Ins Innere der Alb

Sanfte Hügel, üppige Wälder, so präsentiert sich die Schwäbische Alb – bis man ins Erdinnere vorstößt. Dort öffnen sich Welten aus Lehm und Gestein. Forschende entdecken noch immer Neues in den Höhlen. Eine unterirdische Expedition

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Emanuel Herm für DB MOBIL
Portal zur Falkensteiner Höhle: Im Neoprenanzug gehen Tourenleiterin Constanze Krauß (r.) und unsere Autorin (l.) ins Höhleninnere

Als wir ins Innere der Schwäbischen Alb hinabsteigen, schmatzt es. Das Geräusch entsteht, wenn die Gummistiefelsohle am nassen Lehm klebt. Wohin ich auch schaue, alles ist bräunlich-orange. Alles ist Lehm. Manchmal liegen Gesteinsbrocken herum, manchmal tropft es von der Decke, und mitunter glitzert die Wand, als hingen Kristalle an ihr. Doch es ist etwas viel weniger Spektakuläres. Etwas, das man daheim im Waschbecken wegschrubben würde: Kalk. Kalk, der sich in Millionen Jahren abgelagert und durch den Lehm verfärbt hat.

Lena Straub, 20 Jahre alt, marschiert vor mir durch die Höhlengänge. Ihr roter Schlatz (so heißt der Ganzkörperschutzanzug unter Höhlenforscher:innen) steckt in gelben Stiefeln, als Schutz vor dem Lehm hat sie ein Tuch um ihr Haar gebunden, eine Helmlampe beleuchtet ihren Weg. Während ich mich vortaste, wirkt Straub, als wäre sie auf einem Sonntagsspaziergang im Park. Schaut nach links und rechts, strahlt mit ihrem Lichtkegel Wände und Decken an und weist mich auf Formationen hin. Tropfsteine zum Beispiel, die sie Speläotheme nennt. Wie steife Fäden hängen sie vor der Wand.

Für Straub gleicht es tatsächlich einem Spaziergang, für mich, die zum ersten Mal einen Schlatz angezogen hat, ist es eine Abenteuerexkursion. 30 Tage war sie jung, als ihre Mutter sie erstmals in eine Höhle trug. Beide Eltern sind Freizeit-Höhlenforscher:innen. Etwa 200 Höhlen hat Straub seither auf eigenen Beinen erkundet. Die meisten davon auf der Schwäbischen Alb, in deren Nähe sie aufgewachsen ist.

Emanuel Herm
Routiniert klettert Lena Straub (20) hinab. Sie hat schon etwa 200 Höhlen erkundet

Die Region in Baden-Württemberg gilt mit mehr als 2000 Höhlen als eine der höhlenreichsten Deutschlands. Der Grund dafür: Sie war einmal ein Meer, vor Millionen Jahren – und aus diesen Zeiten hat sich poröses Kalkgestein abgelagert. Wenn es regnet, löst sich der Kalk auf. Zudem ist Regen leicht sauer und dadurch ätzend. So hat das Wasser, zusammen mit Erdverschiebungen, unterirdische, verzweigte Wege gegraben. Und immer wenn neues Wasser durch Decke und Wände tropft und Kalk löst, klammert der sich als Tropfstein oder in Kristallform fest.

Manchmal tropft es von der Decke, und manchmal glitzert die Wand, als wäre sie aus Edelstein.

Der Großteil der Höhlen auf der Alb bleibt für die meisten Menschen verborgen. Aber es gibt Ausnahmen: Zwölf von ihnen können Tourist:innen als ausgebaute Schauhöhlen auf Führungen besichtigen, vier davon liegen im Biosphärengebiet Schwäbische Alb. Andere darf man ausschließlich mit Genehmigung betreten, aus Naturschutz- und Sicherheitsgründen. So wie die im Norden der Alb, durch die Straub mich führt.

Wir werden von Dieter Domke und Hermann Sauter begleitet, zwei Rentnern und Gründungsmitgliedern eines örtlichen Höhlenvereins. In Höhlen geht man stets im Team. Denn falls sich jemand verletzt, ist Hilfe weit weg. Auf mich als Laiin achten sie besonders, damit ich nicht aus Versehen von einer Leiter falle, mir an einem Lehmbrocken den Fuß verstauche oder am Ende unbeabsichtigt die Speläotheme zerstöre.

Emanuel Herm
Kristalle? Nein: Formationen aus Kalk und Lehm!

Die Lehmkristalle zum Beispiel möchte ich am liebsten berühren, ihr Glitzern mit den Fingerkuppen spüren. Aber das darf ich nicht. Das würde der Oberfläche schaden, sie könnten abbrechen, sagt Straub. Deshalb hocken wir davor und schauen nur. Immer wieder entdecke ich neue Kerben, neue Spitzen, neues Funkeln. So wunderschön also kann es unter dem Boden aussehen, auf dem wir unser Leben verbringen.

Wichtigste Frage unter Tage: Wie der Höhle möglichst wenig schaden und sie trotzdem erkunden?

Irgendwann – jegliches Zeitgefühl verschwindet unter der Erde – „schlufen“ wir zurück. Schlufen, erklärt mir Straub, heißt: Wir kriechen durch eine Art Tunnel. Zuerst rutschen wir über Lehm hinab, quetschen uns auf allen vieren um eine Kurve und kraxeln wieder hinauf. Dass man dreckig wird, gehört dazu. „Wenn der Schlatz durch den getrockneten Lehm hinterher nicht von selbst steht, war es keine richtige Tour“, meint Straub. Ein bisschen stickig ist es, und das Atmen fällt schwer, doch darüber denke ich besser nicht nach. Tatsächlich ist der CO₂-Gehalt hier unten hoch, der Sauerstoffgehalt hingegen niedrig. Daher bewegen wir uns langsamer als über der Erde.

Höhlenforschung ist ein Balanceakt. Während wir die Gänge erkunden, zertrampeln wir Lehm. Am Wegesrand hat der Verein Absperrband befestigt. „Man kann an wenigen Händen abzählen, wie viele Menschen hier waren“, sagt Straub. „Man muss abwägen: Wie kann ich der Höhle möglichst wenig schaden, sie so erhalten, wie sie gefunden wurde, und sie trotzdem erforschen?“

Die Touren sind für Straub ein Hobby, das sie trotzdem nicht nur zum Vergnügen macht, sondern vor allem um zur Forschung beizutragen. Sie sagt: „Ich möchte Höhlen verstehen.“ Im oberirdischen Leben studiert sie Politik und Jura. Im unterirdischen fragt sie sich, warum es in der einen Höhle eine solche Formation gibt, in der anderen eine ganz andere. Auf der Suche nach Antworten vermisst sie die Höhlen. Mit einer Art Laser nimmt sie Entfernungen auf und zeichnet Pläne. Manchmal ändert sie die wieder. Irgendwo könnte sich immer ein unentdeckter Gang verstecken. Als Höhlenforscherin brauche man Geduld, sagt sie.

Aus einem blauen Sack holt Straub eine Plastiktüte mit Druckverschluss. Darin befinden sich eine Pinzette, Pipette, Plastiktuben und Alkohol. Wenn sie Tiere findet, konserviert sie die und bestimmt ihre Art. Spinnen krabbeln oft durch Höhlen, manchmal auch Krebse. Heute sieht sie bis auf Mücken aber keine Tiere.

Von der Gesellschaft fühle Straub sich oft falsch verstanden. Dadurch, dass Medien meistens über negative Szenarien wie Rettungsaktionen berichten, glaubten viele, dass Höhlenforschung ein riskanter Extremsport sei, sagt sie. „Doch das ist nicht die Realität. Es geht darum, geologische, biologische und archäologische Kenntnisse zu erwerben.“

Einmal setzen wir uns hin, jede:r auf einen Lehmbrocken, und drehen die Lampen aus. Niemand sagt etwas. Ich traue mich nicht einmal, einen Arm zu heben, da das Rascheln die Stille stören würde. Es ist stockfinster. Straub wird später sagen, dass sie nirgendwo
so eine Ruhe wie in Höhlen spürt.

Emanuel Herm
Oberirdisch lädt die Schwäbische Alb mit ihren Wäldern und Wiesen zum Wandern ein

Über dem Boden ist die Schwäbische Alb nicht lehmbraun, sondern sattgrün: Wiesen, Wälder, Streuobst. Aufgrund der reichen Natur hat die UNESCO einen Teil der Alb als Biosphärenreservat ausgezeichnet: 29 Städte und Gemeinden testen, wie das Zusammenspiel von Mensch und Natur gelingen kann.

Mitten im Biosphärengebiet liegt die Falkensteiner Höhle, die die Einheimischen „Falki“ nennen. Sie ist die einzige „wasseraktive“ Höhle Deutschlands, die man als Tourist:in besichtigen kann: Je nach Wetter verändert sich der Wasserstand – kennt man sich nicht aus, könnte das Wasser einen einschließen. „Betreten für Jedermann verboten“, warnt ein Schild am Parkplatz.

Nur mit Guides wie Constanze Krauß darf man sie erkunden. Conny möchte sie genannt werden. Mit einem ehemaligen Postwagen, den sie dunkelgrün lackiert hat, fährt sie vor. Die 51-Jährige arbeitete früher als Musiktherapeutin und entschied sich eines Tages, Noten gegen Natur zu tauschen, Menschen mit Outdoorerlebnissen glücklich zu machen – und ihnen nebenbei Höhlenwissen zu vermitteln.

Nur wer ihre Schönheit mit eigenen Augen sieht, begreift, welche Naturschätze Höhlen beherbergen.

Im Inneren des Postwagens hängt ein Fundus an Neoprenanzügen. Das Wasser hat nur zehn Grad Celsius. Was in der anderen Höhle der klebrige Lehm, ist hier die Kälte: Um die Schönheit unter der Erde zu sehen, muss man sich anstrengen. „Allzu verfroren darf man nicht sein“, sagt Conny mit einem Lächeln.

Emanuel Herm
In der Falkensteiner Höhle watet unsere Autorin hinter Tourenleiterin Constanze Krauß durchs Wasser

Um zur „Falki“ zu gelangen, stapfen wir durch einen Wald und einen Hang hinauf. Das Portal der Höhle verliert sich im Schatten. Wasser plätschert, aber zu erkennen ist nichts als mystische Dunkelheit. Als wir die Lampen anknipsen, strahlt das Wasser hellgrün. Knöchelhoch fließt es über Steine. Strömungswellen werfen Schatten, die fröhlich an der Felswand tanzen. Nach wenigen Schritten schlufen wir. Auch wenn das Portal riesig ist, wird die Decke schnell so tief, dass wir uns nur in der Hocke fortbewegen können.

Vom früheren Meer zeugen noch Fossilien. Muscheln und Tintenfische etwa, die starr im Felsen kleben. Conny zeigt darauf, an einer Stelle, an der wir wieder aufrecht stehen. Außerdem erkennt man Wellen, die sich als Furchen in die Steine gegraben haben. Aus der Decke ragen weiß glänzende Tropfsteine. In hundert Jahren wüchsen sie gerade mal einen Zentimeter, sagt Conny. Sie sind, genauso wie die „Kristalle“ in der anderen Höhle, äußerst fragil. Ansonsten erscheint die „Falki“ sauber und felsig, manche Wände von weißem Kalk überzogen, als hätte man einen Farbeimer über sie gekippt. Anstatt durch Lehm zu kriechen, ragt uns teilweise das Wasser bis zum Hals. Dort, wo wir am Ende umkehren, würde man nur durch Tauchen weiterkommen. Sollten wir Menschen hier überhaupt sein? Das frage ich mich. Und andere tun das auch.

Emanuel Herm
Glitzernd überzieht der Kalk Wände und Steine in der Falkensteiner Höhle

„Manche kritisieren, dass in die ‚Falki‘ Touristen dürfen“, sagt Conny. „Aber ich sehe es als Lehrauftrag. Ich möchte den Menschen zeigen, warum Höhlen schützenswert sind.“ Denn nur wer ihre Schönheit mit eigenen Augen sieht, begreife, welche Naturschätze und Spuren aus der Vergangenheit sie beherbergen. Höhlenschutz, Neugier und Forschung: Eins funktioniert nicht ohne das andere.

Wir dringen 400 Meter tief in die „Falki“ ein. Das hört sich wenig an, dauert aber durch das Kraxeln und Schlufen drei Stunden. Die Füße werden dabei zu Eisklötzen. Als wir wieder wenige Meter vor dem Portal ankommen, schlägt Conny vor, unsere Helmlampen auszuschalten. Im Dunkeln tapsen wir durch das Wasser, die Hände an den Felsen. Hinter einer Kurve erscheint der erste Lichtschimmer. Ich schlufe der Helligkeit entgegen, stolpere über einen Stein. Dann blitzen Bäume und blauer Himmel auf. „Diese Farben!“, ruft Conny, und ich stimme ihr zu. War die Erde schon immer so bunt? Ein Mädchen läuft auf uns zu, ruft „Hallo“, ihre Mutter sitzt am Wegesrand.

Ich fühle mich, als würden wir aus einer anderen Welt zurückkehren.

Biosphärengebiet Schwäbische Alb
Ab unter die Erde! Tipps für Höhlenexkursionen zu Fuß, im Boot und Neoprenanzug

Anreise
Seit 2001 engagieren sich BUND, NABU, VCD und die DB in der Kooperation Fahrtziel Natur für nachhaltigen Tourismus. Das Ziel: Verkehr vom privaten Pkw auf öffentliche Verkehrsmittel verlagern. Das Biosphärengebiet Schwäbische Alb wurde 2022 neu aufgenommen. fahrtziel-natur.de
ICE- und IC-Verbindungen bringen Sie bis nach Stuttgart, Ulm, Tübingen und Reutlingen. Von dort geht es weiter auf die Schwäbische Alb. Im Alb-Gebiet fahren Tourist:innen mit der AlbCard kostenlos mit Bahnen und Bussen. Erhältlich bei Übernachtung in teilnehmenden Beherbergungsbetrieben.

Höhlen
Wimsener Höhle
Die einzige Schauhöhle Deutschlands, die man mit einem Boot befährt. Von November bis März ist sie geschlossen – wie alle Höhlen auf der Alb, da sich dann Fledermäuse für ihren Winterschlaf einquartieren. Für nicht touristisch erschlossene gilt ein Betretungsverbot ab Oktober.

Hohler Fels
In der Eiszeit lebten Tiere und Menschen hier, wie Funde belegen. Darunter ist die weltweit älteste figürliche Darstellung eines Menschen, die „Venus vom Hohlen Fels“. Tourist:innen können die Höhle auf Führungen erkunden.

Falkensteiner Höhle
Für alle, die sich mehr Action wünschen, geht es im Neoprenanzug durchs Wasser. Die Höhle darf jedoch nur mit Genehmigung betreten werden. Für Lai:in­nen gibt es geleitete Touren, etwa von Constanze Krauß. cojote-outdoor.de

Schertelshöhle
Aufgrund ihrer vielen Tropfsteine gilt sie als eine der schönsten Höhlen der Alb. Über eine Treppe gelangt man auf Führungen 24 Meter tief. Im Anschluss lohnt sich ein Abstecher zur frei zugänglichen Höhle „Steinernes Haus“, rund fünf Minuten zu Fuß entfernt.

Natur
Biosphärenreservat
Eine jahrhundertealte Landschaft aus Buchenwald, Streuobstwiesen und Wacholderheide: Seit 2009 gelten 29 Städte und Gemeinden auf der Schwäbischen Alb als UNESCO-Biosphärenreservat. Die Kommunen erproben, wie Mensch und Natur gleichberechtigt existieren können.

Geopark
Die gesamte Alb ist seit 2015 UNESCO Global Geopark. Das Siegel zeichnet das erdgeschichtliche Erbe und die Karstlandschaft aus. Derzeit gibt es 161 Geoparks, davon fünf weitere in Deutschland.

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe September 2022

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