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Wie faszinierend die Artenvielfalt unseres Planeten ist, lässt sich im Botanischen Garten in Leipzig erkunden. Dort erforschen Wissenschaftler:innen die Zukunft der Pflanzen angesichts des Klimawandels

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Datum: 28.02.2023
Lesezeit: 12 Minuten

Die Entdeckung Amerikas beginnt mit dem Orleanstrauch, einem Gewächs, das im Eingangsbereich mehrere Meter in den Himmel ragt. Eine besondere Art, sagt Martin Freiberg, der mich an diesem Vormittag durch das Tropenhaus führt. „Den roten Farbstoff haben die ursprünglichen Einwohner damals für eine Paste verwendet, die sie sich wie einen Sonnenschutz auf die Haut schmierten. Wegen der Farbe wurden sie damals Rothäute genannt.“

Freiberg, der wissenschaftliche Leiter des Botanischen Gartens der Universität Leipzig, kennt viele solcher Geschichten, die er bei einem Rundgang erzählt. Denn das Reich der Pflanzen ist wie ein Dschungelbuch mit vielen Botschaften, die sich nicht auf den ersten Blick erschließen.

Hier eine groß gewachsene mittelamerikanische Orchideenart, der man nicht ansieht, dass sie eine Symbiose mit Insekten eingeht. In den hohlen Stängeln nämlich hausen Ameisen. Oder dort, der schlanke Paranuss-Baum aus Brasilien, der sich den engen Raum mit wild wuchernden Farnen teilt. „Das Spannende daran ist, dass es nur eine Schmetterlingsart gibt, die ihn bestäuben kann. Wenn die ausstirbt, hat auch der Baum keine Zukunft“, erklärt der 59-jährige Forscher. 

Wir gehen durch einen feuchtwarmen Urwald, weit entrückt vom kühlen Deutschland, das nur wenige Meter entfernt auf den Frühling wartet. Das hier ist eine andere Welt, eine mit Hunderten Grüntönen und ausladenden Blattformen, Blüten in leuchtendem Gelb und Rot, Palmen, die bis unter die 14 Meter hohe Glaskuppel ragen, umstellt von Kautschuk- und Kapokbäumen. Das Tropenhaus ist eines von fünf Refugien, in denen man mehr als 6000 Pflanzenarten quer durch alle Klimazonen und Kontinente entdecken kann – vom Dschungelhabitat und Mangrovenwald über Savannen und Wüsten bis zu Misch- und Nadelwäldern im Freien. „Wir möchten hier alle Vegetationszonen mit vielen Arten darstellen“, sagt Freiberg. 

Vor fünf im Urwald: Tropenspezialist Martin Freiberg möchte neugierig auf die Artenvielfalt machen

Auf der Suche nach der Terra incognita  
Damit ist die Anlage nicht nur ein Anziehungspunkt für Besucher:innen. Rund um den ältesten botanischen Garten Deutschlands haben sich im Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung mehr als 300 Wissenschaftler:innen angesiedelt, die das Leben und Überleben einzelner Spezies im Zeitalter der Klimaerwärmung untersuchen und der Frage nachgehen, welche Bedeutung die Artenvielfalt für unsere Existenz hat. 

Was wir hier an diesem Vormittag im Tropenhaus erkunden, ist nur ein Ausschnitt der großen Bandbreite an Pflanzen. Freiberg, der mit seiner Funktionskleidung so aussieht, als wollte er zum Trekking aufbrechen, zeigt auf eine meterhohe Farnart aus Afrika, deren Ursprung 200 Millionen Jahre zurückreicht. Man spürt den Stolz des Sammlers, der in Leipzig einige seltene Exemplare beheimatet.

Ende der 1990er-Jahre brach der Biologe mehrmals zu Exkursionen auf, reiste durch Costa Rica, Französisch-Guyana und Ecuador, immer auf der Suche nach neuen Arten. Auf dem Gebiet der Usambaraveilchen wurde er fündig: 15 neue Arten konnte er der Familie hinzufügen, einige davon fühlen sich auch im feuchtwarmen Klima des Leipziger Gartens wohl. 

Manche tragen rote Blüten, manche weiße, die sich wie Signalfarben vom dichten dunklen Grün des Waldes absetzen. Am Boden ist es dunkel, nach oben hin strömt mehr und mehr Licht ins Gebäude, ein Stahlskelett mit großen Glasflächen. Als die ersten Anlagen mit tropischem Klima im 19. Jahrhundert eröffnet wurden, lösten sie einen Sturm der Begeisterung aus. Eine Reise in die ferne Welt in nur wenigen Minuten – das ist der Zauber, der bis heute von den beheizten Habitaten ausgeht. Die meisten der rund 90 botanischen Gärten in Deutschland betreiben Gewächshäuser, wenn auch nicht mit einer solchen Pflanzenvielfalt wie in Leipzig, wo eine Weltreise schon mal Stunden dauern kann.  

Für den Forscher Freiberg hat die Reise nie aufgehört. Doch statt in Mittel- und Südamerika nach neuen Arten Ausschau zu halten, hat er die Suche nach der Terra incognita auf ein anderes Gebiet verlagert. Mit dem Projekt „Lifegate“ arbeitet Freiberg seit einem Jahr an einer interaktiven Weltkarte, auf der alle bekannten Tier- und Pflanzenarten – rund 2,6 Millionen – abgebildet sind. Das Besondere daran: Die Karte zeigt nicht einfach nur die Arten wie in einer bebilderten Datenbank – sie setzt alle Spezies durch Linien in Beziehung zueinander. 

Nächster Halt: Mexiko. Von dort stammt der Farn „Dioon edule“, der einer Palme ähnelt

Die erste interaktive Weltkarte mit allen Arten
Wie das aussieht, zeigt mir Freiberg am Computer seines Büros, keine 100 Meter vom Tropenhaus entfernt. Auf dem Bildschirm sieht man zunächst ein Sammelsurium verschiedener Pflanzen und Tiere, Frösche ebenso wie Pilze und Gefäßpflanzen; fast die Hälfte der Fläche nimmt das Foto eines Insekts ein, unter dem „Gliederfüßer“ steht. Kein Zufall, denn zu der Familie der Gliederfüßer zählen immerhin 1,66 Millionen Arten, wie mir ein eingeblendetes Textfeld anzeigt. 

Mit jedem Klick taucht Freiberg tiefer ein in die Verwandtschaftsverhältnisse der Spezies, von der Schnabelfliege zu den Flöhen zu den Fransenflüglern erhält man Informationen zu Herkunftsgebieten und natürlichen Biotopen. Grüne Linien verbinden Spezies mit Artverwandten, auch wenn sie in anderen Kontinenten vorkommen. „Es ist ein riesiges Netz, das zeigt, wie alles zusammenhängt“, erläutert Freiberg 

Erst langsam spricht sich dieses Pionierprojekt in der Fachwelt herum. Immer öfter bekomme er Mails von Botaniker:innen, die ihn auf Arten aufmerksam machen, die in der Matrix noch fehlten. Die Karte wächst jeden Tag. Nur: Wozu der ganze Aufwand? Freiberg wendet den Blick vom Bildschirm ab und schaut so, als hörte er die Frage zum ersten Mal. Ja, warum? 

Mit der Karte möchte er das Bewusstsein für die Vielfalt aller Lebewesen schärfen, möchte zeigen, wie alles voneinander abhängt. Dieses Lebewesen fresse dieses, das andere brauche das als Parasiten – diese Abhängigkeiten sichtbar zu machen sei wesentliches Ziel der Biodiversitätsforschung. Denn Vielfalt, das ist sein Credo, erhalte Leben: „Es zeigt sich immer deutlicher, dass ein biologisches System umso widerstandsfähiger ist, je mehr Arten es gibt. Der Boden ist fruchtbarer und speichert mehr CO2.“ 

Jedes Jahr sterben Hunderte von Tier- und Pflanzenarten. Ein unkalkulierbares Risiko, glaubt Freiberg – und benutzt zur Veranschaulichung ein Bild aus dem Flugzeugbau. „Wenn man ein paar Nieten aus dem Rumpf eines Flugzeugs entfernt, passiert zunächst nichts, aber irgendwann ist es eine Niete zu viel, und das Flugzeug stürzt ab. Diesen Kipppunkt kennen wir noch nicht.“ 

Blickfang: Zwischen den grünen Tropengewächsen sticht das „Katzenschwänzchen“ mit seinen roten Blütenständen hervor

Je mehr Arten, desto fruchtbarer die Böden  
Der Forscher neigt zwar nicht zum Alarmismus, sieht sich und seine Kolleg:innen aber im Wettlauf mit der Zeit. Viele Zusammenhänge seien längst nicht erfasst, es gebe noch eine Menge weißer Flecken. Nicht nur in den entlegenen tropischen Regionen, auch in den heimischen Böden. So konzentriert sich eine Forschergruppe in Leipzig auf die Bodenbeschaffenheit, erkundet Faden- und Regenwürmer und Milbenarten. „Es gibt bestimmte Milben, die sich darauf spezialisiert haben, gewisse Insekten zu fressen; wenn ich das weiß, dann kann ich diese Milbe zum Beispiel zur biologischen Schädlingsbekämpfung einsetzen.“

So also könnte das Wissen über Zusammenhänge dereinst für schonende Anbaumethoden ohne Insektizide hilfreich werden. Der Boden bildet einen der Schwerpunkte des Deutschen Zentrums für integrative Biodiversitätsforschung, in dem Biolog:innen, Botaniker:innen und Zoolog:innen fachübergreifend forschen. Viele Untersuchungen richten sich auf die Zukunft. Was bedeutet das für die Artenvielfalt bei uns, wenn wir in 50 Jahren ein Klima haben wie in Spanien? Wie entwickeln sich die Pflanzen bereits jetzt unter den Bedingungen der Erderwärmung?

Um erste Antworten zu finden, muss man Freiberg nur ein paar Schritte folgen, hinaus in den botanischen Freiluftgarten, in dem Tausende von Spezies nach Familien gruppiert sind. Hier die Hyazinthen, Gräser und Palmen, dort Spindelbaumgewächse, Veilchen und Malvenarten, noch verstecken sich die meisten hinter weißen Beschilderungen. 

Nicht weit entfernt stoßen wir auf eine besondere Parzelle, in der zehn Arten verpflanzt wurden. Heimische Arten wie Eibisch und wilde Tulpe, Seifenkraut und Salbei, die unter besonderer Beobachtung stehen. Man möchte herausfinden, welchen Einfluss der Klimawandel auf die Entwicklungsphasen dieser Pflanzen hat, von der Knospung über die Blüte bis zum Fallen der Blätter. 

Ob „Kanonierblumen“ aus China oder „peruanisches Frauenhaar“: Artverwandte Pflanzen wurden aus allen Kontinenten zusammengestellt

Bürger:innen beteiligen sich am Forschungsprojekt 
Das Besondere: Die Pflanzen wurden auch an Bürger:innen der Stadt verteilt, die nun zusammen mit den Forscher:innen das Wachstum über einen längeren Zeitraum dokumentieren. Dem geschulten Blick von Freiberg entgeht allerdings nicht, dass im Beet etwas nicht stimmt. Es ist Anfang Februar, aber der Eibisch treibt schon jetzt Knospen. „Bei den milden Wintern beginnt die Vegetation immer früher. Wenn der Eibisch aber schon jetzt blüht und die Insekten zur Bestäubung noch im Boden sind, dann treffen die sich nicht.“

Verlieren wir durch den Klimawandel weitere Pflanzen? Oder gibt es vielleicht sogar Alternativen auf der großen Weltkarte der Arten, die wir stattdessen nutzen können? Fragen, auf die in Leipzig nach Antworten gesucht wird. Und dabei möchte man auch die Besucher:innen einbeziehen, mit Projekten wie diesen und mit Führungen durch Duft- und Tastgärten. Ganz im Sinne des berühmten Naturforschers Alexander von Humboldt, der stets betonte, dass die Natur gefühlt werden müsse, möchte auch Freiberg seine Faszination weitergeben. Und wer den Dschungel oder Afrika allein entdecken möchte, kann sich vor Ort auf einen der vier Erlebnispfade begeben und spannende Infos per Smartphone-App abrufen. 

Eine der Touren, der Wasserpfad, führt uns hinaus aus dem Tropenhaus in einen Bereich mit Wüstenklima und sandigem Boden. Um uns herum jede Menge stachelige Exemplare, darunter auch ein meterhoher Säulenkaktus. Der, erfahre ich per App, ist in der Sonora-Wüste, Arizona, zu Hause und extrem bescheiden. Eine gleich große Pflanze in unseren Breiten benötige zwölfmal mehr Wasser, lese ich, „wo ich herkomme, fällt zwölfmal weniger Regen als in Leipzig, und die Regenfälle können monatelang ausbleiben“.

Es ist nicht nur warm in diesem Kakteenhaus, es ist auch staubtrocken. Zeit für eine Trinkpause. 

LEIPZIG und weitere botanische Gärten in Deutschland

Auf vielen Pfaden
Der Botanische Garten der Universität Leipzig bietet eine Vielzahl von Führungen an, Themen sind zum Beispiel „Alles über Gehölze“, „Pflanzen für die Liebe“, „Zauberpflanzen bei Harry Potter und Co.“ oder „Mit allen Sinnen durch Duft- und Tastgarten“. 

So spannend ist Leipzig
Grün und urban: Leipzig vereint viele Gegensätze, von schönen Gärten und der Tropenerlebniswelt Gondwanaland im Zoo bis hin zu ungewöhnlichen Ausstellungshallen wie dem Kunstkraftwerk.  

DB MOBIL-Geheimtipp: Auf der Sachsenbrücke trifft sich die Stadt.


Weitere Gewächshäuser zum Staunen

Berlin: Mit 22.000 Pflanzenarten die größte Anlage Deutschlands. Besonderheit: ein 25 Meter hoher Riesen-Bambus. 

Hamburg: „Planten un Blomen“ ist ein weitläufiger Park mitten in der Stadt mit verschiedenen Themengärten. Besonderheit: Der japanische Garten mit japanischem Teehaus. Die Gewächshäuser werden derzeit umfangreich saniert.

Hannover: Einer der ältesten botanischen Gärten Deutschlands wurde 1666 als Gemüsegarten angelegt. Besonderheit: Europas größte Orchideensammlung. 

Frankfurt am Main: Zusammen mit zwei weiteren botanischen Gärten bildet der Palmengarten die größte innerstädtische Grünanlage der Stadt. Besonderheit: die große Auswahl an Palmfarnen.  

Heidelberg: Der Garten geht zurück auf das Gründungsjahr 1593 und beeindruckt mit einer großen Vielfalt an Pflanzen aus Südamerika (Anden) und Afrika.

Stuttgart: Die Wilhelma ist ein zoologisch-botanischer Garten mit etwa 1200 Tier- und 8500 Pflanzenarten. Besonderheit ist die Haltung von Menschenaffen.

Potsdam: Die Biosphäre beherbergt eine Dschungellandschaft mit mehr als 20.000 Tropenpflanzen und 140 Tierarten. Stündlich geht ein künstliches Gewitter nieder. Kein Ort der Forschung, aber mit vielen außerschulischen Lernangeboten.

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