Von Kassel in die Welt

Vor 30 Jahren fuhr der erste ICE durchs Land, mit weinrot-rosa Streifen. (Richtig gelesen.) Seither prägt er das Bahnreisen. Kurze Geschichte eines Zugs mit langer Historie – und XXL-langer Zukunft

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Die vier Generationen des Intercity-Express – vom Ur-ICE bis zum jüngsten  Modell ICE 4
DB AG
So geht Evolution: Die vier Generationen des Intercity-Express – vom Ur-ICE bis zum jüngsten Modell ICE 4 (von links)

„Halb so schnell wie das Flugzeug, doppelt so schnell wie das Auto“ – so wirbt die Deutsche Bundesbahn für einen eleganten und völlig neuen Zugtyp, der am 29. Mai 1991 am ebenfalls brandneuen Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe der Öffentlichkeit präsentiert wird. Lichtgraue Lackierung, zweifarbige Bauchbinde in Weinrot und Rosa (der „verkehrsrote“ Streifen kommt erst Jahre später) und klare Botschaft: Der Intercity-Express, der mit seiner tiefgezogenen, aerodynamisch rundgeschliffenen Front wohl nicht zufällig an einen Passagierjet erinnert, soll an berühmte DB-Fernreisezüge wie zum Beispiel den Trans-Europ-Express anknüpfen. Der Neue hat eine weitere Mission. Er katapultiert die Bahn und ihre Kund:innen ins Zeitalter der Hochgeschwindigkeitszüge. Und er soll den Fahrgästen ein hochklassiges, aber keineswegs abgehobenes Reiseerlebnis bieten. Anders als der TEE oder die Intercity-Züge, die nach ihrer Einführung 1971 zunächst fast ein Jahrzehnt lang als reine 1.-Klasse-Züge fuhren, ist der ICE von Beginn an mit beiden Wagenklassen unterwegs.

Erste Überlegungen für den Hochgeschwindigkeitszug hatte die Bahn in den 1970er-Jahren angestellt. Der Prototyp des „InterCity Experimental“ fuhr gleich auf seiner Jungfernfahrt 1985 mit fast 320 Stundenkilometern schneller als jedes Schienenfahrzeug in Deutschland zuvor. Die Serien-ICE der ersten Generation sind immerhin für Tempo 280 gut. Doch das Netz der Schnellfahrtrassen steht im Juni 1991 noch auf dem Papier, gerade zwei Teilstücke (Hannover–Würzburg und Mannheim–Stuttgart) werden zeitgleich mit dem ICE-Start für den Verkehr freigegeben. Die Premiere des Hochgeschwindigkeitszugs zeigt jedoch, wohin die Reise gehen wird: Die Fahrt von Hamburg nach Frankfurt am Main verkürzt sich um eine, nach Stuttgart um fast zwei Stunden.

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Weiß, rot, schon vorbei: Die Post feierte den ICE 1991 mit einer dynamischen Sondermarke

Der Expresszug fasziniert Bahnfans und -fahrer:innen aber nicht nur wegen seines Tempos, sondern auch wegen seiner technischen Konzeption und des Komforts. Triebköpfe und Wagen bilden eine Einheit, sodass die neuen Züge in Kopfbahnhöfen einfach die Fahrtrichtung wechseln können, ohne dass Lokomotiven umgespannt werden müssen. Innen geben Sitze in dezentem Grau und Teppichböden eine wohnliche Atmosphäre, Geräuschdämmung und Klimatisierung der Wagen erreichen eine neue Qualität. Druckgeschützte Wagenübergänge setzen die Fahrgäste nicht länger Lärm, Zug und zuschnappenden Schiebetüren aus. Selbst längere Fahrten sind entspannt auszuhalten, zumal Audiodienste und in der 1. Klasse sogar Videomonitore – bis zum Siegeszug von Smartphones und Tablets werden noch 15 Jahre vergehen – zum Zeitvertreib beitragen.

In den 1990er-Jahren wächst die ICE-Flotte nicht zuletzt dank des Rückenwinds, den die Wiedervereinigung für den Ausbau des Schienennetzes bringt, schnell an. 1996 wird der weiterentwickelte ICE 2 aufs Gleis gesetzt, 1999 der ICE-T. Er kann sich auf Strecken mit engen Radien wie ein Motorradfahrer in die Kurve legen. Das verkürzt Fahrzeiten, etwa zwischen Berlin und München, bevor die Hochgeschwindigkeitsstrecke fertiggestellt ist. 2000 folgt eine völlig neu konstruierte Version des DB-Flaggschiffs: Beim ICE 3 gibt es keine klassischen Triebköpfe mehr, vielmehr verteilen sich die Antriebsmotoren über die Bodengruppen des gesamten Zuges. Das beschert Bahnfans einen Wow-Effekt: Weil der Führerstand nur mehr durch eine Glaswand vom angrenzenden Fahrgastraum getrennt ist, können von nun an unzählige kleine und große Möchtegern-Lokomotivführer:innen den echten ICE Triebfahrzeugführer:innen bei Tempo 300 über die Schulter schauen und „Streckenkino“ gucken.

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1991 gab Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Signal zum Start

Seit 2016 verstärkt die vierte, wiederum verbesserte Generation die ICE-Flotte – bis 2023 sollen über 100 Garnituren des ICE 4 in die Flotte eingereiht werden. Dieser Zug demonstriert auch, welchen Entwicklungssprung die ICE-Technologie seit 1991 gemacht hat: Obwohl der ICE 4 mit 830 Sitzplätzen fast 130 Fahrgäste mehr aufnehmen kann als ein ICE 1, verbraucht er je Sitzplatz 22 Prozent weniger Energie. Unterdessen werden die Züge der ersten drei ICE-Versionen mit viel Aufwand auf den neuesten Stand gebracht: Während die Außenhülle ein Designklassiker ist, der modischen Strömungen standhält, wird die Innenausstattung nach rund 15 Jahren modernisiert. Der ICE 1 durchläuft sogar schon sein zweites Redesign, sodass er am Ende seines Lebenszyklus vier Betriebsjahrzehnte auf der Uhr haben wird. Insgesamt sind zurzeit rund 320 ICE-Züge im Einsatz, bis 2026 sollen es rund 420 sein. Das Verreisen mit der Bahn ist zum ICE-Reisen geworden: 1992 fuhren zehn Millionen Menschen mit den Hochgeschwindigkeitszügen. 2019, also vor dem Beginn der Corona-Pandemie, waren es fast 100 Millionen.

Da passt es ins Bild, dass in diesen Tagen ein neues Mitglied der ICE-Familie auf seine ersten Einsätze vorbereitet wird: eine XXL-Variante des ICE 4, die demnächst das Ruhrgebiet mit München verbinden wird und Hamburg mit der Schweiz. Dieser neue, 13-teilige ICE übertrifft mit 374 Meter Länge nicht nur fast alle seine Vorgänger (nur ganz am Anfang gab es ICE 1 mit 14 Wagen, die länger als 400 Meter waren), er kann dank seiner 918 Sitzplätze auch 88 Fahrgäste mehr an Bord nehmen als der reguläre zwölfteilige ICE 4 – und über 200 mehr an Bord als ein ICE 1.

Klar, fliegen kann der XXL-ICE nicht. Aber seine Fahrgastkapazität entspricht ziemlich genau der von fünf Kurzstrecken-Jets. Und die Idee für den ICE war immer, dass im innerdeutschen Reiseverkehr nicht Überfliegertum, sondern Bodenhaftung das bessere Rezept ist.

Das DB Museum in Nürnberg zeigt ab Oktober 2021 die Ausstellung „Design & Bahn“, in der unter anderem dargestellt wird, wie der ICE und seine Gestaltung das Gesicht der Bahn in den vergangenen 30 Jahren geprägt haben.

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