Eine Insel mit drei Halten

Über Wangerooge im Wattenmeer rattert eine unverwüstliche Kleinbahn als Hauptverkehrsmittel – seit genau 125 Jahren. Zeit für eine Ehrenrunde!

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Inselbahn Wangerooge
Paul-Meixner

Wer auf Wangerooge Zug fährt, könnte sich im ersten Moment an Jim Kopf, die Dampflok Emma und ihre eher ziellosen Fahrten auf der Insel Lummerland erinnert fühlen. Doch die Kleinbahn auf der ostfriesischen Insel ist ein anderes Kaliber: Die rote, gedrungene Diesellok rasselt mit sieben Wagen im Schlepp über die blühenden Salzwiesen, durch die gekippten Fenster dringt die Meeresbrise. Im Führerhaus steht Michael Menge, der den Zug vom West­anleger, wo die Fähre festmacht, rund fünf Kilometer zum Wangerooger Bahnhof steuert. Menge, kinnlange Haare, tätowierte Arme, ist ein gelassener Typ. Einmal deutet er auf eine Gänsefamilie zwischen den Gräsern, dem Elterntier folgen fünf flauschige Küken. „Da kann man richtig beim Aufwachsen zusehen“, sagt Menge – kein Wunder, schließlich rollt er mehrmals täglich an ihnen vorüber.

Charlotte-von-Elsner
Michael Menge steuert die Inselbahn über die Wangerooger Salzwiesen

Auch Lachmöwen und Austernfischer bauen unbeeindruckt vom Bahnbetrieb ihre Nester neben den Gleisen. Hinter den Wiesen verschwimmt das Watt mit dem Meer an diesem sonnigen Frühsommertag. Die Inselbahn feiert dieses Jahr ihren 125. Geburtstag, seit 1897 macht sie Gäste und Einheimische mobil. Sie ist nicht nur die einzige von der DB betriebene Schmalspurbahn, sondern auch das Hauptverkehrsmittel auf der autofreien Insel: Urlaubende, Schüler:innen auf Klassenfahrt, Bewohner:innen – 200 000 Menschen befördert die Inselbahn jährlich. Die Personenwagen, 1992 vom DB Werk Wittenberge fertiggestellt, sind in EuroCity-Blau-Weiß lackiert, ähneln normalen Reisezugwagen aber sonst nicht im Geringsten. Schon ihre offenen Perrons sind pure Nostalgie.

Die Inselbahn ist jedoch nicht nur für den Personenverkehr zuständig. „Die gesamte Wirtschaft der Insel hängt von ihr ab“, erklärt Menge. Denn auf der Schiene verlaufen auch sämtliche Warenströme zwischen Dorf und Hafen. Auf Güterwaggons und Flachwagen wird alles herangeschafft, was die rund 1200 ständigen und urlaubenden Inselbewohner:innen zum Leben brauchen – Nahrungsmittel, Medikamente, Postsendungen und natürlich das Gepäck. „Ganz schön viel Verantwortung für einen 20 km/h schnellen Zug“, sagt Menge. Mehr Tempo fordert er der Lok nicht ab. So bleibt den Reisenden mehr Muße für Fotos und Wattgucken.

Paul-Meixner
Die Brutgebiete dürfen durchfahren, aber nicht betreten werden

Nach 25 Minuten erreicht der Zug den Wangerooger Bahnhof, ein Jugendstil­gebäude mit Turm und weißen Sprossenfenstern. Die Tourist:innen drängen aus den Wagen und strömen Richtung Strand. Zurück am Gleis bleibt Krzysztof Janowski, groß, blond, kräftiger Händedruck. „Ich bin der Rangierbegleiter, ich sorge dafür, dass wir den Zug gut ein- und ausparken“, erklärt er seine Aufgabe. Janowski stellt außerdem die Züge zusammen, unterstützt den Lokführer und überwacht die Trasse. Der 33-Jährige hilft aber nur während der Saison hier aus – in seinem Hauptjob dirigiert er zum Beispiel als Zugchef den EuroCity Hamburg–Kopenhagen. Auf Wangerooge genieße er die Entschleunigung und die familiäre Stimmung unter den rund 60 Mitarbeitenden des Inselverkehrs: „Nicht selten sitzen wir nach Feierabend noch mit der Gitarre am Meer.“

Paul-Meixner
Die Schienen der Schmalspurbahn messen 1000 Millimeter

Es ist später Nachmittag, Michael Menge steht erneut im Führerstand der Diesellok, er bringt die Tagesgäste zurück zum Westanleger, zur Fähre nach Harle­siel (übrigens die einzige, die von der DB betrieben wird). Den Fahrplan sowohl der Bahn als auch der Fähre diktiert die Natur, genauer: der Gezeitenkalender. Vor und nach Hochwasser öffnet sich ein Zeitfenster von rund sechs Stunden, in dem der Fährbetrieb möglich ist. Immerhin lässt sich das auf Monate vorausberechnen. Oberste Priorität ist dann, Schifffahrt und Inselverkehr möglichst lückenlos miteinander zu verknüpfen – auch im Sinne der Wangerooger:innen, die auf den Zug zur Versorgung angewiesen sind. Unterwegs deutet Menge auf eine Abzweigung von der Haupttrasse: Die Stichstrecke führt zur Müllsammelstelle der Insel – dem dritten wichtigen Haltepunkt der Inselbahn. Hier wird der Abfall in Waggons verfrachtet und anschließend aufs Festland verschifft, wo er entsorgt wird.

Ein anderer Abzweig führt zur Jugendherberge im mächtigen Westturm der Insel. Selten, nur bei Bedarf, rollt auch hier mal ein Zug hin. Aus dem Dachgeschoss des Turms geht der Blick über das gesamte Wangerooger Gleisnetz bis hinüber zum Backsteingebäude des Bahnhofs. Was man von dort oben nicht sehen kann: Über dem Haupteingang steht in Frakturbuchstaben so etwas wie das Inselmotto: „Kehre wieder“.

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe Oktober 2022

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