheinsberg betrachten und manchmal Fischer bei ihrer Arbeit beobachten. 

Röddelinsee
Dieser See bei Templin in der Uckermark ist ideal zum Schwimmen, denn er wird kaum befahren. Tipp eins: Im Herrenhaus Röddelin kann man herrschaftlich übernachten und hat direkten Zugang zum See. Tipp zwei, für Nichtschwimmer:innen: Am gegenüberliegenden Ufer liegt die Westernshow-Stadt El Dorado.

Schwimm- und Sprunghalle, Berlin 
Perfekte Alternative zum Seeschwimmen. Das Bad im Stadtteil Prenzlauer Berg ist das größte Schwimmbad ­Europas, das Wasser ist nicht gechlort, sondern wird ozongereinigt. Und es gibt natürlich Pommes!


Andere Schwimmer treffe ich nur unter der Dusche, wenn ich in der Halle bin. Ich nicke ihnen zu, sie nicken zurück, manchmal unterhält man sich. „Sie sind gut im Kraulen!“, rief mal ein älterer Herr zu mir herüber. „War ich früher auch.“ Er erzählte mir, dass er seit mehr als 40 Jahren zweimal in der Woche schwimme. „Es ist immer noch der Anker in meinem Leben“, sagte er. „Aber sind Sie erst mal so alt wie ich, dann werden Sie auch langsam.“ 
Meine Welt ist die Schwimmhalle geworden. Wenn ich beruflich im Ausland bin, was oft der Fall ist, fahnde ich nach Seen und Schwimmbädern. Ich schwimme in Flüssen in Thailand, in Teichen in Island, suchte in Bagdad einen Pool (den ich in einem Hochsicherheitshotel fand). Da wird der Weg zum Wasser zum Abenteuer. In Tokio zog ich 2019 im Olympiastützpunkt meine Bahnen. Lernte die kauzigen Regeln japanischer Schwimmhallen kennen: kein Zutritt ohne Badekappe, keine Sportuhren, keine Pflaster. Dort habe ich mich auch verliebt – in Chlorgeruch und in den zittrigen Hunger, der nach 40 Bahnen einsetzt. 


Im Wasser, ob in Berlin oder Tokio, sind wir alle gleich. In unseren hässlichen Badehosen, zu engen Badekappen. Mit Bäuchen, die sich als Schürzchen über den Bund legen, und Falten am Po. Aber egal, die richtige Technik lässt uns dahingleiten und macht Äußerliches vergessen. Ich fühle mich wohl unter diesen Menschen, weil wir alle wissen, wie heilsam die Stille unter der Wasseroberfläche ist. Und wenn ich die älteren Herren sehe, mit ihren Bäuchen, grauem Brusthaar, dürren Beinen, dann ist das auch ein Blick in meine eigene Zukunft. Und ich kann ganz ohne Sorge sein: Schwimmen scheint immer zu gehen.

Stephan Pramme für DB MOBIL
Viel Schilf, kaum Schiffe: Viele Brandenburger Seen sind Schwimmer:innenparadiese¬

Ausschwimmen


Nach 40 Minuten stellt sich immer der gleiche Gedanke ein: Ich könnte noch weiter schwimmen. Läufer nennen diesen Zustand „Runner’s High“, ich nenne ihn: Zufriedenheit. Ich achte nicht mehr darauf, was mein Körper macht, alles verläuft automatisiert. 
Wie das Atmen. 
Ich sehe den Steg, noch 500 Meter, und wie bei einem Rausch, der ja auch einen Anfang und ein Ende hat, spüre ich, wie die meditative Wirkung nachlässt. Ich komme wieder in der Wirklichkeit an. Heute noch in die Kaufhalle?, denke ich, als der Steg noch 50 Meter entfernt ist. Als ich den weichen Boden unter meinen Füßen spüre, durch das Schilf zum Steg wate, bin ich wieder ganz in der Gegenwart angekommen. Ich polke mich aus dem Anzug, ziehe mich an, friere gleich mal und möchte eigentlich sofort ins Wasser zurück. 
Morgen wieder, sage ich zu mir und gucke auf mein Telefon. 
2600 Meter, knapp 50 Minuten, das 183. Training. 
183-mal Ruhe. Und ich weiß, ich habe noch nicht genug.

Stephan Pramme für DB MOBIL
Nach Training Nummer 183: Das Gesicht drückt eher Anstrengung als Entspannung aus. Doch das täusche, sagt der Schwimmer

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