„Mein größtes Europa-Erlebnis hatte ich mit Interrail-Tickets“

Kaum jemand schreibt fesselnder über Schuld und Verbrechen als Ferdinand von Schirach. Im Interview spricht der Bestsellerautor über seine Abneigung gegen Kochen, Sport und Volksentscheide. Und er erklärt, was ihn dazu brachte, neue Grundrechte für alle Europäer:innen zu formulieren. Reines Wunschdenken?

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Paulina Hildesheim für DB MOBIL
Europa ganz nah: DB MOBIL hat Ferdinand von Schirach im Europäischen Haus in Berlin-­Mitte fotografiert. Hier haben das Informationsbüro des EU-Parlaments und die hiesige Vertretung der EU-Kommission ihren Sitz

Er werde beim Fotoshooting keine Faxen machen – das ist so ziemlich das Erste, was Ferdinand von Schirach klarstellt, als ihn das DB MOBIL-Team in der Ausstellung „Erlebnis Europa“ in Berlin trifft. Okay, Ansage. Und nicht nur ein Spruch: Während ihn die Fotografin aus allen Richtungen aufs Korn nimmt, huscht allenfalls die Ahnung eines Lächelns über von Schirachs Gesicht, seine Hände vergräbt er meist in den Hosentaschen. Im Laufe des Gesprächs blitzen jedoch auch andere Seiten des 56-Jährigen hervor. Als etwa eine Jalousie gemächlich herabgleitet, kommentiert er: „Das ist eine europäische Markise, die arbeitet langsam“, und lacht leise in sich hinein.

 

Ferdinand von Schirachs Romane, Erzählbände und Theaterstücke haben sich hierzulande mehr als viereinhalb Millionen Mal verkauft und sind in über 40 weiteren Ländern erschienen. Sie wurden verfilmt, wie „Der Fall Collini“ mit Elyas M’Barek und „Schuld“ mit Moritz Bleibtreu. Und sie werden mit großem Erfolg aufgeführt: „Terror“ war 2016/17 das meistgespielte Stück auf deutschen Bühnen. Nun nimmt sich von Schirach nichts Geringerem als der Zukunft Europas an: In dem Band „Jeder Mensch“ hat der gelernte Jurist sechs neue Grundrechte formuliert, über die die Bürger:innen des Kontinents abstimmen sollen (siehe Infokasten unten). Warum widmet er sich nach den Erkundungen menschlicher Abgründe nun einem scheinbar so abstrakten Thema? Bevor von Schirach zu erzählen beginnt, kramt er zwei Duplo-Riegel aus seiner Tasche, außerdem eine grüne Stanley-Thermoskanne und ein Glas Instantkaffeepulver samt Pappbechern: „Möchten Sie auch?“

Paulina Hildesheim für DB MOBIL
Schriftsteller Ferdinand von Schirach in Berlin, wo ihn DB MOBIL zum Interview traf. Im Hintergrund: eine Filmszene, die Teil einer Ausstellung ist. Darin geht es um Umwelt- und Klimaschutz – wobei wir schon fast beim Thema sind

Danke für den Kaffee, Herr von Schirach. Ihre sechs neuen Grundrechte für Europa – was haben die mit meinem Alltag zu tun?

Die Grundrechte betreffen Sie überall in Ihrem Leben – ob Sie sich im Internet bewegen und Sorge haben, dass Sie ausgeforscht und manipuliert werden, oder ob Sie ein T-Shirt kaufen, von dem Sie nicht wollen, dass es in einer Höllenfabrik von Sklaven hergestellt wurde. Oder ob Sie in einer gesunden Umwelt leben wollen, wie vermutlich ja die meisten Menschen.

Wenn die meisten Menschen das wollen, warum gibt es dann dafür bisher noch keine Grundrechte?

Die europäischen Verfassungen wurden vor langer Zeit geschrieben, viele der heutigen Probleme waren damals natürlich nicht bekannt. Die Mütter und Väter der Verfassungen wussten nichts vom Internet, der Globalisierung oder dem Klimawandel. Wir haben längst eine neue Epoche betreten. Der Rahmen, in dem wir leben, ist verbogen, an manchen Stellen ist er schon zerbrochen – wir haben das bei dem Sturm auf das US-Kapitol am 6. Januar gesehen.

In Ihren Grundrechten steht auch das Recht auf ein Leben in einer gesunden Umwelt, auf digitale Selbstbestimmung und auf die Wahrheit der Äußerungen von Amtsträger:innen. All das soll vor europäischen Gerichten eingeklagt werden können. Ist das nicht reines Wunschdenken?

Nein, im Gegenteil: Genau das ist das Recht der Menschen in einer Demokratie. Wir leben ja nicht in einem Königreich, in dem ein autokratischer Herrscher etwas verbieten kann. Politiker können sich nur in einem festgelegten Rahmen, innerhalb der Verfassung, bewegen. Sie können diesen Rahmen nicht – oder doch nur sehr schwer – verändern. Aber genau das müssen wir jetzt tun, um den zahlreichen neuen Herausforderungen gerecht werden zu können. Und was das Wahrheitsrecht betrifft, da haben Sie völlig recht. Kritiker können anmerken: Was soll denn diese Wahrheit sein? Es gibt eine subjektive Wahrheit und eine objektive Wahrheit, und wie steht es mit dem Verhältnis von Wirklichkeit und Wahrheit? Das stimmt natürlich alles. Aber tatsächlich wissen Menschen sehr genau, was Wahrheit ist und was Lüge. Genauso wie die Menschen bei der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wussten, was „Freiheit“ ist, oder 1949, was die „Würde des Menschen“ ist. Es ist Aufgabe der Gerichte, solche Begriffe im Laufe der Zeit auszulegen.

Sechs neue Grundrechte
In seiner Schrift „Jeder Mensch“ (Luchterhand Literaturverlag, 5 €) präsentiert Ferdinand von Schirach seine erweiterte Grundrechtecharta für Europa:

Artikel 1: Umwelt
Jeder Mensch hat das Recht, in einer gesunden und geschützten Umwelt zu leben.

Artikel 2: Digitale Selbstbestimmung
Jeder Mensch hat das Recht auf ­digitale Selbstbestimmung. Die Ausforschung oder Manipulation von Menschen ist verboten.

Artikel 3: Künstliche Intelligenz
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihn belastende Algorithmen transparent, überprüfbar und fair sind. Wesentliche Entscheidungen muss ein Mensch treffen.

Artikel 4: Wahrheit
Jeder Mensch hat das Recht, dass Äußerungen von Amtsträgern der Wahrheit entsprechen.

Artikel 5: Globalisierung
Jeder Mensch hat das Recht, dass ihm nur solche Waren und Dienstleistungen angeboten werden, die unter Wahrung der universellen Menschenrechte hergestellt und erbracht werden.

Artikel 6: Grundrechtsklage
Jeder Mensch kann wegen systematischer Verletzungen dieser Charta Grundrechtsklage vor den europäischen Gerichten erheben.

 

Über jeder-mensch.eu oder den QR-Code im Buch können EU-Bürger:innen über diese Grundrechte abstimmen. Im Hörbuch spricht Ferdinand von Schirach übrigens den Hintergrundtext, die Grundrechte selbst werden von der Schauspielerin Bibiana Beglau gelesen.

Die Europäische Union erscheint vielen Menschen zu langsam, zu bürokratisch und zu sehr auf Kompromisse bedacht. Wie aber kann man gemeinsam die großen Probleme der Zukunft lösen, wenn viele Menschen den Glauben an Europa verloren haben?

Auch da stimme ich Ihnen zu. Ich nenne Ihnen nur ein Beispiel: Es gibt einen Rat der Europäischen Union, einen Europäischen Rat und einen Europarat, der nicht mit der EU verbunden ist. Das kann man niemandem erklären. Das eigentliche Problem der EU ist, dass alles von oben verordnet erscheint. Es wurde deshalb nie ganz zu unserer Europäischen Union, sie blieb immer ein wenig fremd. Wenn wir uns jetzt selbst Grundrechte geben, wäre das dagegen etwas völlig Neues. Und wenn man sieht, dass man etwas wirklich verändern kann, könnte das dazu führen, dass sich die Menschen mit der Europäischen Union identifizieren und sie sich zu eigen machen.

Sie sind ein erklärter Gegner von Volksentscheiden. Weshalb wünschen Sie nun eine Volksabstimmung?

Volksabstimmungen, so sagte es der erste Bundespräsident Theodor Heuss vor 65 Jahren, seien eine Prämie für jeden Demagogen. Damit hatte er recht. Aber eine Abstimmung über Grundrechte und die Einberufung eines Verfassungskonvents ist keine Volksabstimmung über ein Gesetz. Es geht um den großen Rahmen, in dem wir leben wollen. Das ist etwas vollkommen anderes.

Sie haben 2016 Ihren Beruf als Anwalt aufgegeben, um nur noch als Schriftsteller zu arbeiten. Was hat Sie dazu gebracht, sich nun wieder Gesetzestexten zu widmen?

Als Deutschland vergangenes Jahr im Juli die Ratspräsidentschaft der EU übernommen hat, habe ich in einem Fernsehinterview darüber gesprochen, dass wir eine neue europäische Grundrechtecharta bräuchten. Am Abend war mein E-Mail-Postfach voll mit Nachrichten von Menschen, die schrieben: „Sehr gut, wir sind bei dem Projekt dabei.“ Aber es gab ja noch gar kein Projekt! (lacht) Das war der Anfang. Staats- und Europajuristen, die viel mehr davon verstehen als ich, haben dann monatelang an der Formulierung dieser Rechte gearbeitet – meine Aufgabe war nur, immer zu sagen: Das ist noch zu kompliziert, bitte einfacher, klarer, verständlicher.

Haben Sie in dieser Zeit gemerkt, dass Sie Ihren alten Beruf vermissen?

Ich vermisse nur manchmal den Gerichtssaal, die intellektuelle Auseinandersetzung, bei der nur der Verstand und die Sprache als Waffen zugelassen sind.

Paulina Hildesheim für DB MOBIL

Polizist:innen oder Jurist:innen erzählen manchmal, dass sich ihr Menschenbild durch ihren Beruf verschlechtert habe. Ist es Ihnen ähnlich ergangen?

Der Mensch ist nun einmal, wie er ist. Ich habe in den 25 Jahren als Anwalt nie einen nur guten oder nur bösen Menschen kennengelernt. Ich habe Mörder, Drogendealer, Zuhälter, Betrüger und andere Straftäter verteidigt. Ich war bei Obduktionen, habe Tatorte in Kellern gesehen. Ich habe Menschen am Abgrund verteidigt, die nackt waren, zerstört und verwirrt. Ich habe in Brasilien und in Bratislava Mandanten in Gefängnissen besucht, die in Löchern saßen. Der Mensch kann alles sein, er kann „Figaros Hochzeit“ komponieren, den „Mönch am Meer“ malen und Penicillin erfinden. Oder er kann Kriege führen, vergewaltigen und morden. Es ist aber immer der gleiche Mensch. Das habe ich als Anwalt begriffen.

Wo liegt für Sie der größte Unterschied zwischen Ihrer Tätigkeit als Anwalt und Ihrer Tätigkeit als Schriftsteller?

Die großen Linien in unserem Leben können wir ja meist erst in der Rückschau erkennen. Ich habe mit 13 Jahren mein erstes Theaterstück geschrieben, ich wollte immer nur schreiben. Trotzdem wurde ich Strafverteidiger und bin erst spät wieder zum Schreiben gekommen. Das Schreiben ist für mich das Wesentliche, es ist so etwas wie ein Zuhause. Der Beruf als Strafverteidiger war erfüllend, aber er erschien mir nie ganz das Richtige für mich zu sein.

Wie meinen Sie das?

Bei allem, was ich als Anwalt tat, habe ich mich ziemlich distanziert und oft ein wenig spöttisch von außen beobachtet. Beim Schreiben kenne ich diese Distanz nicht. Wenn man schreibt, kann man nichts sonst mehr tun. Jede Ablenkung wirft zurück, jeder Anruf, jede E-Mail, jede Verabredung stört. Aber dafür bekommt man etwas anderes, etwas ganz und gar Wunderbares: Man reist in seinem Kopf, man trifft seine Figuren, und am Ende lebt man ganz in seinem Buch. Natürlich zweifle ich immer, ob das, was ich mache, überhaupt etwas taugt. Aber am Schreiben selbst habe ich nie gezweifelt.

Viele Schriftsteller:innen zweifeln an der Güte ihres Werks. Warum hadern Sie?

Wir sind nie zufrieden. Thomas Mann zum Beispiel, der ein großes Talent zur Repräsentation besaß, der mit dem amerikanischen Präsidenten im Weißen Haus frühstückte, auf seinen Lesereisen Theaterhäuser füllte und vom Papst empfangen wurde, war in Wirklichkeit ein ganz unsicherer Mensch. Balzac erklärte das gut. Er sagte über den Schriftsteller: „Warum sollte man Figuren erfinden, warum sollte man das Leben anderer leben wollen, wenn man sicher in der Welt ruht?“ Und Hemingway schrieb an Scott Fitzgerald einen ganz ähnlichen Satz, nämlich: „Du musst erst furchtbar verletzt werden, bevor Du ernsthaft schreiben kannst.“ Aber was Balzac und Hemingway nicht sagten, ist, dass es gar nichts nutzt zu schreiben. Die Unsicherheit mit der Welt verschwindet nicht. Tatsächlich gibt es keine Antworten, es gab sie noch nie.

Und der zufriedene Nichtschriftsteller muss nicht das Leben anderer leben, weil er in seinem eigenen Leben ruht?

Für ihn stimmt das Leben vielleicht mehr. Aber ich glaube, es ist nicht ganz so einfach. Die Zweifel äußern sich nur bei jedem Menschen anders. Sie liegen einfach darin begründet, dass wir ein Bewusstsein haben und von unserem Tod wissen. Es ist oft nicht ganz einfach, sich mit dieser Sinnlosigkeit abzufinden.

Warum haben Sie erst so spät, mit Mitte 40, Ihr erstes Buch herausgebracht?

Als Kind hatte ich Depressionen. Oft ist ein Teil der Depression die Angst zu verarmen, also kein Geld zu verdienen und zu glauben, man würde bald in einem feuchten Keller mit Tuberkulose dahinsiechen. Wie bei allen Ängsten glaubt man leider, sie seien ziemlich real. Ich dachte, wenn ich nur schreibe, wird es furchtbar mit mir enden. Das war der wesentliche Grund, warum ich mich für einen ganz bürgerlichen Beruf entschieden habe.

Sind die Ängste inzwischen verschwunden?

Ängste verschwinden nie ganz. Ich stelle mir immer noch vor, dass ich morgen früh aufwache, und kein Mensch kauft mehr ein Buch von mir. Aber man findet Möglichkeiten, damit zu leben.

Paulina Hildesheim für DB MOBIL
Mann, Taube, Pause: Ferdinand von Schirach vorm Europäischen Haus in Berlin. Das Luftschnappen nutzte der Autor für (Schirach-Kenner ahnen es): Kaffee und Zigaretten

Ihre Stücke sind meist offengehalten, Sie überlassen Lesenden oder Zuschauenden das Urteil, statt selbst Position zu beziehen. Machen Sie es sich leicht?

Ich glaube, dass es für den Leser oder den Zuschauer interessanter und schwieriger ist, sich selbst Fragen zu stellen. Das Urteil ist ja immer ein wenig langweilig.

Im Alltag auch?

Meine einzige wirkliche Erkenntnis aus diesem Leben ist, dass wir nun einmal Fehler und Dummheiten machen. Sie sind Teil unserer Existenz, unseres Wesens, wir können gar nicht anders. Ein Urteil darüber ist keine gute Haltung zur Welt. Sie führt zum Zynismus, zur Gleichgültigkeit oder sogar zur Abscheu vor den Menschen – und damit in ein kleines, hässliches, langweiliges Leben. Das Beste scheint mir also zu sein, sich in ein Café zu setzen, eine Zigarette zu rauchen und dem Leben etwas gelassener zuzusehen.

In welchen Momenten werden Sie zum Stammtisch-Schirach und urteilen doch mal?

Ich trinke keinen Alkohol, deshalb ist das mit dem Stammtisch schwierig (lacht). Aber im Ernst, wenn die Dinge in politischer Hinsicht zu extrem werden, wenn ständig die Wissenschaft in Zweifel gezogen wird oder wenn Menschen nur noch hassen und verachten – dann wird’s mir ein wenig zu mühsam, und ich gehe nach Hause.

Wie hat sich Ihr Alltag durch die Coronakrise geändert?

Normalerweise frühstücke ich im Café und gehe abends in ein Restaurant, ich kann leider nicht kochen. Das ist nun alles geschlossen. Stattdessen gibt es Brote und Take-away – auf Dauer nicht besonders angenehm. Außerdem fehlen mir die Museen, Theater und Konzerthäuser.

Viele Menschen haben die Zeit genutzt, um etwas Neues auszuprobieren. Sie auch?

Nein, so etwas wie Hobbys habe ich nicht. Ich mag schon das Wort nicht.

Treiben Sie Sport?

Noch nie in meinem Leben. Die meisten Sportler, die ich kenne, haben arge Probleme mit ihrem Körper nach ein paar Jahren bekommen. Ich gehe lieber spazieren.

Wenn Sie an einem Buch arbeiten, schreiben Sie dann jeden Tag?

Ja, ich schreibe etwa drei Stunden, was ungefähr einer Textseite entspricht. Und das tatsächlich jeden Tag, auch an Weihnachten, Silvester, am Geburtstag. Beim Schreiben gibt es kein Geheimnis. Noch immer, wie vor 3000 Jahren, schreibt man Wort für Wort und Satz für Satz. Es geht nicht anders. Nie gibt es eine Abkürzung, und es geht tatsächlich nur mit Disziplin. Man muss einfach weiterarbeiten.

Mein größtes Europa-Erlebnis hatte ich mit Interrail-Tickets

Können Sie auch unterwegs arbeiten?

Ich bin am liebsten am Schreibtisch, aber ich kann auch im Café oder in der Bahn schreiben. Da ich täglich schreibe, stellt sich schnell eine Situation ein, in der ich ganz in den Text und die Geschichte eintauche. Dann spielt es keine große Rolle mehr, wo ich mich befinde, wenn es nicht zu laut ist.

Sind Sie diesbezüglich eine Ausnahme?

Es wird ja sehr viel darüber geredet, was alles wichtig sei beim Schreiben: der Ort, der Schreibtisch, der Stuhl, die Aussicht. Jonathan Franzen etwa schreibt in einem abgedunkelten Zimmer ohne Internetzugang und in kompletter Stille, andere, wie Ernest Hemingway, behaupteten, auch im Schützengraben arbeiten zu können. Ich mag die Geschichte von Vladimir Nabokov, den ich bewundere: Er hat sein erfolgreichstes Werk – „Lolita“ – in einer Wohnung verfasst, in der es keinen Schreibtisch gab. Deshalb hat er sich ein Brett über das Klo gelegt, darauf seine Schreibmaschine gestellt und so Weltliteratur geschrieben! Das zeigt vielleicht, wie unwichtig der Ort ist. Man darf solche Dinge nicht so ernst nehmen.

In den zurückliegenden Monaten haben Sie nichts geschrieben, sondern viel organisiert, um eine Abstimmung über Ihre Europa-Grundrechte voranzubringen. Warum investieren Sie ausgerechnet in Europa so viel Energie?

Das stimmt, es war anstrengend, aber erfüllend. Mich hat es sehr bewegt, wie Menschen aus allen gesellschaftlichen Gruppierungen seit Monaten begeistert für diese Sache arbeiten. Niemand verdient daran einen Cent. Ich spende sämtliche Einnahmen aus den Buch- und Hörbuchverkäufen dem gemeinnützigen Verein, der die Website betreibt und sich um die Durchsetzung der Grundrechte bemühen wird. Und warum Europa? Die Ideen der Aufklärung, die Würde des Menschen, die Gleichheit und Freiheit, der nun schon 75 Jahre dauernde Frieden zwischen den Ländern der Europäischen Union – das alles ist zerbrechlich, wir müssen es unbedingt schützen. Außerdem bin ich Europäer, alles, was ich schreibe und denke, ist europäisch.

Wo waren Sie zuletzt?

Kurz vor dem ersten Lockdown im vergangenen Jahr war ich in Barcelona zu einer Buchvorstellung. Das ist oft ein wenig anstrengend, 30 Interviews in zwei Tagen. Aber manchmal kann man sich davonstehlen und ein paar Stunden durch die Stadt gehen. Ich habe wieder gesehen, wie lebendig, wie reich und wie vielfältig dieser wunderbare Kontinent ist. Mein größtes Europa-Erlebnis aber hatte ich tatsächlich mit Interrail-Tickets.

Wann waren Sie unterwegs?

Mit 18 und 19 Jahren bin ich zweimal einen Monat lang mit der Bahn durch ganz Europa gefahren und habe die Tickets jeweils bis zum letzten Tag ausgenutzt. Die Tage habe ich in den Städten verbracht und nachts im Zug auf dem Weg in die nächste Stadt geschlafen. Das waren großartige Reisen. Und die meisten Schaffner waren nett, vielleicht weil sie sich freuten, dass junge Leute durch ganz Europa fuhren.

Woran erinnern Sie sich noch?

An etwas, das es heute kaum noch gibt: die Unterschiede zwischen den Ländern. Damals gab es ganz verschiedene Waren in jedem Land, das Essen war noch völlig unbeeinflusst von anderen Ländern, selbst die Musik und die Kinofilme waren noch keine Einheitsware. Oder denken Sie daran, wie man sich plötzlich sehr reich fühlen konnte, wenn man Tausende Lire in Italien für sein weniges Geld in der Hand hielt. Heute scheint alles vereinheitlicht und überall verfügbar. Diese wilde Vielfalt damals, die mochte ich sehr.

ullstein bild/CARO Jandke
Ferdinand von Schirach 1996

Mit Verbrechen zum Erfolg

Geboren am 12. Mai 1964 in München. Nach der Scheidung der Eltern kommt Ferdinand von Schirach mit neun Jahren auf ein Jesuiteninternat.

Weil er befürchtet, als brotloser Künstler zu enden, studiert er Jura, wird Strafverteidiger.

Sein erstes Buch „Verbrechen“ wird ein großer Erfolg, ebenso „Schuld“ und „Strafe“. 2019 erscheinen die autobiografisch gefärbten Erzählungen „Kaffee und Zigaretten“, 2020 bringt von Schirach den Gesprächsband „Trotzdem“ mit Alexander Kluge heraus.

Auch sein Cousin ist Bestsellerautor: Benedict Wells, der seinen Namen offiziell ändern ließ, als Abgrenzung vom Großvater Baldur von Schirach, der als NS-Täter verurteilt wurde. Ferdinand von Schirach sagte der Tageszeitung „Die Welt“, er habe das Europa-Buch „auch aus der Verantwortung, die mit meinem Namen verbunden ist, geschrieben“.

Dieses Interview erschien erstmals in DB MOBIL 05/2021.

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