„Wir haben die größten Freiheiten“

Mit Tieren und Sensationen hat der Zeitgenössische Zirkus nichts am Hut. Dafür mit Tanz und Akrobatik. Jenny Patschovsky (43) will die Kunstform fördern – und beschreibt in DB MOBIL, was das junge Genre so spannend macht

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Datum: 08.02.2024
Lesezeit: 7 Minuten
Wer fliegt denn da? In der Show „Urbantatix Essence“ vermischen sich artistische Darbietungen mit Breakdance, Parkour und Skateboarding
© Eva Berten
Wer fliegt denn da? In der Show „Urbantatix Essence“ vermischen sich artistische Darbietungen mit Breakdance, Parkour und Skateboarding

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Wer Zirkus sagt, denkt meist an eine Manege mit Sägespänen und Elefantenreiten – ist diese Art von Zirkus noch zeitgemäß?

Zirkus ist eine mehr als 250 Jahre alte Kulturform, die sich immer gewandelt hat, doch das weit verbreitete Bild stammt noch aus der Zeit der großen Familien-Zirkusse, die Mitte des 19. Jahrhunderts vorherrschend waren und auch heute noch ihren Reiz ausüben. Man denkt an Clowns und einen Zirkusdirektor, Paillettenkostüme, Salti an fliegenden Trapezen und Tieren in der Manege.

Was immer wieder zu Diskussionen um das Tierwohl führt …

Ja, darunter hat das Image des Zirkus zuletzt gelitten. Deshalb nehmen heute auch traditionelle Zirkusunternehmen sehr selten Tiere ins Programm. Doch neben dieser eher nostalgischen Spielart hat sich parallel eine andere Form entwickelt, die wenig gemeinsam hat mit dem klassischen Nummernprogramm und dem Fokus auf spektakuläre Tricks. Das ist der Zeitgenössische Zirkus, wie man ihn in Deutschland auf Veranstaltungen wie dem „ATOLL“-Festival in Karlsruhe, dem „Berlin Circus Festival“ oder dem „Circus Dance Festival“ in Köln erleben kann.

© Lily Schlinker
Artistin und Aktivistin: Mit einem Interessenverband möchte Jenny Patschovsky dem Zeitgenössischen Zirkus zu mehr Aufmerksamkeit verhelfen

Was verstehen Sie unter Zeitgenössischem Zirkus?

Es ist eine Kunstform, in der mehrere Disziplinen zusammenfinden. Zum einen das, was viele mit Zirkus verbinden – Akrobatik, Jonglage, Luftartistik am Trapez und Objektmanipulation, also die Kunst, Objekte mit und um den eigenen Körper zu bewegen. Diese Ausdrucksformen vereinen sich mit anderen Genres wie Tanz oder Theater zu einer Gesamtperformance. In den Stücken geht es nicht mehr um einzelne Nummern, in denen spektakuläre Tricks vorgeführt werden; es gibt oft eine durchgehende Choreografie wie beim Tanztheater, ein übergeordnetes Thema oder eine besondere Ästhetik, der sich die anderen Teile unterordnen.

Und worin liegt der entscheidende Unterschied zum Tanz?

Beim Zeitgenössischen Zirkus kommen artistische Ausdrucksformen ins Spiel. Ob Jongleur:innen oder Trapezkünstler:innen, allen gemeinsam ist ein extremer Körpereinsatz, der die Zuschauer:innen fesselt, denn die körperliche Spannung überträgt sich von der Bühne ganz unmittelbar aufs Publikum.

Ist man in Deutschland zum ersten Mal durch die aufwendigen Inszenierungen der kanadischen Kompanie Cirque du Soleil auf die neue Art des Zirkus aufmerksam geworden?

Diese Shows haben ganz sicher den Blick auf den Zirkus verändert. Tatsächlich gab es frühere Vorläufer. Roncalli hat mit dem poetischen Zirkus schon in den 80er-Jahren neue Akzente gesetzt, parallel zeigte der Zirkus Gosh neue Wege auf, indem er Artistik mit Rockmusik und Slapstick-Einlagen kombinierte. Doch anders als in den Nachbarländern Frankreich, Belgien oder den Niederlanden blieb die Szene in Deutschland lange Zeit unsichtbar und nicht anerkannt. Das war der Grund, warum ich 2011 zusammen mit Artist:innen eine Initiative gründete, aus der 2019 der Bundesverband Zeitgenössischer Zirkus hervorging. Wir wollen die Sichtbarkeit der Kunstform erhöhen, ihre Potenziale aufzeigen und darüber Kompanien und die ganze Szene fördern.

© Stephan Glagla
Freies Spiel: In dem Stück „Blueprint“ bewegt sich Artistin Mijin Kim mit verschiedenen Objekten, hier etwa ein Turnbock

Und was ist Ihre Disziplin?

Das ist die Luftartistik – Abfaller und Figuren am Trapez. Vor drei Jahren habe ich zusammen mit Kolleginnen ein Stück am schwingenden Trapez entwickelt, das „Fallhöhen“ heißt.

Klingt gefährlich …

Da fliegt man schon mal einige Meter über der Bühne, deshalb braucht man auch eine Sicherungslonge. In der Aufführung geht es um das Wechselspiel zwischen mir und der Person, die mich sichert, um die Beziehung zwischen Freiheit und Sicherheit. Auch solche Themen können mit dem Zeitgenössischen Zirkus umgesetzt werden, allerdings auf einem abstrakten Niveau.

Was hat Sie zur Aktivistin für den Zirkus gemacht?

Als Artistin habe ich gesehen, dass unsere Kunstform kaum wahrgenommen wird, das wollte ich mit der Gründung eines Verbands ändern.

© Jona Harnischmacher
Hammerstark: In der „Sawdust Symphony“ jonglieren und spielen Artisten mit Werkzeugen auf der Bühne

Was hat Ihr Engagement bisher bewirkt?

Es gibt heute mehr Artist:innen in Deutschland. Wir haben in fünf Jahren 200 Mitglieder gewonnen. Gleichzeitig wächst die Zahl der Festivals für Zeitgenössischen Zirkus überall im Land, zudem nehmen auch große Institutionen wie die Berliner Festspiele oder die Ruhrfestspiele Recklinghausen unsere Kunstform ins Programm. Inzwischen gibt es auch öffentliche Förderungen für die Künstler:innen. Leider müssen die jungen Talente noch immer ins Ausland gehen, um dort eine zeitgenössische Ausbildung zu absolvieren. Unser großes Ziel ist es, die Gründung einer Schule für zeitgenössische Zirkuskunst in Deutschland zu unterstützen. Das wäre auch deshalb wichtig, weil uns zunehmend der Nachwuchs fehlt.

Wird Zeitgenössischer Zirkus aus Deutschland auch international wahrgenommen?

Auf jeden Fall. Die Berliner Kompanie „Still Hungry“ hat beim international renommierten Edinburgh Festival Fringe drei Preise gewonnen. Auch Overhead Project aus Köln tritt viel im Ausland auf. Wir sind endlich auf der Zirkus-Landkarte vertreten.

Warum halten Sie den Zeitgenössischen Zirkus für gesellschaftlich relevant?  

Im Allgemeinen präsentiert sich der Zeitgenössische Zirkus sehr nahbar, man muss weder einen klassischen Theaterstoff kennen noch andere Vorbildungen mitbringen. Jede:r ist willkommen und kann Zugang zu den Inszenierungen finden. Ich glaube, durch die starke körperliche Präsenz der Artist:innen entsteht ein großes Gemeinschaftsgefühl mit dem Publikum, darin allein liegt ein großer Wert. In Stücken von Overhead Project geht es viel um das Thema Macht und Machtverhältnisse, die über Anordnungen von Personen dargestellt werden. Wer trägt wen, wer wird von wem getragen? Beziehungen zwischen Menschen können in extremer Partnerakrobatik unmittelbarer zum Ausdruck kommen als in einem Dialog mit Sprache. Wobei auch gesprochen werden kann. Wir haben die größte Freiheit.

Hier wird ordentlich Zirkus gemacht

Expertin Jenny Patschovsky empfiehlt diese spannenden Performances für 2024.

Paartanz ganz anders  
Mit dem Stück „Blueprint“ zeigt die Kölner Kompanie Overhead Project, wie nah moderner Zirkus heute dem Tanz kommt, und wie sehr er doch durch artistische Ausdrucksformen eine ganz eigene Welt erschafft. Die Paar-Akrobatik zweier Künstler:innen beeindruckt mit extremen und überraschenden Bewegungsformen. Zu sehen vom 8. bis 10. März im Lofft – Das Theater in Leipzig und am 15. März in der Außenspielstätte TanzFraktur in Köln.

Wilde Performance
URBANATIX Essence“ heißt eine Show, die in dieser Form einmalig ist. Hervorgegangen aus einem Begegnungsprojekt von Streetart-Künstler:innen verbinden hier junge Artist:innen Tanz und luftige Stunts, Parkour, Biken und eine Videoperformance zu einem mitreißenden Spektakel. Mit Auftritten bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen im Mai.

Magisches Handwerk
Hämmer fliegen durch die Luft, Nägel springen aus den Planken, Sägeblätter werden balanciert – in der „Sägemehl Symphonie“ („Sawdust Symphony“) zeigt ein deutsch-österreichisches Artisten-Trio, wie virtuos man schnöde Werkzeuge in eine Performance mit Raffinesse und Spezialeffekten einbinden kann. Zurzeit eine der angesagtesten Gruppen des Zeitgenössischen Zirkus. Zu sehen beim „CircusDanceFestival“ (16. bis 20. Mai) in Köln.

Großes Come-together
Das gesamte Spektrum des Zeitgenössischen Zirkus zeigt das internationale Festival „Zeit für Zirkus“ mit Aufführungen in 12 deutschen Städten. (15. bis 17. November).

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