"Guck mal, was für ein krasses Grün!"

Urlaub in Deutschland fand unsere Autorin Wiebke Harms bislang nicht prickelnd. Ein Trip mit Freundinnen aus ihrer Jugendzeit überzeugte sie vom Gegenteil.

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Wolfgang Zwanzger/Imago
Basteibrücke in der Sächsischen Schweiz

„Schon kurz nach dem Start unseres ersten Wandertages wittere ich meine Chance zu zeigen, dass ich nun eine andere bin als in unserer Jugend. Wenige Gehminuten vom Marktplatz der Stadt Wehlen entfernt schraubt sich der Pfad zum ersten Mal aufwärts – nicht allzu lang, dafür aber in steilen Kehren. Ein Hinweisschild verspricht oben einen lohnenswerten Blick auf die Elbe. Jetzt nicht zu laut atmen, denke ich mir, das Tempo halten, dabei locker aussehen und auf keinen Fall zwischendurch pausieren. Schließlich bin ich nicht mehr Vergangenheits-Wiebke, die mit 18 sogar innerhalb ihres Heimatortes mit dem Auto fuhr und Sport hasste. Vier Tage wandern? Wäre mir damals nie in den Sinn gekommen, in dieser Zeit zwischen Pubertät und Studium, in der ich mit meiner Clique die Wochenenden im „Kreml“ – so der Name der nächstgelegenen Großraumdiskothek – oder auf Schützenfesten verfeierte.  

Oben angekommen starre ich auf die Elbe, weiterhin um betont ruhiges Atmen bemüht. Hinter mir schnauben meine Freundinnen Sabse und Tati. Sie sind nicht so darauf versessen, sich die Anstrengungen nicht anmerken zu lassen. Ich kenne die beiden schon seit der Schulzeit. Noch vor ein paar Jahren hätte keine von uns gedacht, dass wir uns mal zum Wandern in der Sächsischen Schweiz verabreden würden. Aber hier sind wir. Alle Anfang 30, in Regenjacken und praktischen Hosen. Darüber werden wir in den nächsten Tagen noch einige Scherze machen. 

Vor gut 15 Jahren habe ich mit Sabse, Tati und zwei weiteren Freundinnen meinen ersten Urlaub ohne Eltern verbracht. Wir fuhren mit dem Bus nach Lloret de Mar, für einen Partyurlaub an der spanischen Costa Blanca mit einer festen Routine: Sich irgendwann zwischen Vormittag und Mittag zum Strand runterschleppen, Stunde um Stunde in der Sonne rösten, abends im Hotel duschen, schminken und trotz der Hitze in dem engen Zimmer irgendwie in die ebenfalls enge Röhrenjeans reinkommen – und dann feiern gehen.

Für mich war es die erste Reise ins Ausland, ich sah zum ersten Mal das Mittelmeer und umarmte eine Palme, weil ich die vor diesem Urlaub nur als Zimmerpflanze kannte und nicht als Stadtbegrünung. Die Urlaubsreisen mit meiner Familie waren immer von der norddeutschen Heimat nach Bayern gegangen: Radfahren an der Donau, Radfahren durchs Altmühltal… Nach meinem ersten Spanien-Trip fand ich Urlaub in Deutschland fürchterlich spießig – ich wollte lange nur noch Strände, Wüsten und Metropolen besuchen, statt durch deutsche Mischwälder zu stapfen. 

Miniloc/mauritius images
Sächsische Schweiz

So aufgeregt, wie wir vor 15 Jahren zum ersten Mal am spanischen Strand entlangliefen, erkunden wir nun den einheimischen Wald. „Guck mal das Moos, was für ein krasses Grün!“, rufen wir uns zu, und „Haha, der Fels sieht irgendwie versaut aus!“ Wir kichern viel. Zwischen Kiefern und Buchen komme ich mir nicht spießig vor, nicht mal, als wir alle drei innehalten und uns außerordentlich über einen besonders dicken Fliegenpilz freuen, der am Wegesrand wächst. Wir zücken sogar alle unsere Telefone, um seinen rot-weißen Hut zu fotografieren und erzählen einem Paar, das vorbeiwandert, was wir da entdeckt haben. Vergangenheits-Wiebke hätte alles daran peinlich gefunden: den deutschen Wald, Fotos von einem Pilz, fremde Leute ansprechen. Aber an diesem Tag bin ich glücklich, dass sich auch meine Freundinnen so freuen.  

Denn als ich tags zuvor an einem Dresdner S-Bahnhof auf die beiden gewartet hatte, ging mir einiges durch den Kopf: Seitdem wir zum Studieren in verschiedene Ecken Deutschlands gezogen sind, sehen wir uns nur noch selten. Meistens zu Weihnachten, vielleicht auch mal an Ostern. Wir arbeiten in unterschiedlichen Berufen, jede von uns hat sich neue Freundeskreise aufgebaut. So wie ich jetzt auf einmal Sport mag, haben sich auch die anderen beiden verändert. Was, wenn wir uns nichts mehr zu erzählen haben, weil sich unsere Leben in verschiedene Richtungen entwickelt haben? Wenn wir drei Wandertage in der Vergangenheit kreisen, weil uns in der Gegenwart nichts mehr verbindet? Wer sagt, dass wir nicht nur noch befreundet sind, weil wir es eben schon immer waren – also aus Gewohnheit statt aus ehrlichem Interesse aneinander? Sieben Jahre, so lange halten Freundschaften einer niederländischen Studie zufolge im Schnitt. Was, hatte ich mich am Vortag gesorgt, wenn das Haltbarkeitsdatum unserer Freundschaft längst überschritten war und wir es nur noch nicht gemerkt hatten? 

Wie die Landschaft um uns herum wandeln sich jedoch auch unsere Gespräche schnell. Wir klären schnell ab, welche Neuigkeiten es aus der Heimat gibt, wer wen geheiratet oder Kinder bekommen hat, und kommen zu den tiefen Themen: Wo wollen wir noch hin im Leben? Unsere Verbundenheit miteinander stellt sich schnell wieder ein. 

Wir erreichen die Bastei, eine 76 Meter lange Steinbrücke, die 1851 in eine spitz in den Himmel ragende Felsformation gebaut wurde und die heute als Wahrzeichen der Sächsischen Schweiz gilt. Die Gesteinsnadeln waren die Vorlage für Caspar David Friedrichs „Felsenlandschaft im Elbsandsteingebirge“, und auch andere Maler der Romantik fanden diese Landschaft mit den Felsen, den Birken an den Hängen und der Elbe in der Tiefe inspirierend. Auch wir wollen den Moment festhalten, wenig künstlerisch mit einem Selfie. Auf dem Bild haben wir rote Gesichter vom Wandern, unsere Regenjacken sehen spießig aus, der Himmel ist grau und vom Zauber der Landschaft kommt wenig rüber. Trotzdem schaue ich mir das Foto gern an, denn es erinnert mich daran, dass Freundschaften aus der Jugendzeit das Erwachsenwerden aushalten können – und dass mir Urlaub in Deutschland Spaß macht, wenn ich mich darauf einlasse.“

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