Volle Ladung Leben

Sie mag Extreme, nicht nur in ihren Rollen. Im Interview mit DB MOBIL erzählt Schauspielerin Jella Haase, warum sie immer wieder ausbricht – und sich trotzdem ab und zu nach Spießigkeit sehnt

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Foto: David Fischer für DB MOBIL

Leicht hektisch wirkt Jella Haase, als sie durch den Park am Gleisdreieck in Berlin-Kreuzberg läuft, um ein passendes Plätzchen für das Titelinterview mit DB MOBIL zu finden. Wüsste man es nicht besser, man würde sie mit ihrem weißen Jutebeutel, dem blauen Wollpulli in der Hand und dem verwuschelten Haar wohl für eine Studentin halten, die wegen einer WG-Party am Vortag zu spät zu ihrer Germanistikvorlesung kommt. Eine Studentin ist sie nicht, aber das Nachtleben liebt die 29-Jährige, die als eine der talentiertesten Schauspielerinnen ihrer Generation gilt.

Viele Zuschauer:innen werden sie noch mit der blonden Krawallgöre Chantal aus dem Komödienhit „Fack ju Göhte“ verbinden. Doch die hat sie lange hinter sich gelassen, etwa mit Filmen wie „Kriegerin“, in dem sie als eine ins Nazimilieu abrutschende Jugendliche zu sehen war, oder mit „4 Könige“, in dem Haase eine Drogensüchtige in der Jugendpsychiatrie darstellt. Nun kommt sie mit dem Drama „Lieber Thomas“ über das Leben des Schriftstellers Thomas Brasch ins Kino.

Als Jella Haase im Park im Halbschatten einer Birke fündig geworden ist, lässt sie ihren Pullover auf den feuchten Rasen fallen und macht es sich darauf bequem. Ein guter Platz für ein Gespräch über Selbstzweifel, Kontrollverlust, durchfeierte Nächte und Samstagmorgen auf dem Wochenmarkt.

Foto: David Fischer für DB MOBIL
Frohnatur: Jella Haase lacht oft und laut. Ihre ganze Familie sei ein fröhlicher Haufen. Und ein schadenfroher: „Wenn sich jemand irgendwo stößt, lachen alle anderen sich schlapp“

Frau Haase, stimmt es, dass Ihre Eltern Sie als Kind regelmäßig auf Punk-Konzerte mitgenommen haben? 

Ja, zum Beispiel auf die Gigs von Atti und ihrer Band Payback 5. Mit Atti bin ich 2018 auf einer Tour ihrer damaligen Band Bluttat durch Kolumbien gereist. Sie ist bis heute für mich große Schwester, zweite Mutter und Idol in einem.   

Was macht sie so besonders? 

Atti ist der freieste Mensch, den ich kenne. Sie hat immer gemacht, was sie wollte, hat sich nie etwas vorschreiben lassen – das hat mich geprägt. Sie hat mir beigebracht, dass man sich nicht an Normen halten muss. Vermutlich war sie für mich auch der früheste Zugang zu einer Form von Kunst.  

Spielt Punk in Ihrem Leben noch eine Rolle? 

Ich habe nie viel Punk gehört – nur Bluttat und ein bisschen Sex Pistols. Ich bin keine klassische Punk-Göre. Vorhin beim Fotoshooting war mir zum Beispiel mehr nach Musik, bei der die Seele anders mitschwingt. Trotzdem mag ich generell etwas Schäbiges in der Musik. Etwas, bei dem man ausbrechen kann.  

Foto: David Fischer für DB MOBIL
Studiotanz: Beim Shooting liefen Jazzmusik und Euro-Disco der Neunziger

Woher kommt Ihr Ausbruchsdrang? 

Das ist vielleicht mein Wesen. Ich bin wuselig, sprudelnd, überbordend. Als Kind hatte ich jeden Tag meine fünf Minuten. Ich war immer schon sehr da. Das kann man durchaus auch anstrengend nennen. (Grinst)  

Warum sind Sie Schauspielerin geworden? 

Ich habe schon als Kind die Kamera gesucht und meine Eltern genötigt, mich zu filmen, wenn ich beispielsweise Zirkusdirektorin gespielt habe. Da war ein Spieltrieb in mir, gegen den ich mich nicht wehren konnte. Etwas in mir wollte raus. Schauspielerei ist vielleicht der Versuch, diese Ausbrüche festzuhalten – ein Spagat.

Haben Sie ein Beispiel für diesen Spagat?

Gerade habe ich für die Netflix-Serie „Kleo“ vor der Kamera gestanden. Ich spiele darin eine DDR-Spionin, die 1987 in Westberlin einen Geschäftsmann umbringt und kurz darauf selbst aus fadenscheinigen Gründen von der Stasi verhaftet wird. Nach jedem Drehtag war alles in mir aufgerieben.

Wie äußert sich so etwas?

Alle Kanäle sind offen, sodass ich manchmal gar nicht mehr weiß: Welche Gefühle kommen jetzt aus Kleo und welche aus mir selbst? Viereinhalb Monate habe ich die Geschichte eines anderen Menschen gelebt. In solchen Zeiten verliere ich manchmal die Verbindung zu mir selbst. Ich weiß, dass diese Rollen ein Seelenbeben in mir auslösen können, und das macht mir häufig Angst. Gleichzeitig reizt mich diese emotionale Grenzüberschreitung.

Wer fängt Sie in solchen Situationen auf?

Meine Familie, meine Freunde. Ich weiß auch, dass ich bewusst Pausen machen muss. Aber ich bin nicht sonderlich gut im Abschalten. Wenn ich mal einen freien Tag habe, was selten vorkommt, erwische ich mich dabei, wie ich mir den gleich wieder mit Terminen zuballere.

Berliner Schnauze 
Geboren am 27. Oktober 1992 in Berlin-Kreuzberg als Tochter einer Zahnärztin und eines Technikers. In Kreuzberg wohnt Haase auch heute noch, nur ein paar Straßen entfernt von ihren Eltern. Sie sagt, sie sei eine Berlin-Patriotin. Ihre jüngere Schwester bezeichnet Haase als ihren wichtigsten Menschen. Noch heute bauen die Geschwister in der elterlichen Wohnung regelmäßig Bettenlager, um gemeinsam zu übernachten. Ihr erster Kinofilm „Lollipop Monster“ läuft 2011, bekannt wird sie 2013 mit „Fack ju Göhte“. Im selben Jahr macht sie Abitur. Ab 4. November ist sie im Kino in dem Drama „Lieber Thomas“ neben Albrecht Schuch zu sehen.

Foto: David Fischer für DB MOBIL

Meine Eltern haben alles richtig gemacht. Ich durfte so sein, wie ich bin.

Sind Sie ein optimistischer Mensch?

Ich habe eine behütete Kindheit genossen, bedingungslose Liebe erfahren. Und so blöd und küchenpsychologisch das klingen mag: Dadurch wurde in meiner Persönlichkeitsentwicklung ein wichtiger Grundstein dafür gelegt, riesengroßes Vertrauen ins Leben zu haben. Meine Eltern haben alles richtig gemacht. Ich durfte so sein, wie ich bin. Dafür bin ich extrem dankbar. Selbstzweifel habe ich aber trotzdem.

Wie äußern sich die?

An manchen Tagen bin ich fragil und unsicher. Dann sind mir alle Blicke zu viel.

Was löst Ihre Selbstzweifel aus?

Ich denke oft, ich müsste ernster sein. Erwachsener. Eleganter. Geheimnisvoller, unnahbarer, trauriger. Aber ich weiß eben auch, dass ich das nicht bin.

Foto: David Fischer für DB MOBIL
Untypische Pose: die Schauspielerin in einem ruhigen Moment. Sie sei nicht sonderlich gut im Abschalten, sagt sie über sich selbst

Hilft es Ihnen, wenn Sie Figuren mit solchen Seiten spielen?

Das Ding ist ja: Ruhige, bedachte und aufgeräumte Personen spiele ich kaum. Meine Freundin Maria hat mal zu mir gesagt: „Jella, du wärst gerne ordentlich. Und du probierst es auch wirklich. Aber du bist es nun mal nicht.“ Und sie hat recht. Ich bin einfach unordentlich im Kopf. (Lacht)

Nur im Kopf?

Nein, auch so. Ganz schlimm!

Wie muss man sich das vorstellen?

Katastrophe! Ich brauche echt Hilfe. Haushalt sehe ich prinzipiell gar nicht ein. Unnötig. Komplett. Es ist so: Ich habe keine sonderlich lange Aufmerksamkeitsspanne. Und wenn ich zum Beispiel esse, dann ist diese Handlung in dem Moment abgeschlossen, da ich aufgegessen habe. Geschirr wegräumen gehört nicht mehr dazu. Das sorgt für Chaos.

Wie reagiert Ihr Umfeld darauf?

Meine Familie und meine Freunde kennen mich mittlerweile. Die wissen, dass man mir manchmal helfen muss. Ich liebe Ordnung ja auch – die hält bei mir bloß nie lange an. Als ich für einen Monat in Spanien gedreht habe, hat ein Freund von mir in meiner Wohnung gewohnt. Meine Schwester hat dem gleich gesagt: „Wenn Jella wieder da ist, muss alles picobello aussehen! In jedem Zimmer müssen Blumen stehen!“ Als ich zurückkam, bin ich fast umgekippt: Die Wohnung war noch nie so ordentlich. So stelle ich mir mein Leben vor!

Vielleicht sollten Sie Ihre Schwester als Personal-Life-Managerin einstellen.

Das ist der Plan. (Lacht) Aber zu meiner Entschuldigung: Ich habe auch einfach ein volles Leben.

Nervt Sie das?

Nein. Ich liebe es.

Foto: David Fischer für DB MOBIL

Mit Freunden auszugehen, zu feiern, sich in der Nacht zu verlieren, das ist das Größte.

Wünschen Sie sich mehr Spießigkeit?

Ja, manchmal. Ich habe ein perfektes Bild, wie ich samstagmorgens in blütenweißer Wäsche aufwache, auf den Markt gehe, Gemüse kaufe und dann bei einem guten Kaffee Zeitung lese. Das schaffe ich bloß viel zu selten. Wobei: In der Coronazeit hat so etwas häufiger geklappt, weil ich am Sonntag zumindest nicht verkatert war.

Klingt so, als würden Sie eine durchfeierte Nacht im Zweifelsfall dem Spießersonntag vorziehen.

Ja, mit Freunden auszugehen, zu reden, zu feiern und sich in der Nacht zu verlieren, das liebe ich einfach sehr. Es gibt einen Begriff dafür – von dem hat mir letztens jemand erzählt, der noch mehr zu tun hat als ich: „Revenge Bedtime Procrastination“ …

… was etwa bedeutet, die wenige Freizeit, die man hat, jedenfalls nicht aufs Schlafen zu verwenden.

Und weil ich selten zu Hause bin, nutze ich solche Gelegenheiten dementsprechend, wenn ich in Berlin bin – zumindest war das vor Corona so.

Wie war es für Sie, als die Pandemie losging?

Ich fand’s richtig nervig. Ich steckte gerade in den Endproben zum Theaterstück „Der Kaiser von Kalifornien“ von Alexander Eisenach an der Volksbühne und dachte erst: Geil, dann kann ich ja jetzt chillen und Pause machen – Hammer! Bis ich begriffen habe, dass man ja wirklich gar nichts machen und die freie Zeit überhaupt nicht nutzen konnte. Ich bin in ein richtiges Tief gefallen, wusste überhaupt nichts mehr mit mir anzufangen undhatte zwei Wochen lang durchweg schlechte Laune.

Und dann?

Hab ich mich dran gewöhnt. Es ist verrückt, wie anpassungsfähig man ist. Rückblickend ging das Leben danach superschnell wieder los. Ich hatte keine lange Pause.

Sie sind seit Ihrem elften Lebensjahr Vegetarierin. Was hat damals den Anstoß dazu gegeben?

Das war ein Beschluss meiner besten Freundin Mimy und mir in der siebten Klasse, nachdem wir im Unterricht einen Film über Massentierhaltung gesehen hatten. Vegan zu leben wäre natürlich noch besser. Schaffe ich nur nicht.

Auf was können Sie nicht verzichten?

Wein und Käse.

Kann jeder nachhaltiger leben?

Natürlich, aber als Schauspielerin habe ich andere Möglichkeiten als eine Privatperson. Dennoch ist das ein Zwiespalt: Einerseits möchte ich gerne Position beziehen, andererseits aber auch nicht dem Druck unterliegen, mich zu bestimmten Dingen äußern zu müssen.

Welche Plattform nutzen Sie vorwiegend, wenn Ihnen etwas auf dem Herzen liegt?

Instagram – obwohl ich lange kein Instagram haben wollte. Ich tue mich schwer und habe nicht immer dieses Mitteilungsbedürfnis in mir.

Wie stehen Sie generell zum Thema Smartphone?

Ich finde es furchtbar, wie inflationär man heutzutage das Handy rausholt, auf jeden Moment draufhält, reinschaut. Ich nehme mich davon nicht aus.

Wie handhaben Sie das?

Wie gesagt: Ich bin überhaupt nicht frei davon. Aber ich finde es wichtig, dass man sich analog auf die echten Momente einlässt. Ich muss mich oft auch selbst daran erinnern, zum Beispiel nicht immer schon den nächsten Moment zu planen oder zu schauen, was vielleicht gerade interessanter ist als das Gegenüber.

Was hat Sie als Schauspielerin mehr verändert, der Film oder das Theater?

Das Theater. Der Prozess des Probens, des Suchens, Anbietens, um wieder alles zu verwerfen und neu zu suchen – und neben tollen Kollegen auf der Bühne zu stehen, von denen so viele einfach eine große Spielfantasie mitbringen. Durch das Theater spiele ich zudem mit einer ganz anderen Physis und fühle mich mehr mit meinem Körper verbunden. Jetzt, mit 29, habe ich ein Körperbewusstsein entwickelt.

Foto: David Fischer für DB MOBIL
Hält die Balance: Beim Foto­shooting in Berlin-Mitte demonstrierte Jella Haase, wie sich das Theaterspielen auf ihr Körperbewusstsein auswirkt

Würden Sie sich als mutigen Menschen bezeichnen?

(Denkt nach) Kommt darauf an, was Sie darunter verstehen. Ich finde es durchaus mutig, dass man sich in meinem Job einer breiten Masse hinwirft und dassjeder einen beurteilen kann. Eigentlich ist das doch total verrückt.

Wer will denn schon von jedem beurteilt werden?

Beurteilt werden will vielleicht nicht jeder, aber viele möchten von anderen geliebt werden. Das stimmt auf jeden Fall, aber ob es klappt, ist ein Glücksspiel. Es geht wahnsinnig schnell, dass sich die sozialen wie die normalen Medien auf einen einschießen und man einen Shitstorm abbekommt. Insofern: Tief in sich zu graben, etwas aus seinem Innersten hervorzuholen und preiszugeben – das empfinde ich als mutig. Ich würde Ihnen auch gerne noch sagen, dass ich schon Menschenleben gerettet habe oder Mitglied bei Seawatch bin, aber nein. Ich bin nur Schauspielerin.

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