„Events haben diese Superkraft, viele Menschen zu erreichen“

Festivals und Konzerte machen glücklich – aber auch viel Müll. Auto-Anreise, Lightshows und Catering sorgen zudem für eine schlechte CO2-Bilanz. Wie sich das ändern lässt, wissen „The Changency“

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Datum: 09.06.2023
Lesezeit: 7 Minuten
Viele Festivalfans vor der Wacken Open Air Bühne, einer in Pink gekleidet.
© WOA Festival GmbH
Kutten, Krach und Kostüme: Festivals (wie hier das Wacken Open Air) sind die perfekte kleine Flucht aus dem Alltag – aber oft nicht nachhaltig

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Kennen Sie diese Vorher-Nachher-Fotos? Vorher: Tausende Konzertbesucher:innen wie eine riesige Woge im Sonnenlicht, strahlende Gesichter. Am Tag danach: ein Müllhaufen. Zigarettenstummel und Verpackungen auf dem Boden, vom Wind zerfetzte Pavillons und Zelte, die liegen bleiben. Dazu kommt der unsichtbare Teil der Verschmutzung: die Energie für die Beleuchtung und der Diesel für die Trucks, die das Equipment für die Festivals bringen. Keine zu 100% saubere Sache, das dachten sich auch Katrin Wipper und Sarah Lüngen, die beide lange als Tourmanagerinnen, Fahrerinnen oder Bookerinnen für Festivals oder Konzerte gearbeitet haben. Wie das anders gehen kann? Erzählen die beiden allen aus der Musikindustrie, die auf ihre Nachhaltigkeitsberatung namens „The Changency“ zukommen.

© Nadine-Kunath
Wollen die Festivalbranche auf ihrem grünen Weg beraten: Sarah Lüngen (r.) und Katrin Wipper von „The Changency“

Sicher hört Ihr nicht selten den Satz: Das nachhaltigste Konzert oder Festival ist das, was gar nicht stattfindet. Was erwidert Ihr darauf?

Sarah Lüngen: Dass kein Konzert auch keine Lösung sein kann. Unsere bloße Existenz verursacht CO₂, und es ist keine schöne Vorstellung, nur noch in der eigenen Wohnung zu sitzen. Wir sind uns bewusst, dass Konzerte und Festivals viel CO₂ emittieren, wollen aber das Beste draus machen. Events haben diese Superkraft, viele Menschen zu erreichen und auf den Weg mitzunehmen hin zu einer nachhaltigeren Welt. Das haben wir uns zur Aufgabe gemacht.

Ihr habt mitten in der Pandemie, als niemand wusste, wie und ob es überhaupt weitergeht mit der Konzertbranche, eine Agentur gegründet, die zu nachhaltigen Konzerten berät. Wie kam es dazu?

Sarah Lüngen: Wir hatten keine Arbeitsgrundlage mehr und Nachhaltigkeit hat uns schon ewig umgetrieben. Erst haben wir uns bei „Music Declares Emergency“ (Anm. d. Red: Zusammenschluss von Menschen aus der Musikbranche, die über den Klimanotstand aufklären und zum Handeln aufrufen) aktivistisch engagiert, aber dann schnell gemerkt, dass uns das nicht reicht, und mehrere Weiterbildungen gemacht. Dabei entstand das Projekt „Plant a Seeed“, eine Konzertreihe der Band Seeed, die wir möglichst nachhaltig gestalten wollten und bei der zugleich wissenschaftliche Daten zur Nachhaltigkeit erhoben werden sollten. Das Konzept war zu schade für die Schublade, also haben wir es der Band vorgestellt. Die Konzerte wurden dann tatsächlich unser erster Auftrag. 

Plant a Seeed

Fünf ausverkaufte Großkonzerte in der Berliner Wuhlheide, Dutzende Ideen, wie Nachhaltigkeit bei einem Konzert umgesetzt werden kann, eine Studie: Die Band Seeed und „The Changency“ haben gemeinsam mit der Berliner Hochschule für Technik unter dem Namen "Plant a Seeed" geprobt, wie ein grünes Konzert aussehen kann. Es gab Fahrradparkplätze und einen Aufruf, ohne Auto anzureisen, es gab Wasserspender für die Crew und ausschließlich vegetarisches/veganes Catering sowie Foodsharing, nachhaltiges Merchandise und LEDs für die Bühnenshow, um nur ein paar Dinge zu nennen. Zudem befragten Student:innen die Konzertbesucher:innen nach ihrem Verhalten und Bestreben in Sachen Nachhaltigkeit.

Die Ergebnisse: 87 Prozent der Emissionen entstanden durch die An- und Abreise der Zuschauer:innen. Zwar wird bei einem Konzert so viel CO₂ emittiert wie von 19 Menschen in einem Jahr (gut 200 Tonnen). Allerdings wurde 60 bis 80 Prozent weniger Strom verbraucht, als wenn alle Besucher:innen zu Hause gesessen hätten. Dank Taschenaschenbecher konnten zudem 3250 Zigarettenstummel gesammelt werden, die nicht auf dem Boden zurückblieben und so potenziell 3,25 Mio. Liter Grundwasser hätten verschmutzen können. Viele Besucher:innen konnten sich außerdem vorstellen, im Sinne der Nachhaltigkeit vegan zu essen oder weniger Angebot bei der Auswahl der Speisen zu haben.

Nachhaltigkeit ist inzwischen für viele Unternehmen ein wichtiger Wert geworden, zumindest nach außen. Hattet Ihr das Gefühl, auch in der Musikbranche ernst genommen zu werden mit Eurem Ansinnen?

Sarah Lüngen: Ja, die Branche hat richtig Bock, das anzugehen. Allein die Anzahl an Bands, die sich gerade hinter den Kulissen damit auseinandersetzt, wie nachhaltiges Touren geht. Nachhaltigkeit ist aber immer ein Prozess, man kann eigentlich nie einen Haken dransetzen oder sich darauf ausruhen, was man schon geschafft hat. Das sagen wir meist zu Beginn einer Beratung, um Frust zu vermeiden. Es ist auch kein Ehrenamt, das eine Person übernehmen kann, daran müssen alle mitarbeiten. Nachhaltigkeit ist kein Add-on, wir müssen es schaffen, ein neues Normal zu integrieren. Und gleichzeitig die belohnen, die sich schon bemühen, statt sie abzustrafen, noch zu wenig zu tun.

Katrin Wipper: Was viele auch vergessen: Nachhaltigkeit ist nicht nur Ökologie, es geht zum Beispiel auch um faire Arbeitsbedingungen oder einen barrierefreien Zugang zu Konzerten.

© Dennis-Schinner
Das Festival „Orange Blossom Special“ möchte sowohl sozial als auch ökologisch nachhaltig handeln. Die Crew hat unter anderem ein „Kollektiv Nachhaltigkeit“ ins Leben gerufen und einen Code of Conduct für Besucher:innen geschrieben.

Jetzt mal konkret: Welcher Teil eines Konzerts oder Festivals treibt die Emissionen nach oben?

Sarah Lüngen: Es gibt drei Bereiche die am meisten CO₂ verursachen: Mobilität nimmt bei allen Bilanzen, die wir kennen, den größten Part ein, das sind vor allem die Anreise der Besuchenden und die Logistik hinter der Bühne. Das ist ein Punkt, dann noch Ernährung und Energie. Gerade das Mobilitäts-Problem bekommen wir nur gemeinsam gelöst, Band und Crew. Aber auch die Zuschauenden müssen sich bemühen, ihre Anreise nachhaltig zu gestalten.

Und was richtet der ganze Müll an?

Abfall ist das für die meisten sichtbarste Thema, fällt in der CO₂-Bilanz von Konzerten aber oft kaum auf.  

Wie sehen Eure Vorschläge für nachhaltige Festivals aus?

Katrin Wipper: Ganz vielfältig. Das können bewachte Parkplätze für Fahrräder sein. Trinkwasserspender für die Crew oder Taschenascher, damit keine Zigaretten auf den Boden geworfen werden. Und ein veganes oder zumindest vegetarisches Essensangebot. Aber es kommt auch auf die Größe der Veranstaltung an: Nachhaltige Mehrwegbecher gibt es womöglich gar nicht ad hoc in der richtigen Stückzahl für große Festivals, genauso wenig wie Komposttoiletten. Kleine Veranstaltungen bis 5000 Menschen sind viel leichter nachhaltig zu gestalten.

Für die Band und Crew ist es ein Job, Zuschauer:innen begreifen ein Konzert aber als etwas Hedonistisches, eine Flucht aus dem Alltag. Beim „Futur2“-Festival in Hamburg sollen Besucher:innen aufs Fahrrad steigen für die Energiegewinnung. Schreckt das die Leute nicht eher ab?

Katrin Wipper: Es ist wichtig, den Fokus vom Verzicht wegzulenken. Man muss es irgendwie schaffen, die Leute auf spielerische Art und Weise mitzunehmen, sie zum Beispiel partizipieren zu lassen. Energie ist ein schwer greifbares Thema, aber wenn man sagt: Du strampelst hier mit dem Fahrrad für das Licht auf der Bühne oder dass dein Kaffee gebrüht werden kann, bist du direkt anders motiviert. Das geht in die Richtung Gamification. Die Ansprache muss natürlich immer zur Zielgruppe passen. Zum „Futur2“ gehen Leute, die sich dafür interessieren, wie Festivals nachhaltiger gestaltet werden können. Aber manchmal braucht es vielleicht andere Anreize wie eine Belohnung. Als wir unsere Umfrage beim Seeed-Konzert gemacht haben, haben wir es zuerst versucht mit: „Habt ihr mal eine Minute für die Wissenschaft?“. Hatte niemand, weil alle lieber Bier trinken und Musik hören wollten. Aber als die Leute limitierten Seeed-Merch aus alten Bühnenbannern gewinnen konnten, haben plötzlich tausend von ihnen bei der Umfrage mitgemacht.

© Malte Metag
Strampeln für den Strom: Das „Futur2“-Festival in Hamburg-Entenwerder ist energieautark. Dafür sorgen unter anderem Solarpaneele und die Besucher:innen auf Rädern. Nach 22 Uhr wird Musik nur noch über Kopfhörer abgespielt, bis die Batterien leer sind. Es gibt 2000 bewachte Fahrradplätze, wo das Festival noch nicht kreislauffähig ist, wird kompensiert.

Wenn Billie Eilish vor einer riesigen Menge Menschen sagt, sie ernähre sich pflanzlich,
kann sie viele ihrer Fans auch dafür begeistern.

Katrin Wipper von „The Changency”

Auf Konzerten ist auch die Vorbildfunktion total entscheidend. Wenn Billie Eilish vor einer riesigen Menge Menschen sagt, sie ernähre sich pflanzlich, kann sie viele ihrer Fans auch dafür begeistern. Ich habe bei einem Vortrag mal den Satz gehört: „Nobody has a favourite politician but everyone has a favourite musician“. Jede:r hat eine:n Lieblingsmusiker:in, und wenn der oder die etwas anstößt, löst das auch etwas in den Fans aus.

Trotzdem denken viele bei Nachhaltigkeit direkt an Verzicht. Ich darf keine Wurst mehr essen auf dem Festival, soll mit dem Rad hinstrampeln. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus?

Sarah Lüngen: Ja, Menschen denken oft in Problemen, nicht in Lösungen. Wir brauchen eine neue Sprache für Nachhaltigkeit. Die Menschen sollen sich nicht eingeschränkt fühlen oder verzichten. Eher nach dem Motto: Saubere Luft für alle, wenn Menschen mit dem Rad oder der Bahn anreisen.

Gerade Festivals finden oft weit draußen statt, wo zwar niemand lärmbelästigt wird, eine Anreise mit dem Rad aber quasi verunmöglicht wird. Sind die Festivals der Zukunft besser in der Stadt aufgehoben?

Katrin Wipper: Am besten direkt in Bahnhöfen, das wäre meine Utopie.

Wurde sogar schon Realität, zuletzt spielte Johannes Oerding an vier Bahnhöfen, an einem Tag.

Wunderbar. Es ist auch Aufgabe der Kommunen, einen Platz für Veranstaltungen zu etablieren, der infrastrukturell gut angebunden ist. Aber dafür muss die Nachfrage für solche Dinge auch steigen. Deshalb ist es wichtig, seine Stimme zu erheben, egal ob Künstler:innen, Besucher:innen oder Veranstalter:innen. Das gilt auch für die kleineren Dinge: Verlangen viele Musiker:innen bei Festivals LEDs für ihr Bühnenequipment oder elektrifizierte Logistik, erhöht das den Druck und kostet erst mal gar nichts.

Noch mal zum Mitnehmen: Was können Besucher:innen tun?

Sarah Lüngen: Wenn möglich mit dem Rad oder der Bahn anreisen und sagen: Heute probiere ich vielleicht mal das vegane Gericht. Und bei Festivals: Unbedingt Zelte und Pavillons wieder mitnehmen und wenn möglich keine eigenen kaufen, sondern nur bei Freund:innen oder Familie leihen.

© Wurzelfestival
Tanzen neben Bäumen, der DJ legt im Holzhäuschen auf: Dem „Wurzelfestival“ in Brandenburg ist Nachhaltigkeit sehr wichtig. Auch die soziale: Das gesamte Gelände ist barrierefrei.

Diese Festivals proben die grüne Revolution

Melt, Ferropolis
u.a. CO₂-Kompensation, 1 bis 2 Euro pro Ticket Spende an NichtregierungsorganisationMehrweggeschirr, Kooperation mit den Tafeln, regionale Produkte, kostenloses Trinkwasser. Eigene Fotovoltaikanlage und Fahrgemeinschaften der Crew, lokale Herstellung der Outfits in Halle (Saale)
Anreise: mit der Regionalbahn bis Gräfenhainichen; von dort fährt ein Shuttle nach Ferropolis

Wurzelfestival, Niedergörsdorf
Barrierefreier Zugang, Inklusionstickets, Fahrradgarage, Trinkwasserstellen, Mietcampingausrüstung, Unterstützung von Aufforstungsprojekten, Müllsammelaktionen
Anreise: mit dem Regionalzug nach Jüterbog, von dort fährt ein Shuttle zum Festivalgelände; Alternative: mit dem Regionalzug nach "Altes Lager" und 3 Kilometer zum Festival wandern

Tollwood, München
Ökostrom, emissionsarme Veranstaltungstechnik, Fairtrade-Produkte, kostenfreie Stände für NGOs, Infoveranstaltungen zu verschiedenen Nachhaltigkeitsthemen
Anreise: Das Festival findet im Olympiapark in München statt, der Stadtbus 144 fährt bis zum Gelände. Alternativen mit der Tram und anderen Bussen auf der Webseite

Paléo_Festival, Nyon am Genfersee
Sonderzug, Ökostrom, vegetarisch-vegane Kost, Mülltrennung, Fahrradparkplätze, Mehrweggeschirr, Flyerverbot, Bodensanierung im Anschluss
Anreise: Vom Bahnhof Nyon fährt ein Shuttlezug bis nach L'Asse zum Gelände

Wacken Open Air, Wacken
Das Festival will bis 2023 kreislauffähig sein. Schon jetzt: Verleih von Akkus mit Solarenergie, Umstellung des Fuhrparks, Foodsharing, Weiterverwendung von Schlafsäcken und Zelten
Anreise: Vom Bahnhof Itzehoe fährt ein Shuttlebus nach Wacken

Orange Blossom Special, Beverungen
Es gibt Mülltrennung und Upcycling, Ökostrom und Mehrwegbecher, keine Stromaggregate mit Dieselantrieb, Taschenaschenbecher und weitere Bemühungen
Anreise: Bahnhof Lauenförde/Beverungen, von dort 40 Minuten zu Fuß (oder mit dem Taxi)

Hinkommen mit dem Deutschland-Ticket:

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Es kostet 49 Euro monatlich und ist bundesweit überall im Nah- und Regionalverkehr gültig. Egal ob Sie mit Bus oder Bahn fahren, seit 1. Mai brauchen Sie deutschlandweit nur noch ein Ticket.
Das Deutschland-Ticket ist als monatlich kündbares Abonnement auf bahn.de erhältlich, außerdem unter anderem im DB Navigator und im DB Streckenagent.
Um Ihre Reise mit dem Deutschland-Ticket zu planen, setzen Sie in der Reiseauskunft auf bahn.de den Haken bei „Nur Nahverkehr“. In der App DB Navigator wählen Sie unterhalb der Datums- und Zeitauswahl die Filter-Fläche, dann unter „Optionen“ den Reiter „Verkehrsmittel“, wählen Sie dort den Schieber „Nur Nah-/Regionalverkehr“ aus.

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