Ott sei Dank

Sie hat den Schlager nahbar gemacht: Bevor sie zum Star wurde, war das Leben von Kerstin Ott ein Auf und Ab. Wie sie sich aus Krisen befreit hat, warum ihre Songtexte immer wahr sind und weshalb Müll wichtiger ist als Ruhm, erzählt sie im Interview.

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Lesezeit: 9 Minuten
Marc Krause
Heute nah dran: Der enge Kontakt zum Publikum war lange ein Problem für Kerstin Ott.

Bad Sooden-Allendorf ist ein friedlicher Ort. Im Norden ist die Grenze zu Niedersachsen nicht weit, die Werra schlängelt sich pittoresk um die Fachwerkaltstadt herum, der Himmel über den bewaldeten Hügeln ist blau bis schäfchenbewölkt. Die Bässe, die sich gerade auf die Landschaft legen, passen so mittel hierher. Kerstin Ott, 40, hat Soundcheck, heute Abend wird sie auf der Freilichtbühne auf dem Sportplatz, zur Musik vom Band, live singen, vor 2000 Schlagerfreund:innen, nicht nur aus Nordhessen. Jetzt ist Probe, und Ott, diese unwahrscheinlichste Erscheinung des deutschen Schlagers, singt zu ihrer aktuellen Single „Der Morgen nach Marie“, eine Hand in der Hosentasche, der Gang lässig schlendernd, als wäre sie auf dem Weg zum Zigarettenholen am Kiosk. Früher wäre sie aufgeregter gewesen. Denn bis vor ein paar Jahren war das hier undenkbar, nicht nur für Kerstin Ott selbst.

Frau Ott, Sie haben mal gesagt, dass Ihnen das mit den vielen Leuten, die Ihnen zusehen, manchmal unheimlich und noch öfter zu viel wird.

Das hat sich etwas gegeben, beides ist für mich normaler geworden – und wie jeder Mensch freue ich mich, dass wir in diesem Jahr überhaupt wieder auf Tour gehen dürfen. Aber eigentlich habe ich erst jetzt ganz begriffen, wie krass es war, in diese Achterbahn geworfen worden zu sein.

Welche Achterbahn?

Die letzten zweieinhalb Jahre. Davor lief alles auf Hochtouren bei mir, und plötzlich wurde der Stecker gezogen, von 100 auf null. Und jetzt: alles wieder von null auf 100.

Nicht so Ihr Ding?

Nee. Ich mag es, wenn alles moderat in einem Tempo bleibt.

Apropos Tempo: Sie haben Fußball gespielt, bei TuRa Meldorf.

Und gar nicht so schlecht. Verbandsliga.

Ihre Position war …

… im Sturm. Ich war die Flügelflitzerin.

Wie man hört: mit Torgarantie.

Ich habe auch andere Attribute über mich gehört. „Chancentod“ zum Beispiel. Wie auch immer: Stimmt schon, ich war schnell.

Aber mit Mitte 20 haben Sie aufgehört. Warum?

Weil ich mich in meinem Job als Malerin selbstständig gemacht habe, da war mir die Verletzungsgefahr zu groß. Vier Wochen dickes Knie bedeuteten dann auch vier Wochen Einnahmenausfall.

Marc Krause

Da Tanzen nicht so Ihre Sache ist, wäre das auf der Bühne kein Problem. Da reagieren die Zuschauer nämlich ziemlich stark auf Ihre Lieder und nicht Ihre Moves. Wie entsteht ein Kerstin-Ott-Song?

Eigentlich immer im Alltag. Kann sein, dass mir ein lustiges Wort begegnet, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Dass mich etwas ärgert, etwas stresst, etwas berührt. Wie bei „Song für Romy“.

Wer ist Romy?

Ein Fan von mir, die oft auf meinen Konzerten war und mir geschrieben hat.

E-Mails?

Briefe. Ich bekomme tatsächlich noch Fanpost auf Papier! Romy hat Trisomie 21, und sie hat mich schon auf den Konzerten angerührt, auch die Mühe, die sie sich mit ihrer Post gemacht hat. Jedenfalls ist sie eine richtige Brieffreundin geworden.

Worum geht es in dem Song für sie?

Um Liebe. Romy hat mir geschrieben, dass sie ihren ersten festen Freund hat. Aber in ihrem Umfeld wird das nur belächelt, keiner nimmt diese Liebe ernst. Sie hat mich gefragt, ob ich darüber nicht einmal ein Lied schreiben will. Wollte ich.

Ist ja auch ein super Thema.

Ganz genau. Wir alle wollen schließlich lieben und geliebt werden, und jeder hat ein Recht darauf. Was also gibt es da zu belächeln?

So ist also auch „Was weißt du von meiner Liebe“ entstanden.

Ja, im Austausch mit einem anderen Menschen. Also auf die schönste Art. Aber ich habe schon eine seltsame Berufskrankheit entwickelt.

Welche?

Ich klopfe alles, was mir passiert, darauf ab, ob da eine Geschichte für einen Song drinsteckt, oder suche fiebrig nach diesem einen Wort, um das herum sich etwas stricken lässt. Es kommt aber auch vor, dass ich vor dem berüchtigten weißen Blatt Papier sitze und mir nichts einfällt.

Wie lange?

Manchmal sind es drei, vier Stunden, in denen nichts geht. Oft weiß ich das aber auch sofort und mache etwas anderes. Ist halt schwierig, wenn Abgabetermine anstehen.

Die Sie gern einhalten möchten.

Das verführt dann dazu, irgendeinen Quatsch aufs Album zu werfen. Inzwischen kann ich aber gut sagen: Lasst uns verschieben und auf etwas Besseres warten. Mir ist eben wichtig, das, was ich auf der Bühne transportieren will, auch zu fühlen.

Marc Krause
Lärm vor dem Sturm: Beim Soundcheck singt Ott für eine leere Wiese. Drei Stunden später stehen dort 2000 enthusiastische Fans.

Ist im Schlager sonst ja nicht ­unbedingt oberste Priorität.

Es gibt bestimmt auch den einen oder anderen, den es berührt, über Berge und Blumenwiesen zu singen. Anderen ist der Inhalt ihrer Songs vielleicht nicht wichtig. Das wäre aber eben nicht mein Ding.

Wieso eigentlich Schlager?

Weil mir der Gedanke gefiel, da reinzu­gehören und die deutsche Sprache zu pushen.

Aber offen lesbisch, jungenhaftes Auftreten – Sie sind eine Ausnahme­erscheinung in dem Genre. Und Ihre Musik könnte gut auch als Deutschpop durchgehen.

Mir kann doch kein Mensch erzählen, dass es heute noch diese klaren Grenzen gibt. Vor 20 Jahren hätte ich ein Problem damit gehabt, meine Sachen im Schlager zu verorten. Aber das ist alles sehr modern geworden mit den Beats, die unter den Stücken liegen.

Bleibt noch die Frage nach Ihrer Andersartigkeit.

Ich bin nicht anders, um zu rebellieren. Ich bin nun mal so. Ist doch gut, dass der Schlager das nicht nur aushält, sondern offen empfängt.

Ich bin eigentlich ein sicherheitsliebender Mensch, ich mag keine Veränderungen.

Kerstin Ott

Kerstin Ott hat eine, sagen wir mal, schwierige Geschichte, über die sie nicht mehr sprechen mag. Erzählt hat sie sie aber trotzdem, in ihrer Auto­biografie „Die fast immer lacht“ zum Beispiel. In Berlin ist sie 1982 geboren, im Westteil. Ihr Vater spielte keine Rolle, ihre Mutter war mit der Erziehung von Kerstin und ihrem Bruder überfordert. Sie kam ins Heim und später zu nicht sehr liebevollen Pflegeeltern in Dithmarschen. Sie erzählt in dem Buch von ihrer Spielsucht mit 18, von ihrer ersten Ehe, von ihren Ausbildungen bei der Polizei und in einem Malerbetrieb. Und von den Anfängen in der Musik. 2005 schrieb sie „Die immer lacht“ für eine Freundin „in fünf Minuten am Küchentisch“, nahm an einem Talentwettbewerb teil, scheiterte an ihrer Aufregung und beschloss: Bühne, das ist nichts für mich. Aber es kam anders.

Sie waren fast Mitte 30, als plötzlich das Musikbusiness an Ihre Tür klopfte.

Ich war glücklich in meinem Leben. Ich arbeitete gut beschäftigt im Malerhandwerk, lebte mit meiner heutigen Frau und zwei Kindern zusammen …

Und wurden dann von einer Freundin auf einen Remix Ihres Songs „Die immer lacht“, den Sie als Hobbymusikerin aufgenommen hatten, auf Youtube hingewiesen.

Genau. Den ich dann mit den Jungs von Stereoact, die den gemacht hatten, noch mal richtig aufgenommen habe.

Der Rest ist Musikgeschichte: Wochenlang hielt sich das Ding in den Top Ten, bis heute sind 1,3 Millionen Einheiten verkauft. Und für Sie war das der Einstieg in eine Karriere im Show­geschäft. Ein Traum, oder?

Na ja. Man darf nicht vergessen: Ich hatte diese Wahnsinns-Achterbahnfahrt hinter mir, die mein Leben war – und zu diesem Zeitpunkt war endlich alles gut. Meine Selbstständigkeit lief so, wie ich mir das vorgestellt hatte, wir kamen über die Runden. Und das sollte ich aufgeben für etwas, das im ersten Moment komplett unsinnig erscheint? Ohne Garantien?

Wo also die nächste Achterbahn quasi programmiert ist.

Richtig. Ich bin ein sicherheitsliebender Mensch, ich mag eigentlich keine Veränderungen. So dachte ich: Da habe ich nichts zum Festhalten. Aber dann habe ich einen Manager engagiert und mit ihm beschlossen: Wir machen das ein halbes Jahr lang.

Warum ein halbes Jahr?

Weil ich das überblicken konnte. Ich wusste, wo und wie oft ich live auftrete, und ich wusste, was ich in diesem halben Jahr verdienen würde. Und eine gute Zeitspanne, um herauszufinden, ob ich es auf der Bühne und im Fokus der Öffentlichkeit überhaupt aushalte.

Scheint ja funktioniert zu haben.

Zumindest das Finanzielle. Für einen Auftritt von einer halben Stunde am Abend hab ich Kohle bekommen, für die ich als Handwerkerin einen Monat lang arbeiten gegangen wäre. Es wäre gelogen zu sagen, dass das nicht verlockend war.

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Ohne Attitüde: Posieren ist nicht Otts Ding, auch auf der Bühne nicht. Gut so – geliebt wird die Sängerin schließlich auch für ihre Bodenständigkeit.
Marc Krause

Und vom Geld abgesehen?

Habe ich anderthalb Jahre gebraucht, um mich an dieses neue Leben zu gewöhnen.

Was war in dieser Zeit?

Ich war vor jedem Auftritt schweißnass, habe gezittert, war nicht ansprechbar. Ich wusste nicht, was meine Rolle auf der Bühne ist. Ich bin ja auch viel in Diskotheken aufgetreten, wo mir nicht zwingend der größte Respekt entgegengebracht wurde. Das war echt hart.

Wie übersteht man diese Angst vor der Bühne?

In den ersten vier Monaten habe ich mich richtig betrunken vor jedem Auftritt. Und es waren viele Gigs in der Woche.

Und das bei jemandem, der seine eigene Neigung zur Sucht vorher schon erlebt hat.

Ich hatte mich ja schon selbst aus der Spielsucht geholt. Bei den Auftritten war es ähnlich – ich habe gemerkt, dass das mit dem Alkohol nicht geht. Das erste Mal nüchtern auf der Bühne war wieder eine neue Erfahrung. Ich habe mich da irgendwie durchgebissen und nach den anderthalb Jahren verstanden, was ich da mache und warum ich es tue.

Eigentlich wollten Sie über Ihre Spielsucht nicht mehr reden. Aber wissen Sie noch, was Sie damals an den Daddelautomaten getrieben hat?

Klar. Ich wollte vor der Realität fliehen, die war ja nicht so toll. Und ich wollte Adrenalin. Und ich dachte, ich wäre schlauer als der Kasten.

Wirklich?

Nein. Man weiß genau, dass man nichts gewinnt, sondern sehr viel verliert. Andererseits gehörte das Spielen auch zu meiner Überlebensstrategie. Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn ich nicht gedaddelt hätte.

Ihr eigene Befreiung daraus war sehr kreativ: Sie haben sich selbst in den Spielhallen in der ganzen Umgebung striktes Hauverbot erteilt und das auch dem Personal dort klargemacht.

Weil ich wusste, dass es nicht anders ging. Die Alternative wäre ein Entzug in einer Klinik gewesen. Das wollte ich nicht.

Sie haben jetzt mehrfach von tiefen Gruben und schwierigen Situationen erzählt, aus denen Sie sich selbst befreit haben. Woher haben Sie die Werkzeuge dafür?

Wahrscheinlich aus der Woche in Bayern, in der ich mal ein Coaching mitgemacht habe. Da ging es ziemlich zur Sache. Das war Teil einer Ausbildung, die ich dann aber nicht beendet habe.

Was haben Sie in der Woche gelernt?

Wir alle mussten uns ziemlich nackig machen und tief graben, das kannte ich so nicht. Da habe ich tatsächlich einige Werkzeuge in die Hand bekommen, wie ich mit Situationen umgehen kann, die mich triggern. Die konnte ich dann tatsächlich anwenden, wenn diese Situationen hochploppten. Das war unglaublich erhellend.

Sie haben die Kinder Ihrer Frau adoptiert. Wie war das für Sie, auch vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Geschichte?

Bevor ich mit Karolina zusammengekommen bin, war das für mich eine absurde Vorstellung. Aber wenn du den richtigen Menschen triffst, dann ist auf einmal alles möglich, sogar, das eigene Leben mit zwei Teenagermädchen zu teilen. Ich war überrascht, wie schnell ich mich nicht nur an die Situation gewöhnt hatte, sondern wie schnell es auch richtig gut war.

Marc Krause

Zu Hause bin ich nicht die, die vor 20 000 Leuten auftritt. Zu Hause ist auch bei uns die Frage entscheidend, wer den Müll rausbringt.

Kerstin Ott

Dabei haben Sie gar nicht vorgelebt bekommen, wie man eine Familie ist.

Deshalb hatte ich auch Respekt davor. Aber ich habe auch gelernt: Das, was ich mir immer unter einer Familie vorgestellt habe, war gar nicht die Realität.

Und wie war es für die Mädchen? Die hatten ja plötzlich zwei Mütter zu Hause.

Die waren von uns allen am coolsten damit. Für sie war das in kürzester Zeit Normalität. Und als ich dann irgendwann Popstar wurde …

… was unweigerlich die nächste Frage gewesen wäre …

… hat das für sie rein gar nichts verändert. Zu Hause bin ich nicht die, die vor 20 000 Leuten auftritt und Interviews gibt. Zu Hause ist auch bei uns die Frage entscheidend, wer den Müll rausbringt.

Also hat sich auch Ihr Gefühl für Feste wie Weihnachten geändert? In Ihrem Buch haben Sie geschrieben, dass Sie die lange gehasst haben, weil sie in der Pflegefamilie so schrecklich waren.

Absolut. Mittlerweile freue ich mich drauf, und auch das hat natürlich mit meiner Familie zu tun. Und mit der Möglichkeit, mir ungestraft den Bauch vollzuschlagen.

Marc Krause
Los geht’s: 16 Stücke stehen auf Kerstin Otts Setlist in Bad Sooden-Allendorf.

Zufallskarriere

Geboren am 17. Januar 1982 in West-Berlin. Sie wächst in zwei Pflegefamilien in Dithmarschen auf. Den ersten Auftritt hat sie als Kind im Chor von Rolf Zuckowski. Ihr Lehrberuf ist Malerin und Lackiererin, eine Ausbildung zur Polizistin bricht sie ab. Mit 23 schreibt sie „Die immer lacht“. Ein Hit wird der Song elf Jahre später – weil zwei DJs einen Remix veröffentlichen. Erfolg: 2021 landet ihr viertes Album „Nachts sind alle Katzen grau“, genau wie die drei Vorgänger, in den Top-Ten. Neue Songs sind für das Album „Best Ott“ (ab 7.10.) angekündigt. Familie: 2017 heiratet Ott ihre Partnerin Karolina. Das Paar lebt mit zwei Töchtern bei Heide in Holstein.

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe Oktober 2022

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