Die Zukunft der Auster

Seit mehr als 30 Jahren werden auf Sylt Austern gezüchtet. Ein echtes Naturprodukt, schwärmt Meeresbauer und Betriebschef Christoffer Bohlig. Aber auch nachhaltig? Knifflige Frage. Und Bohlig hat darauf eine Antwort

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Meeresbauer Christoffer Bohlig bei der Arbeit: 150 Säcke à 150 bis 200 Austern schleppt er an einem Tag von den Gestellen auf den Traktor

Ab in den Matsch. Ein später Herbsttag im Sylter Wattenmeer, die Blidselbucht, zwischen List und Kampen. Ein-, zwei-, sechshundert Meter weit muss man schon durch den Schlick waten, bis man zu tischhohen Metallgestellen gelangt, die vom Wasser umspült werden. Die Stiefel sinken tief, es schmatzt und spritzt. Die Auster – eine feine, elitäre Sache? Hier draußen mitnichten. Hier ist Wetter. Angewachsene Algen wehen wie Wimpelketten im Wind. Auf den Gestellen liegen Netzsäcke aus Plastik, sogenannte Poches, gefüllt mit 150 bis 200 Austern, 15 Kilo je Sack. Da liegt sie also – die berühmte Sylter Royal. Ein Produkt, das vermutlich zur Insel passt wie kaum ein anderes.

Gezeichnet vom Leben im Watt: die Auster. Mit 80 Gramm Gewicht ist sie reif für den Verkauf

Christoffer Bohlig, Fischermütze, wattverschmierte Funktionsjacke, die Locken im Nacken zum Zopf gebunden, wuchtet Sack um Sack auf ein Palettengerüst. Später wird es von einem Trecker aufgenommen und auf einen Anhänger geladen, werden es 150 Säcke am Ende des kurzen Watteinsatzes sein, ehe das Wasser zurückkehrt. Die Gezeiten geben den Arbeitsablauf vor, maximal vier Stunden können Bohlig und seine Kollegen im Watt arbeiten. Gut zwei Tonnen Sylter Royal, die sie binnen einer Stunde hin- und hertragen. Im Betrieb, Dittmeyers Austern-Compagnie, müssen die Austern dann gewaschen und ausgelesen werden, erst ab einem Gewicht von 70, besser 80 Gramm kommen sie für den Verkauf infrage. Die übrigen werden wieder in Säcke gepackt und bei der nächsten Tour zurück ins Wattenmeer gelegt. Im Winter muss die Compagnie zudem alle Austern aus dem Meer holen und in Becken in den Werkshallen lagern, wo sie, versorgt von einer Meerwasser-Pipeline, bis März ruhen. Das Wattenmeer kann zu Teilen einfrieren, und die hin- und herkrachenden Eisschollen würden die Austern zerstören.

Was Bohlig an der Auster mag?
„Sie ist das reinste Naturprodukt“, sagt er. Tatsächlich ernährt sie sich, auch in der Zucht, wirklich nur von dem, was das Meer durch ihre Schale spült, Algen und Plankton vor allem. 240 Liter Wasser filtert sie so täglich. „Sie hat tolle Nährwerte, viel Zink, gutes Eiweiß.“ Bis zum Verkauf geht jede Auster ungefähr 40-mal durch Bohligs Hände, erzählt er beinahe stolz, und dann guckt man auf diese Hände – aus einem der behandschuhten Finger tropft Blut, Handschuh gerissen. Bloß ein kleiner Schnitt, kein Problem. Es gibt da etwas ganz anderes, das Bohlig und sein Team beschäftigt. Seit über 30 Jahren gehört die Sylter Royal zur Insel und die Insel zur Auster. Gut 800 000 der besonderen Muscheln vertreibt der Betrieb jährlich, an Gastronom:innen, Kaufhäuser und Privatleute, und bietet sie im eigenen Restaurant an. Eine Symbiose, ein match made in heaven, oder besser: im Meerwasser. Nur wie es mit diesem Match weitergeht, das ist ungewiss. 

Mit dem Boot geht es raus, die wilden Austern zu sammeln

Der Austern-Compagnie geht es nicht anders als vielen Traditionsbetrieben im Land. Seit Jahrzehnten betreiben sie ihr Geschäft, doch nun tauchen immer häufiger Fragen auf. Ist das Produkt regional? Schadet es Mensch und Umwelt? Müssen Tiere leiden? Wie viele Ressourcen, wie viel Land, Energie und Dünger gehen bei der Erzeugung drauf? Bohlig und die Compagnie können bei vielen Fragen einen Haken setzen: Die Auster braucht nicht allzu viel Platz, zumal im Watt, sie benötigt kein zusätzliches Futter, keine aufwendige Kühlung, die Wege sind kurz. Den Naturschützer:innen war die Zucht aber schon immer ein Gram. Die Sylter Royal ist in Wahrheit eine Pazifische Felsenauster, keine heimische Art, und gehört demnach für sie nicht in die Nordsee. Zudem zählt sie zu den sogenannten invasiven Arten, ist sehr vermehrungsfreudig, robust und hat sich auch außerhalb der Säcke in der Nordsee angesiedelt. Ob sie aus den Niederlanden hergespült wurde, wo sie schon seit den 1960ern gezüchtet wird, oder der Austern-Compagnie entwich, weiß man nicht. Bohlig erklärt, die neu entstandenen Austernbänke hätten Miesmuscheln, aber auch Seepferdchen und Seenadeln einen Lebensraum geschenkt. Biolog:innen bleiben aber skeptisch.

Bohlig ist, das merkt man schnell, kein Freund des Profits, eher einer der Natur. Er nennt sich selbst Meeresbauer, wohnt eigentlich in Flensburg und geht auch in seiner Freizeit fischen, so sehr liebt er das Wasser. Kürzlich kaufte er ein Grundstück in Schweden, mit einer kleinen Holzhütte drauf, schlafen könne man darin auch als Familie, mehr brauche er nicht, sagt er. Aus einer blauen Regentonne hat der Biotechniker und Fischwirtschaftsmeister den Austern eine Reinigungsanlage gebaut. Am liebsten ist er draußen im Watt – diese Ruhe. Doch ist er nicht nur für die Muscheln zuständig, sondern auch für die Zahlen: Seit 2008 leitet er die Compagnie, und irgendwie muss sich ja alles rechnen.

Herr der Auster: Christoffer Bohlig vor den Wasserbecken, in denen die Austern im Winter ruhen

Bis zum Verkauf geht die Auster 40-mal durch meine Hände

Christoffer Bohlig, Betriebsleiter der Austern-Compagnie

Die Austern, die er im Watt wachsen lässt, kommen einjährig und mit 30 Gramm Gewicht aus sogenannten Nurserys in Irland. Die irischen Kinderaustern, Halbwuchs genannt, wandern dann in die Austernsäcke im Wattenmeer, um erst dort handelsfertig zu reifen. Ende Mai dieses Jahres läuft aber die Genehmigung, Austern in den Naturschutzpark Wattenmeer zu importieren, aus. Jede fremde Art, die neu in das Ökosystem Meer eintritt, kann potenziell Krankheiten oder neue invasive Arten einschleppen, die das Zusammenspiel im Meer verändern, im schlimmsten Fall sogar zu Teilen zerstören. Deshalb drängen das Umweltministerium und die Verwaltung des Nationalparks Wattenmeer auf eine Umstellung.

Bohlig und Compagnie reagierten, indem sie eine Aufzuchtstation für Miniaustern im Lister Hafen aufbauen ließen. Dort werden stecknadelgroße Muschelbabys aus den Niederlanden in einer Anlage namens FLUPSY (Floating Upweller System) großgezogen, bis sie mit einem Jahr in ihre Zuchtsäcke im Meer dürfen. Dazu will man noch mehr wilde Austern von den Bänken im Watt ernten, schon jetzt machen sie 20 Prozent der Verkäufe aus. Mitarbeiter pflücken sie per Hand. Aber weil die wilden Austern kräftig zusammengewachsen sind und erst voneinander getrennt werden müssen, weil dabei also sehr viel zusätzliche Arbeit anfällt, sind Aufwand und Ertrag ein ganz anderer als bei der Zucht. 
 

Roman Pawlowski
Gratiniert, geräuchert, mit Champagnerkraut: Im Restaurant der Compagnie kann man Austern in verschiedensten Zubereitungsformen genießen

Im Restaurant der Compagnie, viel Licht, Massivholz und Messing, serviert man die Auster in allen erdenklichen Formen: natur, in einer Bloody Mary, geräuchert und mit Pernodbutter oder Parmesan gratiniert. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Die Austern-Compagnie findet zu allem Überfluss nur schwerlich neue Mitarbeiter:innen für das freundliche Restaurant, erst recht nicht für die körperlich schwere Arbeit des Austernerntens. Auf Sylt zu arbeiten, muss man wirklich mögen mit den tristen Wintern und vollen Sommern. Vor allem aber finden sich für die Mitarbeitenden, die das wollen, kaum Wohnungen. Einige leben direkt über dem Restaurant, doch der Platz reicht nicht für alle. Zuletzt wurde ihnen eine Unterbringung angeboten, zwei Zimmer, 55 Quadratmeter, 2000 Euro warm. Zugleich funktioniert ohne das Restaurant die Zucht nicht: Mit dem Erlös von 1,50 Euro pro Auster allein, darüber redet man ganz offen, schriebe die Compagnie keine schwarzen Zahlen.

Wie es weitergehen kann, wenn der Weg der Sylter Royal nicht mehr in Irland beginnt, darüber ist man sich uneinig. Der Gründer der Austern-Compagnie, Clemens Dittmeyer, möchte die Abverkaufsmengen ähnlich hoch halten wie zuvor oder sogar steigern, ohne die importierten Halbwuchs-Austern aus Irland ist das allerdings kaum möglich. Seine Tochter Pauline, seit einiger Zeit zuständig fürs Marketing, träumt davon, die Nachhaltigkeit der Auster zu betonen und mit der Sylter Royal in besonderen, ressourcenaufmerksamen Restaurants in ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz vertreten zu sein. Derzeit arbeitet sie an Merchandise-Produkten, es sollen Saucen, Gewürze und anderes folgen.

Bernadette Pogoda, Biologin des Alfred-Wegener-Instituts und Leiterin einer Renaturierung der europäischen, der ursprünglichen Auster, wünscht sich, dass die Sylter Austern wirklich nachhaltig angebaut werden. „Man könnte zur Laichzeit die Austern an sogenannten Kollektoren sammeln. Die sind mit Kalk bestrichen, damit sich die kleinen Austern auch direkt lösen lassen“ – dann wären es tatsächlich Sylter Austern, keine irischen Sylter Royal, auch keine niederländischen.

Austernfischer Bohlig wiederum wendet ein, das lohne sich erst ab einer Zahl von 20 Millionen Setzlingen, und so viele könne man gar nicht absetzen. Bohlig würde für die Zukunft am liebsten nur noch mit der halben Menge an Austern planen. Für das eigene Restaurant, wo jährlich rund 200 000 Austern gegessen werden, würde es so immer noch reichen, für den Rest der Insel, nach derzeitigen Zahlen, auch. Es wäre auf jeden Fall eine Ansage: Austern, von der Insel, für die Insel. Eine Rückbesinnung, das Versprechen eines exklusiven, regionalen Produkts. Etwas, das die Reise nach Sylt noch ein bisschen besonderer macht. Nachhaltiger eben.

Dünenromantik: Sylt ist auch im Winter eine Reise wert

Tipps: 5 Restaurants, in denen nicht nur die Austern schmecken

Ode an die See 
Das Restaurant „Køkken“ im Benen-Diken-Hof in Keitum bietet feine Drei- und Vier-Gänge-Menüs mit allem, was die Nordsee so hergibt.

Glanzvolle Sterneküche
Zugegeben, ein Besuch im „Söl’ringhof“ ist eine Investition. Aber, das sei Ihnen versprochen, eine lohnende: Von marinierten Austern über Sorbets aus Dünenkräutern bis hin zu anderen Köstlichkeiten bietet das Sternerestaurant von Philipp Berner ein Geschmackserlebnis, das einem lange im Kopf und auf der Zunge bleibt.

Bude mit Brise
Der Besuch einer Bretterbude am Strand gehört zum Sylt-Aufenthalt irgendwie dazu. Im „Samoa Seepferdchen“ gibt es einen bunten Mix aus Bowls, Burrata, Fisch und Würstchen, zumeist regional.

Wiege der Auster
Nirgendwo anders ist die Zubereitung der Auster derart vielfältig wie im hauseigenen Restaurant der Austern-Compagnie. Geräuchert, in einer Bloody Mary serviert, gratiniert – es können alle erdenklichen Zubereitungen verköstigt werden.

Sylt trifft Südafrika
Im „Odin Deli“ in Kampen baden Sylter Muscheln in Cape Malay Sauce, wird Husumer Weiderind genauso wie Bobotie serviert, der traditionelle Hackfleischauflauf aus Südafrika. Eine kulinarische Reise vom Kliff zum Kap.

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