Ist Reisen die beste Schule?

An dieser Stelle schreiben Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim abwechselnd rund ums Unterwegssein mit Kindern (und Mann). Heute fragt sich Lisa, wie sehr uns das Reisen bildet

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Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim

Als wäre es gestern gewesen: So gut erinnere ich mich an diesen Novemberabend des Jahres 1989, an dem meine ganze Familie vor Freude durchs Wohnzimmer hüpfte, als wir im Fernsehen sahen, dass die Mauer fiel. Erst zwei Jahre zuvor waren wir ins Bergische bei Köln gezogen, bis dahin hatten wir im Westberliner Stadtteil Schönefeld gelebt. Nun würde sich mein Geburtsort also grundlegend verändern.

Meine Eltern dachten nicht lange nach, packten uns Kinder ein, und wir fuhren zum Ort des Geschehens. Dort durften wir mit einem Hammer auf die Mauer einklopfen, die uns bis dahin in Ost und West, in Demokratie und Sozialismus geteilt hatte. Ich war erst sieben Jahre alt und hatte meine erste große Lehrstunde in Politik. Sie fand statt vor meinen Augen: Das, was hier geschah, war nichts Abstraktes, sondern Politik zum Anfassen. Die Mauer musste weg. Etwas Großes geschah hier, das verstand ich schon als Kind. Und dieses Große selbst zu erleben war etwas anderes, als nur aus dem TV davon zu erfahren. Endlich, endlich mal durchs Brandenburger Tor zu gehen, weil keine Grenzposten mehr da waren und niemand, der uns aufhielt, niemand, der Freiheiten beschränkte.

Reisen bildet. Das sagt sich so leicht, aber diese kleine, große Anekdote zeigt, dass das wahrhaftig stimmt. Kinder sind von Grund auf neugierig – nicht auf kompliziert formulierte Nachrichten oder Papierberge aus Gesetzen, natürlich nicht. Aber vor Ort hatte ich einen Bezug zu den Geschehnissen und löcherte meine Eltern mit Fragen: „Wer hat die Mauer gebaut? Warum macht man so was? Wieso darf die jetzt wieder weg?“

Auf Reisen fragte ich immer sehr viel. Zum Beispiel, warum wir in Spanien anderes Geld brauchten. Aus den 25-Peseten-Münzen mit dem Loch in der Mitte bastelte ich mir im Urlaub eine Kette, und es war lustig, dass man für einen alltäglichen Einkauf 1.000er-Scheine benötigte. Ich machte mir öfter den Spaß, alles mit dem Taschenrechner in D-Mark umzurechnen. Playstations oder Handys zum Zeitvertreib gab’s da ja noch nicht.

Heute brauchen wir kein Geld mehr zu wechseln, wenn wir mit unseren Kindern in Europa unterwegs sind. Nur in England gibt es noch das britische Pfund, dort Pound genannt. „Warum eigentlich?“, fragen die Kinder uns, und wir erklären den Unterschied zwischen Europa und der EU.

Und wie schön es ist, wenn die Kinder keine Vokabeln mehr pauken müssen, um besser Englisch oder Französisch zu sprechen! Weil sie einfach den Menschen vor Ort zuhören, die ersten Fetzen verstehen und sich plötzlich unterhalten oder zumindest Small Talk betreiben können. Die Erfahrung, einer Sprache dort zu begegnen, wo sie gesprochen wird, ganz ohne krampfiges Auswendiglernen, die ist besonders. Erlebtes verankert sich. Das gibt Selbstbewusstsein.

Reisen bildet auch in Sachen Sozialpolitik. Plötzlich reden wir über Krankenversicherungen, die uns schützen. Über Arbeitslosigkeit. Ja, auch über Covid und wie andere Länder mit der Pandemie umgehen. Wo es besser und wo es weniger gut läuft.

Unsere Kinder werden größer – und auch ihre Fragen wachsen, werden reifer. Warum stehen noch Bunker an dänischen Stränden, was hat Deutschland im Krieg damit zu tun gehabt? Reisen werfen Fragen auf und öffnen Horizonte. Und zwar nicht nur Kindern, sondern auch immer wieder uns selbst. Weil sich die Antworten auf unsere Fragen auch immer wieder verändern.

Meine Kinder kümmern die Mauerreste in Berlin kaum noch, sie haben die Teilung nicht hautnah erlebt wie wir. Sie kennen nur die Theorie. Das gilt auch für die Bunkeranlagen in Dänemark, die Überbleibsel aus dem Zweiten Weltkrieg. Zum Brexit hingegen können sie Referate halten, weil sie auf Klassenfahrt in London waren und erfahren haben, dass dort weiterhin mit Pounds bezahlt wird, weil sie TikTokern aus Großbritannien folgen. Man lernt eben nie aus. Das merken wir als Eltern spätestens dann, wenn uns die Teenager mit ihrem Wissen überraschen. Wissen, das sie durch Neugier, Weltoffenheit und ihr Unterwegssein erworben haben.

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