Dänen schmeckt es! Eine Schlemmerreise an die Nordsee

Lange galt Dänemarks Küche als vernachlässigenswert. Doch mit dem Aufstieg des „Noma“ zum besten Restaurant der Welt explodierte landesweit die Gastroszene. Eine kulinarische Reise durch Westjütland, wo findige Köch:innen eine neue Nordseeküche schaffen

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Datum: 15.06.2023
Lesezeit: 10 Minuten
Typisches kleines Reetgedecktes Haus. Teller werden angerichtet
Flagge zeigen: Dänemarks Gastroszene hat den Pølser-Hotdog hinter sich gelassen

Anders Søgaard, 54, führt uns in seine Schatzkammer. Ein hoher, heißer, schwarzer Raum, in dem ein duftender Nebel hängt. Stählerne Wände glänzen feucht, an ihnen klebt das Fett von einem halben Jahrhundert Familienbetrieb.

Søgaard räuchert Fisch. „Lachs, Dorsch, Heilbutt“, sagt er, kurz, knapp, schroff und eben sehr dänisch, während er mit dem Zeigefinger in den offenen Ofen deutet. Orangefarbene Fischfilets baumeln dort im Qualm. Zu Søgaards Füßen, die in alten Sneakern stecken, glimmt ein kleines Feuer: „Nur Buchenholz. Nichts anderes!“ Stolz schwingt in seiner Stimme.

In der Räucherei in Hvide Sande hängt der Fisch über Buchenrauch
Kutterfrisch: Gut gekühlt kommt der Nordseefisch in den Verkauf

Schnell an die frische Luft. Durchatmen hinter der Räucherei „Hvide Sande Røgeri“, benannt nach dem sie umgebenden Hafenstädtchen an Dänemarks Westküste. Vorne, im dazugehörigen Ladenlokal, schreiten hungrige Kund:innen die Flaniermeile alias Fischtheke ab. Unzählige Sorten Rohfisch, scharf marinierte Garnelen, kutterfrisch gepulte Krabben. Und natürlich Räucherfisch in allen Formen und Geschmacksnoten.

Hier hinten, im schmucklosen Werkhof, baumelt gerade „Dabs“ im Nordwestwind: getrocknete Klieschen, eine kleine Plattfischart, die vor allem in der südlichen Nordsee heimisch ist. Eine Katze streicht um die Metallgestänge. Sie wirkt etwas mürrisch. „Katzen und Möwen gehen da nicht ran“, erklärt Anders, „wegen dem Salz.“ Wir probieren. Der Dabs kaut sich zäh, schmeckt trocken, fischig, aber auch frisch. Und eben salzig. Ein dänischer Powersnack.

Gar kein typisches Nordseewetter: ruhiges Meer vor den einsamen Dünen

Der Frühling wird zum Sommer – und alles ist „hygge“

Wir sind unterwegs in Westjütland, an der rauen Nordseeküste, rund 175 Kilometer nördlich der deutschen Grenze. Die Gegend ist die wohl wichtigste Urlaubsregion des Landes. Endlose Sandstrände liegen hinter einer unberührten Dünenlandschaft. Steile Kliffe dienen als Freilufttheater für atemberaubende Sonnenuntergänge, der bereits erwähnte Wind bläst in die Segel der Kitesurfer:innen. Und in malerischen Hafenorten lockt an jeder Ecke eine Fischbude. Die Stimmung ist penetrant entspannt, so dass auch dieser Text nicht ohne das Wort „hygge“ auskommt: Gemeint ist jene dänische Gelassenheit, die es als Interieur-Trend in Form von Motto-Tassen und Tagesdecken bis in die Altbauwohnungen gestresster Großstadtdeutscher geschafft hat.

Wir verabschieden uns von Anders. Seine Mutter, 91, will gleich mal nach dem Rechten schauen, da muss er vorab auch schnell noch nach dem Rechten schauen. So ist und so bleibt das in einem Familienbetrieb.

Fettiger Fisch mit farblosen Kartoffeln? Die Zeiten sind lange vorbei!

Henriette Winther, 54, Gastroexpertin

Dafür ist nun Henriette Winther, 54, Gastroexpertin, zu uns gestoßen. Ihre stilvolle Erscheinung – beige Blazer, blonde Haare, feine Cartier-Uhr – deutet schon an, dass sie auf einer Mission ist: „Mein Ziel ist es, aus Westjütland eine Food-Destination zu machen“, sagt sie selbstbewusst. Um dann direkt hinterherzuschieben: „Aber die Reise dorthin wird noch Jahre dauern.“

Dänemark war jahrzehntelang ein Urlaubsland, das für Strand, Meer und Beschaulichkeit, nicht aber für gutes Essen geliebt wurde. Deutsche Besucher:innen kauften zu Hause ein – und kochten im angemieteten Ferienhaus selbst. Dänische Küche, das hieß rote Würstchen in pappigen Hotdog-Brötchen, die legendären Pølser-Stände lockten auf jedem Parkplatz. In den Restaurants wurde die Scholle in Butter ertränkt, dazu gab es erstaunlich geschmacklose Kartoffeln. „Diese Zeiten sind lange vorbei“, sagt Henriette, Erleichterung im Tonfall.

Das schwedische Militär inspirierte die Rezepte

Kurz nach der Jahrtausendwende, so sagt sie, habe eine kulinarische Revolution das Land erfasst. 2003 öffnete in der Hauptstadt Kopenhagen das Restaurant „Noma“ seine Pforten. Die beiden Köche René Redzepi und Claus Meyer Nielsen ließen sich dort von einem Überlebenshandbuch der schwedischen Armee inspirieren, in dem es darum ging, Pflanzen und Kräuter der nordischen Wildnis zu verarbeiten. In den Folgejahren wurde das „Noma“ nicht nur dreifach besternt und fünfmal zum besten Restaurant der Welt gewählt. Der Gourmettempel sendete Schockwellen der Inspiration in jeden Winkel Dänemarks. Heute dürfen sich landesweit 32 Restaurants mit Michelin-Sternen schmücken.

Das Ergebnis hier, so Winther, sei eine neue Art von „Nordseeküche“. Ihre Zutaten? Kräuter, Beeren und Pilze. Lammfleisch, Frischfisch, Rohmilchkäse. Alles aus der Region, brutal lokal. Um die Entwicklung voranzutreiben, knüpfte Winther ein Netzwerk von rund 50 Restaurants und lokalen Produzent:innen.

Das Ergebnis: statt Pølser nun Messermuscheltartar mit Oktopus-Tinte. Dänischer Weißwein, meist pilzwiderstandsfähige Reben wie Solaris und Muscat, statt importiertem Riesling. „Und bereits 18 Prozent der Bauern vor Ort haben auf ökologische Landwirtschaft umgesattelt“, so Winther. Jetzt müssen das nur noch die Deutschen in ihren Ferienhäusern mitbekommen.

Pia Jessen in den Dünen. Ihre Lämmer fühlen sich hier zu Hause

Wir fahren durch sandige Dünenberge nahe dem Dörfchen Nymindegab. Unser Ziel ist es, eine der Produzentinnen zu treffen. Auch wenn dieser Begriff schief anmutet, wenn man Pia Jessen, 64, schließlich gegenübersteht. Mit Hut, Wollweste, offenem Lachen und wachen Augen wirkt sie immer noch wie ein Hippie-Mädchen. Jessen ist Vorsitzende des „Nymindegab Græsningslaug“, des hiesigen Weidevereins. 30 heimische Familien haben sich darin zusammengeschlossen. Gemeinsam lassen sie ihre Schafe die Dünen von Nymindegab abgrasen – Naturschutz und Fleischproduktion in einem.

Jessen öffnet das Gatter an einem steilen Dünenhang, sofort laufen Schafe und Lämmer auf die zierliche Frau zu. „Ein neuer Tag, ein neues Leben“, sagt Jessen. Mit einer Heckenschere schneidet sie einem Muttertier die Stacheln der Hagebuttenrose aus dem auffällig dunklen Fell. „Das ist eine alte Rasse aus Norwegen“, erklärt sie. „Diese Schafe sind genau wie die Menschen hier: halten viel aus und sind sehr still.“ Und in der Tat, selbst die erst ein paar Tage alten Lämmer blöken nur vereinzelt durch die Postkartenidylle.

In der Zwei-Sterne-Küche des „Henne Kirkeby Kro“ von Paul Cunningham

Eine Lammschulter zum Dahinschmelzen

Das Fleisch der Lämmer ist sehr begehrt. Kopenhagen ist eine globale Feinschmecker-Metropole geworden, Gourmets aus der ganzen Welt strömen ins „Geranium“, ins „Alchemist“ – und immer noch ins „Noma“. Viele der Sterneküchen beziehen ihr Lamm aus Westjütland.

In die Hauptstadt fahren müssen wir nicht, um das saftige Spitzenprodukt zu probieren. Im „Henne Kirkeby Kro“ serviert Chefkoch Paul Cunningham, 53, uns eine Lammschulter zum Dahinschmelzen. Zwei Sterne hat der gebürtige Brite in dem hyggeligen Reetdachhaus aus dem 18. Jahrhundert erkocht, seit er hier 2012 das Regiment übernahm. Vorher residierte er mit seinem „The Paul“ im Kopenhagener Freizeitpark Tivoli. Bill Clinton, Paris Hilton, die dänische Königin sowie die Altrocker von Metallica waren dort seine Gäste. Ein Vier-Gänge-Lunch im „Henne Kirkeby“ kostet heute umgerechnet 100 Euro – und an diesem Freitagmittag ist jeder Tisch besetzt. Die kulinarische Transformation Westjütlands, sie scheint auf einem guten Weg.

Unsere kulinarische Reise endet in der „Lowlands Denmark“-Destille, nahe dem Örtchen Stauning. Anders Juhl Hansen, 56, hat sich hier einen Lebenstraum erfüllt. „Früher war ich in der Werbebranche“, erzählt der Mann mit dem Stoppelbart, während er für seine Gäste einen Willkommenstrunk mischt. „Auf Reisen nach Italien habe ich mich in Drinks wie den Negroni verliebt.“ Der klassische Aperitivo besteht zu gleichen Teilen aus Gin, Campari und Wermut.

Vor fünf Jahren begann Hansen dann selbst zu brennen, ein Autodidakt voller Leidenschaft. Inspiration fand er auch in der Nachbarschaft: „Stauning Whisky“, Dänemarks wohl bekannteste Schnapsbrennerei, liegt nur einen Korkenwurf entfernt. Die Highend-Produkte begeistern Fans auf der ganzen Welt, erst kürzlich gewann ihr Roggen-Whisky aus alten Ahornsirup-Fässern einen wichtigen Branchenpreis.

Wie in einem Labor: Brenner Anders Juhl Hansen probiert sich gern aus

Hansen lernte schnell dazu, der Hobbybrenner musste aber auch Rückschläge hinnehmen. Er deutet auf ein Regal voller großbauchiger Glasbehälter mit handbeschriebenen Etiketten. „Das ist mein Ideenfriedhof“, sagt er und lacht. Was war ihre schlimmste Kreation, Herr Hansen? „Der Krabbenschnaps. Eindeutig.“ Er verzieht das Gesicht. Sein Bestseller heute ist der Gin. Nuancen von Ingwer, Orangenschale und Süßholz lassen sich herausschmecken, ein formidabler Absacker – wenn man ihn denn pur trinken mag.

Zum Abschied ein Blick auf den Ringkøbing-Fjord. Über dem größten Küstensee Dänemarks, 30 Kilometer lang, 12 Kilometer breit, rasen die Wolken dahin. Der Wind pustet aus Nordwest, die Luft duftet nach Salz, Wiesen und Meer. Kein Wunder, dass diese wilde Natur solche Aromen in sich birgt. Dänemarks Nordseeküche, sie hat überzeugt. Aber keine Sorge: Es bleibt weiterhin okay, auch mal ein „Røde Pølser“, ein rotes Würstchen im Brötchen, zu vertilgen.

Bildergalerie: Westjütland, Dänemarks Geschmackskammer

Wein, Käse, Fisch und mehr:
Gastro-Tipps in Dänemarks wildem Westen

„Lille K“ – Lässiges Familienrestaurant mit sehr guten Fischgerichten. Mit tollem Blick auf den Hafen von Hvide Sande mit seinen Kuttern.
 
„Henne Kirkeby Kro“ – Fine Dining von und mit Sternekoch Paul Cunningham. Umgeben von einem 4000 Quadratmeter großen Gemüsegarten im Örtchen Henne.
 
„Stauning Whisky“ – Berühmte Destille, idyllisch gelegen. Tastings und Führungen durch die minimalistische Brennerei im namensgebenden Dorf Stauning.
 
„Strandhotel Blåvand“ – Direkt am Strand von Blåvand. Schöne Zimmer, stilvolle Bungalows. Gutes Hausrestaurant „Høfde 4“ mit exzellenter Weinkarte.
 
„Enghavegård Osteri“ – Würziger Käse und saftiger Schinken, direkt aus dem Hofladen. Mit Blick auf die malerische Ho-Bucht beim Dörfchen Billum.
 
„Fjordgård Vin og Vadehav“ – „Wein und Wattenmeer“: Unter diesem Motto bauen Ib und Hanne Skaerlund preisgekrönte Tropfen an. Verkauf und Verkostung auf ihrem Anwesen bei Billum.

Anreise

Sie erreichen die genannten Orte am besten, indem Sie mit der Bahn bis Esbjerg fahren. Von dort verkehren regionale Buslinien.

Üblicherweise nehmen Reisende ab Hamburg den IC Richtung Kopenhagen und steigen in Kolding um. Es lohnt sich, Zugreisen nach Dänemark frühzeitig zu buchen, um von günstigen Angeboten (Sparpreis Europa, Super Sparpreis Europa) zu profitieren.

Auch möglich: Mit dem Deutschland-Ticket via Niebüll bis über die Grenze zum Bahnhof Tønder fahren. Von dort verkehrt eine dänische Regionalbahn bis Esbjerg.

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