„Ein ewiges Wechselbad aus Liebe und Enttäuschung“

Journalist, Autor und Podcaster Hajo Schumacher erzählt im Interview, wie er es zu Zen-artiger Gelassenheit bei Verspätungen der Bahn gebracht hat und was seine Ahnen damit zu tun haben

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Datum: 15.12.2023
Lesezeit: 6 Minuten
Hajo Schumacher
© Anne Hufnagl

Wer ist oft unpünktlich, fällt manchmal ganz aus und hat zuweilen nicht mal heißen Kaffee an Bord? Die Rede ist von der Deutschen Bahn, und Journalist Hajo Schumacher versucht in drei neuen Folgen des DB MOBIL-Podcast-Specials „Unterwegs in die Zukunft“, Antworten auf die Fragen nach den aktuellen Problemen des Unternehmens zu finden. Mit dabei: DB-Infrastrukturvorstand Berthold Huber und Podcasterin und Vielfahrerin Ariana Baborie. 

Im Interview mit DB MOBIL spricht Schumacher über seine Großeltern, die zeitweise in einem Waggon lebten, die fast religiöse familiäre Verehrung der Eisenbahn und über seine Erkenntnis, dass sogar Ausfälle im Bordbistro für Verspätungen sorgen können.

Herr Schumacher, Sie haben familiäre Verbindungen zur Bahn. Wie sehen die aus?

Es sind keine Verbindungen, sondern Wurzeln. Meine Großeltern bedienten per Hand die Schranke an einem Bahnübergang im Saterland. Weil ihr Haus im Krieg zerbombt wurde, lebten sie eine Weile in einem Eisenbahnwaggon. Mein Vater war Beamter bei der Bundesbahn, Direktion Münster – eine typische Aufstiegsgeschichte aus Nachkriegsdeutschland. Bundesrepublik, Bundeswehr, Bundesbahn, das klang doch mal nach was. Und so war auch das Selbstverständnis: Da wurde gewissenhaft eine staatliche Aufgabe erledigt. 

Was bedeutete das konkret?

In unserer Siedlung am Bahndamm wohnten nur Eisenbahner. Links der Lokführer, rechts der Instandhalter. Alle waren im Eisenbahner-Kleingartenverein und im Eisenbahner-Sportverein. Das Häuschen war mit einem Kredit der damaligen Eisenbahnerbank Sparda finanziert. Es war ein eigener Kosmos mit einem hohen Ethos von Zuverlässigkeit und Ordentlichkeit. Als Gesellschaftswissenschaftler fasziniert mich diese Welt bis heute, weil sie vergleichsweise heile war: Es gab weder Boni noch Mindestlohn, alle gingen zur Wahl, Nachbarschaftshilfe war selbstverständlich. 

© privat
Unterwegs: Hajo Schumacher fährt regelmäßig durch ganz Deutschland mit dem Zug. Hier steht er am Gleis am Hauptbahnhof Dortmund

Wie wurde in Ihrer Familie früher über die Eisenbahn geredet?

Voller Ehrfurcht, fast religiös. Die Bahn war die große Mutter, die das ganze Land mit Mobilität versorgte, die ihre Eisenbahner nährte und ihnen lebenslange Sicherheit garantierte. Die tägliche Arbeit für den störungsfreien Betriebsablauf war mehr als ein Job, das war fast schon sowas wie Gottesdienst. Und ein Typ wie GDL-Chef Claus Weselsky wäre in unserer Siedlung geteert und gefedert worden. Eine Bahn streikte nicht.

Was würden Ihr Vater und Ihr Großvater sagen, wenn sie etwa auf die momentane Pünktlichkeitsrate der Züge schauen würden?

Sie würden es schlicht nicht glauben.

Sie treffen beruflich viele Leute. Eines der liebsten Smalltalk-Themen neben dem Wetter: die Bahn. Was kriegen Sie da zu hören?

Lange Zeit wurde geschimpft, man übertrumpfte sich mit absurden Bahn-Erlebnissen und lachte bitter über Verspätungsansagen. Wut und Sarkasmus scheinen langsam in eine Phase Zen-artiger Gelassenheit überzugehen. Niemand hofft mehr ernsthaft, vielleicht doch pünktlich anzukommen. Man fährt halt zwei Stunden früher los, hat Stullen dabei, reichlich Datenvolumen und überlässt sich ansonsten dem Schicksal. 

Haben Sie da familiär bedingt Hemmungen, auf die DB zu schimpfen?

Ich fühle mich wie ein Schalke-Fan – ein ewiges Wechselbad aus Liebe und Enttäuschung.

Sie haben gerade drei neue Folgen für „Unterwegs in die Zukunft“ aufgenommen, das Podcast-Special von DB MOBIL. Der inoffizielle Titel lautet: „Hajo jagt die Verspätung“. Was haben Sie auf der Jagd gelernt?

Dass alles mit allem zusammenhängt. Das kaputte Bordbistro hat eben auch mit den Verspätungen zu tun, weil die Zeitfenster für Wartung und Reparatur genauso durcheinanderpurzeln wie die Fahrpläne. Diese Kettenreaktionen laufen seit Jahren auf allen Ebenen und verstärken sich gegenseitig, müssen aber im laufenden Betrieb umgedreht werden, bei wachsendem Fachkräftemangel in einem Land voller Bahnchefs. Viel Spaß.

Ihre wichtigste Erkenntnis aus dem Talk mit Infrastrukturvorstand Berthold Huber?

Die Bahn ist kein klassisches Unternehmen, sondern ein politisches Gebilde. Die Manager können nicht frei entscheiden, sondern sind gefangen in den jeweiligen Opportunitätserwägungen einer Regierung. Wie will man langfristig kluge Entscheidungen treffen, wenn man zwei Legislaturperioden lang Strecken stilllegen soll, um sie dann wieder zu aktivieren? Kurzatmige Politik und langfristiges Planen – wie soll das gehen? Dafür machte Berthold Huber einen überraschend entspannten Eindruck. Wenn man bei der Bahn was lernt, dann Resilienz.

Berliner Bauchladen
Hajo Schumacher arbeitet als Autor für Tageszeitungen, fürs Fernsehen und für den Hörfunk, außerdem als Podcaster und Moderator. Seit gut einem Jahr ist er Chefkolumnist der Funke Mediengruppe. Der Münsteraner, 59, lebt mit seiner Familie in Berlin und betreibt mit Frau und Sohn den Podcast „Wir. Der Mutmach-Podcast von FUNKE“. Schumacher war früher Chefredakteur der Zeitschrift Max und leitete das Berliner Büro des Nachrichtenmagazins Der Spiegel. Er sagt von sich selbst, heute hätte er einen journalistischen Bauchladen, mit dem er sehr zufrieden sei.  

Schauen Sie nun milder auf Verspätungen & Co.?

Es sind keine Verspätungen, es sind geschenkte Zeitfenster, um sich in der Kunst von Meditation und Gelassenheit zu üben.

Was macht Ihnen Mut?

Die vielen Freigetränke.

Sie sind oft mit der Bahn unterwegs. Welche Strecke ist Ihre liebste?

Am Rhein entlang, von Koblenz nach Mainz über Boppard und St. Goar mit der Loreley, am Niederwalddenkmal vorbei bis nach Bingen, wo dieser Mäuseturm steht. Die Urlaubsfahrten meiner Kindheit. Aber Hamm–Münster ist auch toll. Oder von Spandau zum Berliner Hauptbahnhof. 

Und wo findet man Sie im Zug?

Fenster, Tisch, Ruhezone in der 1. Klasse. Seit Kindheitstagen erfüllt mich ein Platz in der 1. Klasse mit Stolz und Ehrfurcht. Den Luxus gönne ich mir.

Wie vertreiben Sie sich die Zeit auf Reisen?

Arbeiten, Lesen, aus dem Fenster gucken, Dösen und wieder von vorn. Dazu einen grünen Tee oder alkoholfreies Weizen, je nachdem, ob gerade Kühlung oder Heißwasser läuft.

Zum Abschluss bitte eine Anekdote, die Sie gern erzählen, wenn das Thema mal wieder auf die Bahn kommt. 

Ich war vielleicht neun Jahre alt, als ich fasziniert das Ankoppeln einer Lok beobachtete. Da winkte mich plötzlich der Lokführer heran und zog mich die kleine Treppe hoch ins Cockpit. Es war eine IC-Lok der Baureihe 103. Und ich fuhr vorne mit, als kleiner König des Schienenstrangs. Ja, es gibt auch tolle Bahn-Geschichten. 

Auf die Ohren

Sie wollen noch mehr von Hajo Schumacher wissen? Dann hören Sie doch mal in den DB MOBIL-Podcast „Unterwegs mit ...“ rein, bei dem er in der dritten Staffel zu Gast ist.

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