„Kurze Haare kann ich jeder Frau empfehlen“

Sie gilt als eine der talentiertesten jungen Schauspielerinnen des Landes. Emilia Schüle, 27, erzählt im Interview mit DB MOBIL, in welcher Filmszene sie „vom Mädchen zur Frau“ wurde. Und was das mit den vorherrschenden Schönheitsidealen zu tun hat

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Lesezeit: 10 Minuten
Emilia Schüle
Jana Clevé
Im Film „Wunderschön“ rasiert Emilia Schüle sich die Haare ab – auch abseits der Leinwand eine Schlüsselszene für sie

Es finden sich viele Youtube-Clips mit Filmszenen von Emilia Schüle. Wie sie in der Verwechslungskomödie „High Society“ die geföhnten Haare nach hinten wirft. In „LenaLove“ durch die roten Strähnen lugt. Mit hüpfendem Pferdeschwanz begann 2008 die Karriere der Berlinerin, die als Kleinkind mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester aus Russland nach Deutschland gekommen war: als Mila in „Freche Mädchen“. Dass Schüle mehr ist als ein Teenie-Komödien-Star ­wurde spätestens klar, als sie 2014 den Nachwuchspreis der Goldenen Kamera erhielt, für ihre „Tatort“-Rolle einer Belarussin in den Fängen von Mädchenhändlern. Man erkennt sie in jeder dieser Rollen sofort wieder.
Und nun fragt man sich kurz: Wer ist diese Person, die in der Bar des Hotels „Sir Savigny“ in Berlin-Charlottenburg sitzt und lacht? Es ist eine reine Äußerlichkeit, die irritiert – was vielleicht auch schon einiges darüber sagt, wie wir Menschen beurteilen: Schüle trägt stoppelkurze Haare. Das liegt an einem Film, der dieser Tage in die ­Kinos kommt: „Wunderschön“, die dritte Regiearbeit von Karoline Herfurth.
Der Film begleitet fünf Frauen, die auf unterschiedliche Weise mit Idealbildern von Weiblichkeit zu kämpfen haben. Darunter eine junge Mutter, die ihre Selbstständigkeit verliert (gespielt von Herfurth selbst). Und eben Julie, dargestellt von Schüle, die als Model arbeitet und versucht, ihren Körper mit Sport und Drogen leistungsfähig zu halten. Bis sie kollabiert.
In einer Schlüsselszene des Films rasiert sich Julie alle Haare ab. Seitdem trägt auch die Schauspielerin Emilia Schüle ihr Haar nicht mehr schulterlang, so wie man es aus ihren bisherigen Rollen kannte. Schon seit einigen Jahren gehört sie zu den gefragtesten Schauspielerinnen des Landes. Und doch hat Schüle ihr altes Image erst mit diesem neuen Film richtig hinter sich gelassen. Aber das muss sie selbst erklären.

Frau Schüle, wie wichtig ist Schönheit in Ihrem Leben?

Sie spielt zum Glück keine große Rolle. Mich beschäftigen andere Dinge: Geschichten, die Suche nach Tiefe und nach Frauenfiguren, die in keine Schubladen passen und die ich gerne verkörpern würde. Schönheit als Lebensmittelpunkt macht nicht glücklich.

Aber Sie arbeiten in einer Branche, in der Äußerlichkeiten wichtig sind.

Klar, wenn ich über einen roten Teppich gehe oder fotografiert werde wie heute, dann geht es darum, wie ich aussehe. Viele Leute – Stylisten, Visagisten und so weiter – kümmern sich darum, dass ich als beste Version meiner selbst auftrete, das empfinde ich als eine Art Schutz. Aber das ist nicht mein Beruf, nur eine Begleiterscheinung davon. In meiner Arbeit geht es eher darum, das Innere nach außen zu tragen, die Seele preiszugeben und dabei eben nicht darüber nachzudenken, wie ich aussehe.

Jana Clevé
Ihre Familie stammt aus Russland – und hat sich an Weihnachtsritualen versucht. Was nicht immer gelang, wie Schüle im Interview erzählt

Ich fühle mich weiblicher denn je

Für die Rolle der Julie mussten Sie Ihr Aussehen radikal verändern – und sich vor der Kamera die Haare abrasieren.

In den Monaten davor dachte ich: Oje, wie wird das sein? Aber dann war es ein Befreiungsakt. Ich kann das jeder Frau nur empfehlen. Nicht nur, weil ich morgens schneller im Bad fertig bin. Sondern weil ich mehr über mich und meine Weiblichkeit verstanden habe: Ich brauche keine langen Haare, um mich als Frau zu fühlen. Ich fühle mich weiblicher denn je. Vielleicht habe ich mit dieser Szene das Mädchen hinter mir gelassen und bin vor der Kamera zur Frau geworden. Wenn ich alte Fotos von mir sehe, frage ich mich jetzt, was da bloß auf meinem Kopf hängt. Deswegen trage ich die Frisur auch weiter.

Im Film entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Julie und einem kleinen Nachbarsmädchen. Eines Tages fragt das Kind das Model: Warum schminkst du dich?

Und ihre Antwort ist: Das macht man halt so. Wir Frauen stecken in einem System fest, in dem uns ein ungesundes Körperbild vorgelebt und von klein auf eingetrichtert wird, dass wir an uns arbeiten und uns verbessern und verschönern müssen. Irgendwann halten wir das für unsere eigene innere Stimme.

 Julie kämpft im Film mit ihrem Körper, und als sie plötzlich in eine Vorbildfunktion für das Nachbarsmädchen rutscht, fängt sie an, sich und ihr gelerntes Verhalten zu hinterfragen.

Spürten Sie von früh an einen Schönheitsdruck?

Als Jugendliche habe ich mich gefühlt wie ein hässliches Entlein. Ich bin klein, ich habe keine 90-60-90-Maße. Ich fühlte mich minderwertig, weil ich nicht aussah wie die Frauen auf den Magazintiteln. Heute gibt es zwar auch andere Botschaften – sei du selbst! – oder Werbekampagnen, die Falten oder das Alter feiern, aber gleichzeitig hat fast jedes junge Mädchen Instagram oder eine App, mit der du in fünf Sekunden dünner aussehen kannst, als du bist. Der Druck ist nicht weniger geworden.

Was hat Ihnen damals geholfen?

Ich konnte mein Selbstwertgefühl früh über die Schauspielerei beziehen. Die gab mir Mut und Sicherheit. Durch die Arbeit habe ich auch verstanden, dass vor jeder Filmaufnahme deine Locken neu gerichtet werden. Dass alles eine große Illusion ist. Trotzdem war ich geschockt, als ich mein erstes Shooting für ein großes Magazin hatte. Ich kam aufs Cover, der Anlass war ein Film mit mir, der in den Kinos lief. Ich sah, wie viel an meinem Körper nachträglich verändert wurde, ohne dass ich gefragt wurde. Hier ein bisschen mehr, da ein bisschen weniger. Ich fühlte mich ohnmächtig. Der Fotograf sagte, so wünsche es das Magazin, das Magazin sagte, so wünsche es der Markt – und ich wollte natürlich, dass unser Film durch mich auf der Titelseite auftaucht. Ein Teufelskreis. Ich denke, heute geht es in der Filmbranche nicht mehr so oberflächlich zu. Aber seien wir ehrlich: Den menschlichen Körper gibt es in so vielen Formen und Facetten, auf der Kinoleinwand spiegelt sich das jedoch nicht wider. Es gibt auch viel mehr Hautfarben und Geschlechterrollen und Lebensmodelle. Nur ein Beispiel: Wie viele mehrgewichtige Schauspielerinnen in Hauptrollen kennt man denn?

Jana Clevé
Schüles „Beef?“ Eher ein Nussbraten, seit sie sich vergan ernährt. Dieses Foto entstand im Lokal „The Butcher“

In „Wunderschön“ gibt es eine solche Hauptrolle. Dilara Aylin Ziem spielt die Schülerin Leyla, die darunter leidet, dass sie genau das ist: mehrgewichtig.

Dabei ist das Gewicht für Leyla nur eine Facette auf ihrem Weg zur Selbstakzeptanz. Vor allem hat ihre Mutter ein Problem damit. Damit wir nicht mehr in Kategorien wie „dick“ oder „dünn“ denken, braucht es mehr Figuren wie Leyla. Wir müssen über Frauenbilder in Filmen reden. Aufgrund der #MeToo-Bewegung habe ich auf meine bisherigen Rollen geguckt und erschreckt festgestellt, wie viele davon sich um Männer drehen oder dazu da sind, Männerfiguren glänzen zu lassen. Das finde ich toll an Julie – sie ist eine eigenständige Figur, sie kreist um sich, nicht um irgendeinen Typen.

Es gab eine Phase, in der ich ausgegrenzt wurde

Gibt es seit #MeToo mehr solcher Rollen?

Es tut sich etwas. Aber je älter ich werde, desto bewusster wird mir, wie viel mehr interessante Rollen es für Männer gibt. Nicht nur, weil die alten Literaten wie Hesse oder Thomas Mann mehr männliche Vorlagen geliefert haben. Auch in den neuen Drehbüchern wird vor allem an Männer gedacht. Weil sie meistens von Männern geschrieben werden. Es muss noch viel passieren. Auch bei der Bezahlung. Letztens habe ich gehört: Wenn es im bisherigen Tempo weitergeht, erreichen wir erst in 80 Jahren eine gleichwertige Bezahlung von Frauen und Männern.

Könnten Sie sich vorstellen, denselben Weg wie Herfurth zu gehen und neben der Schauspielerei auch Regie zu führen?

Vielleicht bin ich zu emotional für das Regieführen. Oft fehlen hierzulande die Mittel, einen Film so zu machen, wie man ihn machen will. Das wären mir zu viele Kompromisse. Ich glaube, ich wäre eine bessere Produzentin. Da musst du auch kreativ sein, bist aber nicht so nah dran am Geschehen. Außerdem bin ich gut im Organisieren.

In der Corona-Pause habe ich endlich Russisch gelernt

In diesem Jahr hat sich unser aller Leben wegen der Corona-Pandemie unerwartet und schnell verändert. Wie würden Sie Ihr persönliches 2020 beschreiben?

Ich bin privilegiert, war nicht existenzbedroht, habe keine Kinder. Und doch hat mir das kreative Arbeiten, die Auseinandersetzung mit Kollegen und neuen Stoffen gefehlt.

Wie haben Sie diese Lücke gefüllt?

Mit Dingen, die ich schon lange machen wollte: Ich habe Klavierunterricht genommen und Gitarre gespielt. Ich habe begonnen, von zu Hause aus Französisch zu lernen und Russisch, die Muttersprache meiner Eltern, die ich immer nur halb beherrscht habe. Und ich bin vegan geworden und habe angefangen, exzessiv zu kochen, das hat mir Struktur und Halt gegeben. Die kleinen Ausflüge zum Einkaufen waren plötzlich wichtig. Ich habe Rezepte gelernt und viel vom Blog Deliciously Ella ausprobiert. Bei Ellas ­Ideen ist jeder Geschmack dabei, und man fragt sich: Warum habe ich je mit tierischen Produkten gekocht?

Jana Clevé
Emilia Schüle ist Mitgründerin eines Vereins, der auf die Gefahren von Social-Media aufmerksam macht

Hatten Sie schon länger vor, Ihre Ernährung umzustellen?

Meinen Fleischkonsum hatte ich ­bereits reduziert, wegen meines ökologischen Fußabdrucks. Während der ersten Corona-Zeit habe ich an zwei Abenden vier Dokumentationen über Massentierhaltung geschaut, die erklären, wie der Konsum tierischer Produkte mit unserer Gesundheit zusammenhängt. Danach ist man automatisch vegan. Ähnlich wie mit den abrasierten Haaren war das ein Erwachen.

Als Botschafterin des Kinderhilfswerks Plan sind Sie unter anderem auf die Philippinen gereist, um auf die Folgen des Klimawandels für die Menschen dort aufmerksam zu machen. Durch die Pandemie ist unser Leben zum Stillstand gekommen. Manche hoffen, dass darin eine Chance liegt, künftig manches besser zu machen. Weniger fliegen, bewusster konsumieren. Hoffen Sie das auch?

Wir steckten schon vor Corona in einer existenziellen Krise, der Klimakrise. Da hat leider kaum ein Politiker reagiert oder langfristig gedacht. Mein Optimismus ist deswegen nicht so groß. Wir sehen auch in Bezug auf Corona, dass mit zweierlei Maß gemessen wird. Im Flugzeug werden die Leute längst wieder dicht nebeneinander platziert, viele Theater sind dagegen spärlich bestuhlt oder geschlossen, Konzerte finden nicht statt. 
Ich habe Angst, dass Corona der Todesstoß für das Kino ist, das es davor schon nicht leicht hatte, nicht zuletzt wegen der Streamingdienste. Jetzt hatten die Kinos eine Weile geöffnet, aber ich kenne viele Leute, die noch nicht wieder reingegangen sind. Kino ist ein wichtiges Kulturgut, etwas, das unseren Blick auf das Leben verändern kann. Das muss bleiben!

Wie schaffen Sie es, sich nicht entmutigen zu lassen?

Indem ich versuche, Probleme anzupacken, wenigstens im Kleinen. Gerade bin ich dabei, mit anderen einen Verein gegen Cybermobbing zu gründen, wir wollen mit einer Aufklärungskampagne auf die Gefahren von Social Media aufmerksam machen. In meinem Leben gab es auch eine Phase, in der ich in der Schule ausgegrenzt wurde, was eine softe Form des Mobbings ist. Zwei Monate lang haben die Mädchen aus meiner Klasse nicht mit mir geredet. Das war hart. Erst als ein engagierter Lehrer uns zwang, die Sache zu besprechen, und klar wurde, dass es kein nachvollziehbares Problem mit mir gibt, hörte das auf. Danach wurden wir sogar Freundinnen. Oft ist Langeweile der Grund für Mobbing. Heute sind Jugendliche noch mehr in Gefahr, zur Zielscheibe zu werden. Apps wie Instagram sind dafür gemacht, uns süchtig zu machen. Sie verstärken die gefährlichen Schönheitsideale in unserer Gesellschaft.

Jana Clevé
Kraftakt: Schüle nahm als Kind Tanzunterricht, hier beturnt sie die Flure des „Sir Savigny“ in Berlin

Sie haben auf Instagram 230 000 Follower, verbringen Sie selbst auch zu viel Zeit dort?

Ich mache seit zwei Jahren regelmäßig digitalen Detox und halte mich für mindestens zwei Wochen am Stück fern von allen Social-Media-Plattformen. Dann merke ich, wie wenig mir diese Apps geben, in denen ich täglich rumhänge und die ein unrealistisches Bild von uns allen vermitteln.

Jana Clevé
Neue Rollenbilder: Schüle findet, es würden zu viele Drehbücher von Männern für Männer geschrieben

Vor ein paar Jahren sind Sie an Ihren Geburtsort gereist, nach Blagoweschtschensk im tiefsten Sibirien, an der Grenze zu China. Was haben Sie auf der Reise über sich gelernt?

Ich habe die Antwort auf die ewige Frage gefunden, was meine Heimat ist. Nämlich Berlin, genauer: der Ostteil von Berlin, aber eben nicht nur Berlin – und das ist toll. Ich bin als Kleinkind aus Russland fort. Kinder wie ich, die in einem anderen Kulturkreis aufwachsen als die Eltern, haben oft ein Schamgefühl, mit dem sie groß werden, weil wir zwischen allen Stühlen sitzen. Ich konnte die Sprache meiner Eltern nicht. Die sagten mir, wenn sie sauer waren: Sei nicht so deutsch! Ich wusste nie, was ich sagen sollte: Bin ich deutsch? Russisch? Als ich mit der Transsibirischen Eisenbahn in meine Vergangenheit fuhr, fühlte ich mich auf einmal heimisch, obwohl alles fremd war. Die Reise hat mir geholfen, diesen Teil meiner Identität besser anzunehmen. Und auch die Unterschiede zwischen mir und meiner Mutter zu umarmen.

Zum Beispiel?

Na ja, für meine Mama war es echt schwer, dass ihre Tochter keine langen Haare mehr hat. Ich glaube, die alten sowjetischen Weiblichkeitsklischees sind noch ein bisschen stärker verankert als die deutschen. Sie findet mich einfach schöner mit langen Haaren und sieht mich am liebsten in richtig romantischen Rollen. (lacht)

Eine Schüle, viele Schulen

Geboren am 28. November 1992 in Blagoweschtschensk, Russland. Als kleines Mädchen zog sie mit ihrer älteren Schwester und ihren Eltern, einer Internistin und einem Psychologen, in einen Plattenbau in Berlin-Schönefeld. Später wohnte die Familie am Berliner Stadtrand, in Mahlsdorf. 

Mit sieben Jahren begann Schüle, professionellen Tanzunterricht zu nehmen, Modern Dance und Ballett. Bei einem Talent-Workshop wurde sie für die Schauspielerei entdeckt.

Ihre erste Hauptrolle hatte Schüle mit 13 Jahren im Fernsehfilm „Guten Morgen, Herr Grothe“, auf die Kinoleinwand kam sie 2008 mit dem ersten Film aus der „Freche Mädchen“-Reihe. Weil sie wegen der Arbeit bald so viele Fehltage hatte, suchte die Familie lange nach der richtigen Schule, insgesamt besuchte Schüle fünf verschiedene.

Der Durchbruch: 2012 wurde Schüle für ihre Darstellung der Larissa (siehe Bild) in einer düsteren Doppelfolge des „Tatorts“ gefeiert: In „Wegwerfmädchen“ und „Das goldene Band“ ermittelt Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) gegen ein Netzwerk, das Mädchenhandel betreibt. Schüle erhielt die Goldene Kamera als Nachwuchsschauspielerin.

Als überzeugte Klimaschützerin verkündete Emilia Schüle Anfang 2020, innerhalb Deutschlands „nur noch mit dem Zug“ zu fahren. Zum Beispiel an die Ostsee, sie mag den Darß.

In „Wunderschön“ (Regie: ­Karoline Herfurth) spielt Schüle ein Model, das seinen Körper schindet. Der Film startete im Dezember 2020.

 

Dieses Interview erschien erstmals in DB MOBIL 12/2020. 

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