100 Prozent Kursgewinn

Zu Hause durch New York laufen, vor dem Bildschirm über den Atlantik surfen – neue Fitnessgeräte verwandeln Wohnzimmer in digitale Workoutzonen mit Hunderten von Kursen und Spielen, die eins versprechen: viel Spaß beim Schwitzen

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Illustration: ivector / Adobe Stock

Wenn Estefania Santi abends vor den Spiegel tritt, sieht sie zunächst sich selbst. Doch sobald sie die zwei Meter hohe Spiegelsäule mit einem Fingerdruck aktiviert, verwandelt diese sich in ein Display. Darauf erscheint, pünktlich zum Kursbeginn, Santis Trainer Chris und begrüßt sie. Wenig später führt Santi einige Übungen aus und wird dabei hin und wieder von Chris angefeuert: „Noch drei, zwei, eins – fertig!“ Verschwitzt und zufrieden schaltet die 33-Jährige das Gerät des deutschen Herstellers Vaha nach einer halben Stunde wieder aus.

„Für mich ist das optimal, so zu trainieren“, sagt die Fremdsprachenkorrespondentin aus Hamburg. „Ich muss nicht erst irgendwohin fahren, ich kann nach dem Job gleich loslegen.“ Früher ist sie regelmäßig in ein Fitnessstudio gegangen, doch früher, das ist lange her.

Seit die Pandemie die Klubs vor einem Jahr in Quarantäne zwang, haben viele Fitnessfans Alternativen gesucht und ihre Wohnungen zu Home Gyms aufgerüstet. Hanteln waren im Handel eine Zeitlang vergriffen. Der Umbruch ging aber vor allem von Geräten und Apps aus, mit denen man sich auf kleinem Raum mit der Fitnesswelt vernetzen kann. Zu Hause auf einem Spinningrad mit einer Onlinegruppe schwitzen, auf einem Rudergerät mit Spezialbrille den Hudson River durchqueren, sich von einem Spiegel Übungen zeigen lassen – die Liaison von Sport und digitalen Welten hat Fitness zu einem neuen Erlebnis gemacht.

Der Fitnessbereich war lange Zeit ein Refugium der analogen Welt, in der Menschen an einem bestimmten Ort trainierten. Das bricht gerade auf. Die spielerischen Elemente durch digitale und virtuelle Techniken erlauben ganz andere Formen des Sports.

Sportsoziologe Robert Gugutzer

„Virtuell“ und „connected“ sind die Treiber der Entwicklungen, die nun die Haushalte erobern. Vom vernetzten Rudergerät bis zum 3-D-Boxring: Die Virtual ­Reality, kurz VR, die bisher nur Spiele-Nerds begeisterte, zieht immer weitere Kreise. Aus Sicht des Sportsoziologen Robert Gugutzer, der an der Universität Frankfurt am Main Trends erforscht, habe die Digitalisierung den Fitnessbereich spät erfasst. „Er war lange Zeit ein Refugium der analogen Welt, in der Menschen an einem bestimmten Ort trainierten. Das bricht gerade auf. Die spielerischen Elemente durch digitale und virtuelle Techniken erlauben ganz andere Formen des Sports.“

So wie der Spiegel von Vaha, der nach dem Einschalten vom sportlichen Intervalltraining bis zur Schwangerschaftsgymnastik 100 Live- und weitere 2000 aufgezeichnete Kurse bereitstellt. „Fight-Club“ mit Yvonne oder lieber „Fat-Burn“ mit Ben? Santi ist immer wieder begeistert davon, dass echte Trainer:innen via Display ihre Übungen überwachen, loben und korrigieren, ganz wie in einem analogen Fitnessstudio. Der smarte Spiegel hat allerdings seinen Preis: Er kostet knapp 2300 Euro.
 
Das Geschäftsmodell von Vaha basiert auf dem Verkauf von Geräten, kombiniert mit einer Monatsgebühr für die Teilnahme an Kursen. So wie bei Peloton. Der US-Hersteller ist mit seinen Spinningrädern und Laufbändern der börsen­notierte Star der Heimfitness-Industrie. Nach dem Start 2019 stieg die Zahl der Abonnent:innen mit Ausbruch der Coronakrise 2020 richtig an: Sie wuchs von weltweit rund drei auf mehr als 6,2 Mil­lionen im vergangenen Jahr. Im gleichen Zeitraum steigerte Vaha seine Mitgliederzahl um mehr als 100 Prozent auf 10000.

Von der großen Lust auf Wohnzimmersport profitiert auch Freeletics (53 Millionen Mitglieder), deren App mithilfe von Computerberechnungen individuelle Trainingspläne erstellt. Vorteil: Die Kosten für eine:n Trainer:in entfallen, da die App auch registriert, ob man seine Übungen gemacht hat, und Feedback in Form von Punkten gibt. Ein Spezialgebiet von Freeletics ist das Hanteltraining, was bekanntlich mehr mit Quälerei als mit Spaß verbunden ist. Also überlegten sich die Freeletics-Macher:innen, wie man die schnöden Übungseinheiten in ein Spiel verwandeln kann.

Das Ergebnis ist „Staedium“, ein System aus Konsole, Videokamera, Bank und vernetzten Hanteln, mit dem Kursteilnehmer:innen gegeneinander zum Gewichtheben antreten können. Im Spiel „Keep Going“, das im Frühjahr auf den Markt kommt, sieht man am Monitor Punktestand und Position im Vergleich zu seinen Konkurrent:innen und rückt nach jeder Übung auf einem virtuellen Spielfeld vor – wie Figuren auf einem Spielbrett.

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Nie war Fitness spannender. Was Geräte- und App-Entwickler:innen besonders elektrisiert, sind die Möglichkeiten zur „Gamification“. Es braucht nur eine VR-Brille, schon kann man sich, statt beim Strampeln öde Wände anzustarren, von der Radfahrer-App „Zwift“ durch Metropolen wie Paris lotsen lassen. Vor einem virtuellen Boxkampf in „Creed – Rise to the Glory“ bietet der Filmheld Rocky Nachhilfe an. Und in „OhShape“ muss man sich im Zimmer strecken und recken, um die über die Brille eingespielten Körperhaltungen zu imitieren – was von den Spieler:innen einiges an Kraft und Konzentration fordert.

Die Münchner Firma Icaros verleiht mit ihrem Simulator einem alten Menschheitstraum Flügel: Wer sich mit einer VR-Brille auf das gepolsterte Stahlgestell „Icaros Home“ legt und das Programm per Smartphone startet, hat das Gefühl zu fliegen. Mit zwei Steuergriffen lässt sich das Gerät über Verlagerungen des Körpers in verschiedene Richtungen bewegen. Die Übungen, so berauschend sie auch sein mögen, dienen dem Zweck, die Rumpf- und Oberkörpermuskulatur zu stärken.

„Wir möchten aufregende und zugleich effektive Trainingserlebnisse bieten“, sagt Johannes Scholl, Mitgründer von Icaros. 2021 brachte seine Firma die aufblasbare Plattform „Cloud“ heraus, die einem Stand-up-Board ähnelt und viele Bauch-Beine-Po-Übungen ermöglicht. Eine App bietet Anschluss an Onlinekurse, mit einer VR-Brille können Nutzer:innen virtuelle Skirennen fahren oder beim Surfen Müll aus dem Wasser fischen, während sie Kalorien verbrennen.
 
Ist all das der Start in eine schöne neue Fitnesswelt? Fakt ist: Die meisten der Heimtrainer sind teuer und benötigen mehr Platz, als in vielen Haushalten zur Verfügung steht. Zudem stellt sich die Frage, ob einem im Home Gym nicht irgendwann die Decke auf den Kopf fällt und man sich nach der realen Gesellschaft von Schwitzenden sehnt?

Soziologe Gugutzer hält die Vorstellung, man könne nur in einem Studio ein Gemeinschaftsgefühl erleben, für überholt und betont stattdessen die Chancen digitaler Angebote. „Sie bieten mehr Freiheiten, denn ich kann mir online genau die Gemeinschaft suchen, mit der ich meine Erfahrungen teilen möchte. Das kann sehr erfüllend sein.“ Auch Estefania Santi hat mit ihrem vernetzten Spiegel einen Kreis gefunden, mit dem sie sich regelmäßig zum Training trifft. Und wer da nicht erscheint, wird auch schon mal per Facebook-Chat zum Weitermachen animiert.

Dass ihnen die Kund:innen nach Ende der Pandemie wieder davonlaufen, fürchtet die aufstrebende Branche nicht. „Durch die Verbindung zu den Gruppen mit echten Trainer:innen bleibt die Motivation groß weiterzumachen“, sagt etwa Vaha-Gründerin Valerie Bures-Bönström. Um den Eifer ­ihrer Mitglieder weiter anzuheizen, bringen Vaha, Peloton und Icaros dieses Jahr neue Fitnessspiele heraus.
 
Und die Fitnessstudios? Sie geraten weiter unter Zugzwang. 2021 verloren sie bundesweit rund 30 Prozent ihrer Mitglieder. Nur auf das Ende der Pandemie zu hoffen sei zu wenig, ist Ralph Scholz vom Indus­trieverband für Fitness und Gesundheit (DIFG) überzeugt. „Die Studios müssen den Trend zu Spielwelten mitgehen und virtuelle Erlebnisse anbieten.“

Wie das aussieht, ließ sich im vergangenen Jahr auf der Messe „Fitness Connected“ in München beobachten. Dort stellte das Unternehmen Sphery ein Studio als virtuellen Raum vor. Mit Sensoren am Körper bewegten sich die Akteur:innen durch an die Wände projizierte Spielszenen, mussten über Hindernisse springen, sich ducken, hinlegen oder weglaufen. Wer dBilabei zusah, brauchte nicht viel Fantasie, um zu verstehen: Das ist echt anstrengend.

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