Stimme der Tiefsee

Als Chefin des Alfred-Wegener-Instituts kennt sie die Tiefsee wie keine zweite Deutsche: Antje Boetius. Die Biologin entdeckt Berge unter Wasser und erlebt, wie Bakterien mit Schwämmen kommunizieren

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Datum: 08.03.2023
Lesezeit: 10 Minuten
Antje Boetius steht in der Arktis
© Alfred-Wegener-Institut/Esther Horvath
Tiefseeforscherin Antje Boetius in der Arktis

Als Antje Boetius erstmals ihre Netze Tausende Meter hinab in die Tiefsee warf, fing sie keinen Fisch, wie ihre Kommiliton:innen. Auch keine Krebse oder Seesterne. Was sie herausholte, war: „Eine Plastikfolie, eine Cola- und Pepsi-Dose. Da dachte ich: Was habe ich denn für ein Pech. Die anderen fangen tolle Tiefseetiere und ich habe Müll gesammelt.“

Das war im Jahr 1992, damals studierte sie Biologie. Heute sitzt die 56-Jährige in ihrem Büro in Bremerhaven, leitet das Alfred-Wegener-Institut und damit eines der international führenden Zentren für Polar- und Meeresforschung. Im Spätsommer wird sie zu ihrer 50. Expedition aufbrechen. Sie kennt die Tiefsee so gut wie kaum jemand anders. Und so intensiv wie kaum jemand anders erlebt sie, wie Vermüllung und Klimawandel die Tiefsee verändern.

In einer Welt, in die kein Mensch vordringt, außer er bedient sich eines U-Boots oder einer Kamera, sammelt sich unser Plastik. Und bleibt dort liegen – meistens unbemerkt. Gerade mal 0,01 Prozent der Ozeane sind laut Boetius erforscht. Sie vergleicht die Tiefsee gern mit dem Weltall, sie sei wie ein anderer Planet – dabei ist von ihr sogar weniger bekannt. Mit jeder Expedition entdeckt Boetius neue Lebewesen, neue Landschaften. 2016 stieß sie etwa in der Arktis auf einen rund fünf Kilometer hohen Seeberg.

Schon seit Jahren hatten ihr Team und sie vermutet, dass sich in dieser Gegend heiße Quellen befinden. Sie tauchten auf der Suche danach mit Kameras hinab. „Es ist wie eine Glücksdroge: Wenn die Kamera runtergeht und man weiß, man ist jetzt in einer Landschaft, die noch nie ein Mensch gesehen hat. An Bord sind dann nicht nur der Kapitän oder die Wissenschaftler:innen dabei und schauen auf den Bildschirm, sondern da kommt auch mal der Schiffskoch angelaufen und guckt.“

Inmitten der Arktis sahen sie also unverhofft durch die Kameralinse: Seeberge, die sich aus dem Meeresboden erheben. „Auf ihnen sitzen Schwammgärten, sogar Korallen. Wir sind mit dem Kameraschlitten über einen Gipfel gefahren und haben ein so dichtes Leben gefunden, wie man es sonst aus dem Meer nicht kennt: Schwämme, die teilweise Hunderte Jahre alt sind und die kriechen können, Fische, Krebse, fette Seesterne. Da war richtig viel los.“ Boetius erzählt schnell, mit heller Stimme und lacht. Ihre Begeisterung ist spürbar, selbst bei einem Interview über einen Videoanruf. „Und dann fängt man an, dieses Rätsel zu lösen: Wie kann dort, wo es eigentlich keine Energiequelle für Leben gibt, die dichteste Biomasse der Erde sitzen?“

© Alfred-Wegener-Institut/Stefanie Arndt
Eisbrecher: Das Forschungsschiff Polarstern – auf dem auch Boetius bereits unterwegs war – auf einer Expedition in der Arktis im Jahr 2014

Als Kind las Boetius Piratenromane
Die Schwerpunkte von Boetius‘ Tiefseeforschung sind Mikroben, also winzige Lebewesen, die nur unter einem Mikroskop zu erkennen sind, und Landschaften wie die Seeberge. Die Lebewesen dort funktionieren als Netzwerk, erklärt sie: „Es ist keine Nahrungskette, also beispielsweise, dass große Fische die kleinen fressen und die die kleinsten. Es ist ein ganzes Netzwerk von Interaktionen. Viele Tiefseearten haben Kooperationen für das Überleben entwickelt.“ Zum Beispiel wählt ein Schwamm aus, welches Bakterium er aufnimmt, etwa, weil dieses ihm beim Verdauen hilft. Und das Bakterium wiederum erkennt über unbekannte chemische Signale, von welchem Schwamm es gepflegt und nicht gefressen wird. „Das interessiert mich: Wie geht es, dass verschiedene Arten von Tieren zueinanderfinden und miteinander kommunizieren? Wir als Menschen können das ja nicht.“

Bereits in der fünften Klasse schrieb Boetius in einem Schulaufsatz über ihren Berufswunsch, dass sie „zur See fahren und Meeresbiologin werden will“, erzählt sie. Dabei ist sie eigentlich fern der Küste aufgewachsen: in Darmstadt, inmitten von Deutschland, wo das nächste Gewässer der Rhein ist. Das Meer kannte sie aus Campingurlauben in Dänemark; die Tiefsee sowie das Leben auf einem Schiff aus Büchern und Filmen. „Mit zwölf hatte ich alle Piratenromane durchgelesen, die es gibt. Mir war aber klar, dass Pirat kein richtiges Berufsbild ist.“ Im Fernsehen sah sie Dokumentationen der Meeresforscher:innen Hans und Lotte Hass und Jacques-Yves Cousteau – und war fortan begeistert: „Ich hätte alles gemacht, nur damit ich mal auf einem Forschungsschiff oder überhaupt auf einem Schiff fahren kann.“

Matrosen fragten: „Was will die denn hier? Einen Mann finden?“
Also folgte ein Biologiestudium in Hamburg, ihre erste Nordsee-Expedition als wissenschaftliche Hilfskraft, dann eine Fahrt mit dem großen Forschungsschiff Meteor von Island nach Galway. Mit 21 Jahren trat Boetius eine Assistenzstelle an der Scripps Institution of Oceanography in San Diego an, danach schrieb sie ihre Doktorarbeit, promovierte. Seit 2017 leitet sie das Alfred-Wegener-Institut mit 1400 Mitarbeiter:innen, außerdem eine Arbeitsgruppe am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie und im Spätsommer wird sie eine internationale Arktisexpedition anführen. Lange Zeit war sie dabei als Frau eine Ausnahme.

Matrosen sagten auf einer ihrer ersten Fahrten in den 1990er-Jahren: „Was will die denn hier? Einen Mann finden?“ Sie fand das „merkwürdig“, sagt sie, und dass sie manchmal darüber lachen musste. Dass hinter solch plumpen Sprüchen eine ernsthafte Chancenungleichheit steckt, wurde ihr erst bewusst, als ihre Karriere voranschritt – zum Beispiel, als sie als einzige Frau in Gremien saß. „Ich bin mit sehr starken Frauen um mich herum aufgewachsen: Meine Großmütter haben ihre Kinder im Krieg allein großgezogen. Meine Eltern haben sich sehr früh getrennt, sodass meine Mutter uns drei Kinder ebenfalls allein aufgezogen hat. Dass es fundamentale Unterschiede in den Chancen von Männern und Frauen im Berufsleben gibt, war mir lange Zeit nicht bewusst.“

Wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff kriegen, bedeutet es insgesamt einen gigantischen Artenverlust in den Meeren

Antje Boetius

Nicht nur innerhalb der Wissenschaft muss Boetius sich als Frau beweisen, sondern in der gesamten Gesellschaft. Manchmal erhalte sie Beleidigungen oder gar Hassbriefe, sagt sie: „Wenn Interviews zur Klimakrise erscheinen, schreiben Männer Sachen wie: ,Sie haben keine Ahnung, sie sind ja eine Frau und können keine Physik“. Solche Zuschriften ignoriert sie, Drohbriefe hat sie bereits zur Polizei gebracht. Sie betont, dass sie generell allerdings viel Lob und Zuspruch bekomme und oft neugierige Nachfragen zu ihrer Forschung. Sie konzentriert sich deshalb darauf, wissenschaftliche Fakten klar zu benennen – und für Lösungen im Klima- und Ozeanschutz zu werben. Durch Vorträge, Beratung von Politik und Wirtschaft, Besuche an Schulen, Pressearbeit, das Lehren an der Universität Bremen, aber auch mit Auftritten auf Festivals, um möglichst viele Menschen zu erreichen.

„Anwältin der Meere“ nennen manche Journalist:innen sie, eine Bezeichnung, die sie selbst jedoch unpassend findet: „Als Anwalt klärt man Rechtsfragen. Für den Großteil des Lebens und der Natur gibt es aber gar kein Recht, zum Beispiel auf Existenz. Ich versuche, dem Unsichtbaren, Unbekannten auf der Erde überhaupt erst mal eine Stimme, eine Präsenz zu geben.“

Taucht man hinab in die Tiefsee, wird es dunkler und dunkler, bis es ab etwa 500 Metern stockfinster ist. Da kein Sonnenlicht herabreicht, wachsen keine Pflanzen, sagt Boetius. „Die Lebewesen leben von dem, was von oben herabsinkt, etwa Algenreste. Wenn nun durch die Klimakrise in der Arktis das Eis schmilzt, wachsen an der Oberfläche andere Algen, Pflanzen und andere Tiere siedeln sich an. Dementsprechend kommt unten auch etwas anderes als Nahrung an. Dadurch verändern sich in Folge auch die Tiefsee und ihre Lebewesen.“ Zum Beispiel konnte sie in der Arktis bestimmte Seegurken beobachten, die die neue Nahrung nutzen. Dafür verschwinden allerdings andere Arten. Boetius sagt: „Wenn wir die Klimakrise nicht in den Griff kriegen, bedeutet es insgesamt einen gigantischen Artenverlust in den Meeren.“

© Alfred-Wegener-Institut/Mario Hoppmann
Ewiges Eis? Auch, wenn es unendlich wirkt: Durch den Klimawandel schmilzt das Eis der Arktis

Kampf gegen den Klimawandel
Noch ist Boetius überzeugt, dass wir die Folgen des Klimawandels eingrenzen können: „Mein Optimismus liegt darin begründet, dass unsere Geschichte zeigt: Wir Menschen sind in der Lage, Wissen zu nutzen, um mit der Natur zu kooperieren, anstatt sie zu zerstören.“ So kann jede:r Einzelne ihr beziehungsweise sein Verhalten anpassen, etwa sich öfter vegetarisch ernähren oder weniger fliegen. Doch laut Boetius reiche das nicht aus. Für den größten Anteil sieht sie die Politik in der Verantwortung, neue Richtlinien für individuelles und kollektives Handeln zu setzen: „Wir brauchen einen Rahmen, in dem es einfacher wird, klima- und ozeanfreundlich zu leben. Aktuell ist es umgekehrt: Wenn man klima- und umweltschützend lebt, muss man mehr Geld ausgeben und sich viele Gedanken machen, aber wenn man zerstörerisch lebt, ist es einfach und billig. So kommen wir nicht voran.“

Im August 2023 möchte Boetius zu einer Stelle am Nordpol aufbrechen, die sie schon 1992 und 2012 mit dem Schiff Polarstern besucht hat. 1992 war das Eis dort noch drei bis vier Meter dick, 2012 nur noch einen halben Meter. Durch Satellitenbeobachtung weiß sie, dass es heute in der Fläche noch mehr geschrumpft ist. Während der Expedition möchte sie die genaue Dicke messen und herausfinden, was mit dem Leben im Eis und in der Tiefsee passiert. „2012 sind durch die massive Schmelze viele Meereisbewohner abgestorben und in die Tiefsee abgesunken. Wir wollen schauen, ob das einen Einfluss auf das Leben in der Tiefsee hat. Es könnten sich beispielsweise auch Lebewesen aus dem Atlantik angesiedelt haben.“ Es wird ihre 50. große Expedition sein – mit Jubiläumsfeier an Bord.

Tipps für einen Meeresurlaub in Deutschland

Boetius’ Geheimorte

Fischland Darß
„Weil ich beruflich so viel unterwegs bin, fliege ich im Urlaub selten weg. Stattdessen bleibe ich gern in der Nähe. Im Sommer zelte ich am liebsten an der deutschen Ostsee, zum Beispiel beim Ort Prerow.“

Die Urlaubsregion ist mit der Bahn gut aus den Richtungen Hamburg, Rostock, Stralsund und Berlin erreichbar. Von den Bahnhöfen Ribnitz-Damgarten und Barth verkehren regelmäßig Busse in die Orte der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst. Die Busse führen in der Hauptsaison Fahrradanhänger mit sich.

Nordfriesische Inseln
„Entfernte Verwandtschaft von mir lebt auf den friesischen Inseln, deshalb sind die für mich auch ein Zuhause: Föhr, Amrum und Sylt.“

Die DB bringt Sie mit einem Ticket bis auf die Nordseeinseln. Nach Sylt sogar direkt, die Bahnstrecke führt über den Hindenburgdamm bis nach Westerland. Die übrigen Inseln erreichen Sie per Schiffsverbindung, die im DB-Ticket inbegriffen ist.

 

Besuche des Alfred-Wegener-Instituts

Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung
Teils monatelange Expeditionen in die Arktis, Antarktis und gemäßigten Breiten unternehmen die Forscher:innen des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), um das Meer, die Lebewesen und Natur zu verstehen – und setzen damit international Impulse. Ein Schwerpunkt dabei ist, wie der Klimawandel die Ozeane und die Polargebiete verändert. In Deutschland hat das AWI insgesamt fünf Standorte. An manchen von ihnen erhalten Interessierte auf Führungen Einblicke in die Forschung und dahinterstehende Infrastruktur.

Bremerhaven: Institut & Zentrum für Aquakulturforschung 
Wie forschen und organisieren sich die über 900 Wissenschaftler:innen am Standort Bremerhaven? Auf einer Institutsführung erfahren Interessierte Hintergründe dazu; die Termine werden auf der Website veröffentlicht. Außerdem befindet sich in Bremerhaven das Zentrum für Aquakulturforschung (ZAF). In Aquarien und Bottichen werden Fische, Muscheln, Krebse und Algen gezogen und erforscht. Wie das funktioniert und welche technischen Systeme es erfordert, erfährt man auf einer weiteren, speziellen Führung. 

List: Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt
Eine Forschungsstation des AWI befindet sich in List und im Wattenmeer. Wie die Meeresbiolog:innen hier arbeiten, erlebt man von Mai bis Oktober während einer Führung, die das Erlebniszentrum Naturgewalten Sylt veranstaltet (buchbar über die Website). Das restliche Jahr über kann man in Ausstellungen und in einem Kino mehr über Sylt, seine Küste und Tierwelt erfahren.
Das Erlebniszentrum ist allein schon einen Abstecher nach List wert – umso mehr, als man einen kurzen Spaziergang entfernt das Watt auch schmecken kann: im „Sylter Royal“, wo das einzige Austernzucht-Unternehmen Deutschlands seine Spezialitäten im eigenen Restaurant anbietet. Lesen Sie in der DB MOBIL-Reportage, wie dieses Naturprodukt kultiviert wird.

Vorträge, Tag der offenen Tür und mehr
Ausstellungen zu Arktis-Expeditionen, Vorträge zum Klimawandel, einen Tag der offenen Tür des AWI-Standorts in Potsdam (am 17. Juni 2023) und weitere Termine, an denen das AWI über seine Forschung informiert, findet man auf der Website: https://www.awi.de/ueber-uns/service/veranstaltungen.html

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