Die Filstalbrücke: Fortschritt in sieben Sekunden

Am 11. Dezember 2022 startet der Zugverkehr auf der neuen Strecke Wendlingen–Ulm, die nicht nur die Reise von Stuttgart nach München, sondern auch quer durch Europa vereinfachen wird. Ihr technischer Höhepunkt: die Filstalbrücke

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Thomas Niedermüller

Ein ebenso riesiges wie filigranes Gebilde zieht sich über dem Filstal in die Länge. Schmale Betonpfeiler in Y-Form stützen die Brücke zwischen den zwei Hängen. Ab dem 11. Dezember 2022 verkehren ICE über die Filstalbrücke, einige Wochen zuvor steht nur Olaf Drescher 85 Meter über dem Boden an den Gleisen. Auf der dritthöchsten Eisenbahnbrücke Deutschlands südöstlich von Stuttgart weht ein kühler Wind. „An Kiddl käldr“, eine Jacke kälter, würden die Leute aus den Orten Wiesensteig und Mühlhausen im Täle wohl sagen. Laut schwäbischer Jackenrechnung sollte man also eine Schicht mehr anziehen hier oben. Drescher trägt einen Helm und eine neon­orangefarbene Arbeitsjacke, darunter Sakko. Baustelle und Büro, der 63-Jährige ist in beiden Welten firm. Seit 2018 bereits für das operative Geschäft verantwortlich, übernahm er 2020 die Leitung des Bahnprojektes Stuttgart-Ulm. Das Ziel: die Neugestaltung des Verkehrsknotens Stuttgart und Umgebung.

Jannik Walter
Die Tunnelportale sind leicht versetzt, eine Brücke ist länger als die andere

„Es wird meistens von der Filstalbrücke gesprochen, aber eigentlich sind es zwei Brücken“, erklärt Drescher. An beiden Seiten des Tals sind zwei separate Röhren in den Berg gehöhlt. Zwischen den beiden einspurigen Tunneln müssen 30 Meter Abstand für einen Verbindungsgang liegen. So sind es also zwei Brücken geworden, mit diesem 30-Meter-Abstand, eine 472 Meter lang, die andere 485 Meter. Sie verbinden nicht nur die Tunnel, sie sind das letzte Puzzlestück, das die Neubaustrecke Wendlingen–Ulm vervollständigt. Den Schnellzügen bleibt somit erstmals erspart, die kurvenreiche „Geislinger Steige“ zu bewältigen, die seit mehr als 150 Jahren einige Kilometer nördlich von hier liegt. Und, fast noch wichtiger: Eine neue belastbare Verbindung quer durch Europa, zwischen Paris und Bratislava ist geschaffen.

Wie so oft steht hier eine Brücke für Fortschritt. Für einen Weg, wo vorher keiner war. Wo man zuvor durchs Flussbett watete, wandelt man auf einmal trockenen Fußes. Mit der industriellen Revolution wurden die Brücken robuster, Züge konnten über sie durchs ganze Land rattern. Einige Eisenbahnbrücken, zum Beispiel die Göltzschtalbrücke auf der Strecke Leipzig–Hof, sind beliebte Fotomotive. Die Filstalbrücke führt diese Geschichte fort, und auch sie ist Zeugin ihrer Zeit. Im Gegensatz zur Göltzschtalbrücke mit ihren gestapelten Bögen ist sie geradlinig und schlicht. Sie steht für einen Bahnverkehr, der modern, schnell und essenziell sein soll.

Drescher arbeitet daran, dieses Versprechen zu erfüllen. Schon seine Eltern waren Eisenbahner, mit 16 begann er bei der Deutschen Reichsbahn in Dresden seine Ausbildung als Elektro-Signalmechaniker. Die anschließende Studienzeit schloss er ab als Diplomingenieur für Informationstechnik. Nachdem er in den 1990er-Jahren erste Erfahrungen in der Leitung von Projekten gesammelt hatte, ging es an die ganz großen Vorhaben: Die Ausbaustrecke Hamburg–Berlin begleitete er als Projektleiter, dann die Schnellfahrstrecke München–Berlin. Drescher meint, der Verkehr auf Schienen bewähre sich als das beste Konzept, vor allem mit Blick auf den Klimawandel. Sein Antrieb dabei: „An Projekten zu arbeiten, die einen deutlichen Beitrag für die Lebensqualität der Menschen leisten.“

Jannik Walter
Olaf Drescher blickt in die Zukunft des Bahnverkehrs

So etwas schafft man natürlich nicht allein. Hinten auf Dreschers Jacke steht gedruckt: „Ein Team, ein Weg, ein Ziel.“ Es ist das Motto der Projektgesellschaft, die für Stuttgart 21 und die Neubaustrecke verantwortlich ist. Einige Wochen zuvor herrschte noch reger Betrieb auf der Baustelle. Drescher erinnert sich, wie die gute Stimmung unter den Mitarbeiter:innen gerade in der hektischen Schlussphase des Projekts tragend war. Für die meisten sei das die erste Inbetriebnahme ihrer Karriere. Gespannt und stolz hätten alle darauf hingearbeitet. In den aufwendigsten Bauphasen waren bis zu 250 Menschen gleichzeitig mit dem Bau der Brücke beschäftigt. Davon profitierten auch die Orte in der Nähe. Die Arbeiter:innen kehrten in die Gasthöfe ein, kauften ein, gingen kegeln. Vielleicht fiel es den Menschen in Mühlhausen im Täle und in Wiesensteig auch deswegen etwas leichter, die Großbaustelle nebenan zu akzeptieren.

Nicht nur in unmittelbarer Nähe sorgte das Projekt für Aufsehen. Tausende Bahnfans beobachten die Entstehung der Filstalbrücke seit Jahren aus der Ferne. Sehr populär ist etwa der Youtube-Kanal der Neubaustrecke. 220 000 Aufrufe erzielte ein Video, das einen Belastungstest auf der Brücke zeigt: ein Güterzug mit 700 Tonnen Schotter.

Viele begeistern sich für die technischen Besonderheiten. Beispielsweise ist der Überbau fest mit den Pfeilern verbunden. Üblicherweise liegt er auf beweglichen Lagern, die Gelenken gleichen. Sie leiten die enormen Kräfte, die auf die Brücke wirken, auf Pfeiler und Fundament ab. Brückenlager verschleißen allerdings. Die Bauweise im Filstal erspart also deren aufwendigen Austausch.

Zukünftig können bedeutend mehr Züge als heute zwischen Stuttgart und München fahren. Die Reisenden im ICE sparen 15 Minuten, nach der Inbetriebnahme von Stuttgart 21 sogar eine halbe Stunde. Dafür musste ein umfangreiches Bauprogramm absolviert werden: Neben der Filstalbrücke gibt es mehr als 30 weitere Brücken – vor allem aber sind es Tunnel, die die neue Strecke kennzeichnen. Etwa die Hälfte der Trasse verläuft unterirdisch. Rund 60 Kilometer Tunnelröhren entstanden in der Schwäbischen Alb.

Die ersten Zugreisenden werden am 11. Dezember das Tal überqueren. Sie werden aus dem Dunkel des Tunnels fliegen und kurz darauf wieder ins Dunkel rasen. Sieben Sekunden dauert die Überfahrt. Wer den Moment verpasst, dem bieten sich sicher weitere Gelegenheiten. Laut Drescher wird die Brücke mindestens ein Jahrhundert im Filstal stehen.

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe Dezember 2022

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