Wiedersehen mit dem Urwald

Vom Bayerischen Wald hat sich Autor Volker Corsten seit seiner Kindheit tunlichst ferngehalten, zu dunkel waren die Erinnerungen. Doch dann zwangen ihn sein Job und sein Sohn zu einer Rückkehr – und zu einer Reise, die er nie vergessen wird.

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Enno Kapitza

Manchmal muss man zu seinem Glück ein wenig gezwungen werden – etwa von der Redaktion von DB MOBIL. Ich sollte für sie an einen Ort gehen, an dem es mir persönlich weh tut – und bin dafür ewig dankbar.
Ich bin dorthin gefahren, wo in Deutschland tatsächlich noch „der Wald regiert“, wo er „einfach machen kann, was er will“, wie es der Ranger Günter Sellmayer ausdrückt: in den ältesten Nationalpark der Republik, den „Nationalpark Bayerischer Wald“. Zur Erklärung: Der deutsche Wald, so magisch und majestätisch er vielen auch erscheinen mag, war für mich stets ein Ort größter Ödnis. Ein endloser Hort der Düsternis, ein Labyrinth kreuzlangweiliger, breiter Ziehwege, die unsere Eltern meine Schwester und mich in unsere Kindheit unermüdlich hinaufzwangen. Wir fuhren Sommer für Sommer zum „Wandern“ (Horrorwort!) in den Schwarzwald oder in den (normalen) Bayerischen Wald, während meine Freunde nach Italien, Frankreich oder gar Spanien reisten. Seit ich selbst entscheiden durfte, wo ich meine Ferien verbringe, habe ich den deutschen Wald gemieden. Und ich wäre dorthin auch nicht für DB MOBIL gefahren, wenn ich nicht einen guten Grund gehabt hätte: meinen jüngsten Sohn Richard.

Kinder verändern alles, sagt man. Zumindest tut man mit seinen und für seine Kinder Dinge, die einem ohne sie nicht in den Sinn kämen. Geht etwa in „Ice Age"-Filme, Teil eins bis unendlich, in eher triste Zirkusse und in wirklich jeden Zoo oder Tierpark, der erreichbar ist. Richard war zu der Zeit sieben Jahre alt und kannte sich, wie er selbst zufrieden feststellte, bereits „sehr gut mit Tieren und Natur aus“.  Er ist, seit er laufen kann, am liebsten jede Woche in Hagenbecks Tierpark gegangen, er schaute kerzengerade stehend und mit offenem Mund die Zoo-Doku „Panda, Gorilla & Co.“ und ließ sich unermüdlich vorlesen aus Büchern, die „Im Wald“ oder „Tiere des Waldes“ oder „Wilde Tiere in… xy“ heißen. Und er kam von seinen Abenteuern nie ohne einen neuen Stock wieder. Im Vorgarten sah es lange Zeit aus, als wohnte dort eine Biberkolonie.

Richard war natürlich sofort Feuer und Flamme, mit einem Ranger und mir den Bayerischen Wald zu erkunden. Der Nationalpark wurde 1970 gegründet – als Fördermaßnahme für die, wie man das heute nennt, strukturschwache Gegend direkt an der tschechischen Grenze, in der es damals wenigstens noch die Glashütten gab (heute wird Glas rund um Zwiesel nur noch für Touristen geblasen). Er entstand aber auch, weil die Bayern beim Thema Nationalparks wie so oft die ersten sein wollten. 240 Quadratkilometer umfasst das Schutzgebiet, das Pendant auf tschechischer Seite, der Böhmerwald (Sumava Nationalpark), ist sogar dreimal so groß.

Ranger Sellmayer erwartete uns auf einem Parkplatz, der zwischen den Ortschaften Altschönau und Spiegelau liegt. Von dort soll es mit einem der „Igelbusse“ weitergehen, die an vielen Zugängen als einzige motorisierte Verkehrsmittel tagsüber in den Nationalpark fahren dürfen. Die Busse und das „Gästeservice Umwelt-Ticket“ (GUTi) sind Teil eines Verkehrskonzepts, für das der Nationalpark bereits mehrfach den „Fahrziel Natur“-Preis bekommen hat, den die Deutsche Bahn mitverleiht.

Enno Kapitza

Wir kraxelten mit Sellmayer über umgestürzte Fichten, passierten dicht stehende Tannen und liefen durch tiefe Krater, die einst Goldsucher hier ausgehoben haben, gingen durch moorigen Boden und über Planken. Den Trampelpfad hatte Sellmayer mit der Motorsäge selber freigelegt. Der Nationalpark ist voller Baumruinen, die ihn an manchen Stellen, etwa am Lusen – dem zweithöchsten Gipfel, wo Felder grauer Fichtenstümpfe in den Himmel ragen – wie eine Mondlandschaft aussehen lässt. Im tiefen Urwald liegen sie kreuz und quer in der Gegend herum. Sellmayer sagte dazu: „Unsere wichtigste Aufgabe im Nationalpark ist: nichtstun!“ Nichtstun, das war aber nichts für Richard. Es war wirklich unglaublich, wie viel Energie ein kleiner Junge freisetzen kann, wenn er vor Glück fast platzt. Wir sind morgens im Stockdunkeln auf den Lusen geklettert, um dort den spektakulären Sonnenaufgang zu erleben, sind den ganzen Tag durch den Wald gelaufen, haben im Wildgehege lange auf das Wolfsrudel gewartet (um es am Ende aber nur aus der Ferne heulen zu hören). Und immer, wenn wir heute auf dem Weg ans Mittelmeer am Bayerischen Wald vorbeikommen, leuchten Richards Augen und er erzählt, was er mit dem Sellmayer Günter erlebt hat. Bald, da bin ich sicher, schauen wir dort auch wieder vorbei.

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