Zehn Bücher, die es ohne Züge nie gegeben hätte

Beim Bahnfahren lesen Sie am liebsten ein gutes Buch? Ob kühles Verbrechen oder aufregende Romanze, waghalsige Abenteuerreise oder verblüffende Begegnung – wir stellen die schönsten und spannendsten Bücher vor, in denen Züge wichtige Rollen, manchmal sogar Hauptrollen spielen

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Getty Images/Francesco Morandini


„Der Silberpfeil. Die abenteuerliche Reise in einem magischen Zug“ (2021) von Lev Grossman
Was machen Kinder, wenn ihnen ihr Leben ein bisschen langweilig vorkommt? Richtig – sie schreiben kurz vor ihrem elften Geburtstag einem reichen Onkel namens Herbert einen Brief und wünschen sich zur Abwechslung mal ein außergewöhnliches Geschenk. Und was macht Onkel Herbert? Wieder richtig: Er lässt gleich am nächsten Tag eine Lokomotive auf einem Tieflader mit 28 Rädern anrollen. Wiegt ja auch ganz schön was, so eine Lok. Ist das Ding erst mal da, stellt sich natürlich die Frage: Was stellt man damit jetzt an? Kate und ihr Bruder Tom haben sofort eine Idee: Sie begeben sich auf eine große Abenteuerreise durch Dschungel, Wüsten und Berglandschaften. Mit an Bord: sprechende Tiere. Aber Achtung, auf Lev Grossmans „Silberpfeil“ gelten für alle die gleichen Regeln – weshalb auch Füchse und Dachse vor Fahrtantritt ein Ticket kaufen müssen.

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Mit an Bord in Lev Grossmanns „Silberpfeil“: Sprechende Füchse und Dachse

„6 Uhr 41“ (2013) von Jean-Philippe Blondel
Es gibt Begegnungen, die alles verändern können und die alles, was man für selbstverständlich hielt, in Sekunden wie eine Seifenblase zerplatzen lassen. So wie bei Cécile, der Protagonistin in Jean-Philippe Blondels Roman „6 Uhr 41“. Nach einem Wochenende bei ihren Eltern sitzt sie im Frühzug zurück nach Paris, schluckt den letzten Groll über Mutter und Vater hinunter und ist in Gedanken schon bei ihrem Ehemann und ihrem Kind. Dann setzt sich jemand neben sie – und er ist für Cécile kein Unbekannter: Es ist ihre Jugendliebe Philippe. Und während der Zug Fahrt aufnimmt und das Schweigen zwischen den beiden immer erdrückender wird, wächst zugleich ihr Verlangen nacheinander. Reichen eineinhalb Stunden aus, um zu entflammen, was vor 30 Jahren auf einer gemeinsamen Reise auf schmerzhafte Weise erloschen war?

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In „6 Uhr 41“ schickt Jean-Philippe Blondel Cécile auf eine Reise, die ihr Leben verändert

„Vom Schweden, der den Zug nahm und die Welt mit anderen Augen sah“ (2020) von Per J. Andersson
Als Kind fuhr Per J. Andersson oft zusammen mit seiner Großmutter mit dem „Snälltåg“ – dem Schnellzug. Und weil „snäll“ auf Schwedisch auch „nett“ heißt, dachte er lange Zeit, Bahnhofs- und Zugpersonal seien einfach besonders nette Menschen. Heute weiß er, dass mit „snäll“ die Geschwindigkeit gemeint war, denn Andersson ist unterdessen mit Schnellzügen durch China gereist, auch mit dem Polarexpress und dem Orientexpress gefahren. Er erhaschte Blicke auf rasant vorbeisausende Landschaften verschiedener Kontinente, machte flüchtige Bekanntschaften mit Reisenden, deren Worte ihm auch nach dem Verlassen des Zuges nicht aus dem Kopf gingen. Und weil er manches, das so schnell vorbeirauschte, gern noch ein bisschen festhalten wollte, schrieb er die Geschichte vom „Schweden, der den Zug nahm und die Welt mit anderen Augen sah“.

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Hommage ans Bahnfahren: „Vom Schweden, der den Zug nahm und die Welt mit anderen Augen sah“ von Per J. Andersson

„Dein erster Blick für immer“ (2021) von Zoë Folbigg
Wer hat nicht schon mal mit dem Gedanken gespielt, das Objekt ihrer oder seiner Begierde mit ein paar krakeligen, romantischen Zeilen auf einem Bogen vergilbten Papier zu beeindrucken? Zu einem ähnlichen Mittel greift auch Maya in Zoë Folbiggs Roman „Dein erster Blick für immer“. Der Empfänger ihres Briefleins ist dabei kein Geringerer als – Trommelwirbel – ein völlig Unbekannter aus dem Zug. Maya weiß nicht, wer er ist, nicht einmal, wie der Fremde heißt. Nur, dass er ihr nicht mehr aus dem Kopf geht, seit sie ihn ein Jahr zuvor inmitten der Menschenmenge auf einem Bahnsteig erblickte. Und so wie manche:r unglücklich Verliebte in Ungewissheit ausharren muss, ob der oder die Angebetete die Botschaft überhaupt jemals zu Gesicht bekommt, so wartet auch Maya Tag für Tag auf eine Antwort.


„Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ (1960) von Michael Ende
Lummerland ist ein ganz besonderer Ort – nicht nur, weil dort ein König namens Alfons der Viertel-vor-Zwölfte mit einem Faible für karierte Pantoffeln das Sagen hat. Sondern auch, weil hier Jim Knopf, sein bester Freund Lukas der Lokomotivführer und die Lokomotive Emma gemeinsam Abenteuer zu bestehen haben, die sie manchmal herausfordern und am Ende immer zusammenschweißen. 1960 schrieb Michael Ende jenen ersten Satz, der sich in so vielen Kinder- und Erwachsenenköpfen fest verankert hat: „Das Land, in dem Lukas der Lokomotivführer lebte, hieß Lummerland und war nur sehr klein.“ Mit diesen Worten schuf er nicht nur eine Welt, in der Lokomotiven weinen können, Drachen bloß einen krummen Zahn im Maul haben und Kinder nicht in die Schule müssen, er schuf auch eines der beliebtesten Kinderbücher. Manche von uns träumen noch heute von Lummerland.

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Auf der ganzen Welt bekannt: Michael Endes „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“

„Tausche Wohnung gegen Bahncard. Vom Versuch, nirgendwo zu wohnen und überall zu leben“ (2018) von Leonie Müller
Stuttgart. Drei Uhr nachts. Die Straßen sind wie leergefegt. Obwohl weit und breit keine Autos mehr unterwegs sind, stehen scheinbar alle Fußgängerampeln beharrlich auf Rot. Mitten in diesem nächtlichen Setting wartet die Studentin Leonie Müller an einer der Ampeln darauf, dass sich das Licht erbarmt und endlich auf Grün umspringt. Aber nichts passiert. Irgendwie deprimierend, findet sie. Und während sie gedanklich mehrfach die Störrischkeit roter Ampeln verflucht, flammt in ihr plötzlich der Wunsch nach Veränderung auf: Sie entscheidet sich für einen Roadtrip der etwas anderen Art, tauscht kurzerhand ihre Mietwohnung gegen die BahnCard100 und einen 40-Liter-Rucksack. Ein Jahr lang begibt sie sich auf Deutschlands Schienen, macht die ICEs, Intercitys und S-Bahnen zu ihren „Nudeln mit Tomatensoße“ – also zu allem, was sie als Studentin braucht, um zu leben. „Tausche Wohnung gegen Bahncard. Vom Versuch, nirgendwo zu wohnen und überall zu leben“ ist Müllers ganz persönlicher Versuch, herauszufinden, was Begriffe wie „Heimat“ und „Zuhause“ eigentlich für die Menschen um sie herum und auch für sie selbst bedeuten. Vor allem aber ist es ein Versuch, „Rabatt auf den Ernst des Lebens zu bekommen.“

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In „Tausche Wohnung gegen Bahncard“ macht Leonie Müller Deutschlands Züge zu ihrem Zuhause

„Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ (2021) von Jaroslav Rudiš
Ein Großvater, der die Weichen stellte, Eltern, die sich im Zug kennenlernten, und ein Cousin, der Lokführer war: Züge begleiten den Schriftsteller Jaroslav Rudiš durch sein ganzes Leben. Kein Wunder, dass sie immer schon eine große Faszination und Anziehung auf ihn ausübten, die er nun zu Papier gebracht hat. In seinem druckfrischen Reisebericht nimmt er uns in den schönsten Zügen Europas mit auf Reisen. Ob er in der geschichtsträchtigen österreichischen Semmeringbahn zwischen grandiosen Bergpanoramen unterwegs ist, dem Nachtzug, der in tiefer Dunkelheit durch Polen und die Ukraine rollt, oder ob er sich in die urigsten Bahnhofskneipen setzt, in denen man so oft die verblüffendsten Geschichten aufschnappt: Seite für Seite, Bahnhof für Bahnhof, Zug um Zug macht die Gebrauchsanweisung ihre Leser:innen unausweichlich selbst zu Bahnfans, wie der Autor einer ist.

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„Gebrauchsanweisung fürs Zugreisen“ von Jaroslav Rudiš hält, was der Titel verspricht

„Netzkarte“ (1981) von Sten Nadolny
„Die Wahrheit ist, dass ich gern im Zug sitze und aus dem Fenster sehe, meine Fantasie in Gang kommen lasse und allerlei Pläne mache. Das Einzige, was mich bisher daran gestört hat, war die Zumutung, irgendwo aussteigen zu müssen, weil die Fahrt zu Ende war. Aus diesem Grunde kaufte ich mir eine Netzkarte.“ So begründet Ole Reuter, angehender Lehrer mit Sinnkrise, den Kauf eines Dauertickets, das damals noch nicht BahnCard hieß. Einen Monat lang tourt Reuter damit quer durch Deutschland. Getrieben von dem rebellischen Geist der Siebziger und einem großen Verlangen nach Abenteuern und Romantik legt er rund 30.000 Schienenkilometer zurück. Bis er sich auf seiner Reise in ein junges Mädchen aus Köln verliebt. Ach, es ist manchmal aber auch einfach zu kompliziert mit Reuter …
Ein paar Jahre wird es still um den Protagonisten, bis Sten Nadolny ihn in der Fortsetzung „Er oder Ich“ (1999) wieder auf die richtige Bahn bringt.

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Rund 30.000 Schienenkilometer legt Protagonist Ole Reuter in Sten Nadolnys „Netzkarte“ zurück

„Der blaue Express. Ein Fall für Poirot“ (1928) von Agatha Christie
Hercule Poirot ist kein Unbekannter für Sie? Sein detektivischer Spürsinn im Fall vom „Mord im Orientexpress“ von 1934 hat Sie amüsiert und schwer beeindruckt? Das ist nicht verwunderlich, denn Poirot hatte auf dem Weg von Istanbul nach London bereits Erfahrung mit Verbrechen in der Eisenbahn: Einige Jahre vor dem kaltblütigen Mord an Samuel Edward Ratchett ließ Agatha Christie den belgischen Privatdetektiv an Bord eines anderen Zuges ermitteln, genauer gesagt auf einer Fahrt im Train Bleu, dem blauen Express. Während der Reise von Calais ins italienische Ventimiglia wird eine Passagierin tot in ihrem Abteil aufgefunden – offensichtlich wurde sie Opfer eines Verbrechens. Und was uns die Königin der Krimiautor:innen später im Fall vom Orientexpress beibrachte, hatte auch hier schon Gültigkeit: Gibt es ein Mordopfer im Zug, ist eine:r der Reisenden immer der oder die Mörder:in.


„In 80 Zügen um die Welt“ (2021) von Monisha Rajesh
Der Zweifel seiner Mitmenschen verleitete Jules Vernes exzentrischen Helden Phileas Fogg bekanntlich dazu, eine Wette einzugehen, die sein Leben veränderte: dass er es in 80 Tagen um die Welt schafft. Wetteinsatz: 20.000 Pfund.
Zweifel aus dem eigenen Umfeld sind auch der Journalistin Monisha Rajesh bekannt, als sie sich gut 150 Jahre später auf eine ähnliche Reise macht. Zwar wettet sie nicht um 20.000 Pfund und umrundet auch nicht in 80 Tagen die Welt, dafür aber in 80 Zügen. Und auch ihr Leben wird durch diese Reise verändert; Rajesh sammelt in den Bahnen dieser Welt – von Paris bis nach Peking – Momente, Begegnungen und Geschichten. „In 80 Zügen um die Welt“ wurde deshalb auch zum „Traveller Book of the Year“ gekürt. Und was gewann eigentlich noch mal der eigentümliche Phileas Fogg, als er sich 1872 auf die Reise machte? „Nichts, ich gebe es zu, außer eine liebenswürdige, reizvolle Frau, die – so unwahrscheinlich dies vorkommen mag – ihn zum glücklichsten Menschen machte! Wahrlich, würde man nicht die Reise um die Erde auch um ein geringeres Ziel vornehmen?“

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Monisha Rajesh reist zwar nicht in 80 Tagen, dafür aber „In 80 Zügen um die Welt“

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