Wie (und wo) kann man sich zu Hause zurückziehen?

An dieser Stelle schreiben abwechselnd Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim normalerweise rund ums Unterwegssein mit Kindern – sofern das denn möglich ist. Wegen Corona geht es heute um eine andere Art der Reise: Katharina Nachtsheim sucht nach Fluchtmöglichkeiten für Eltern in den eigenen vier Wänden, trotz Homeschooling und Home-Office

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Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim

Manchmal erinnert mich diese Pandemie an das erste Jahr mit Baby: Der Bewegungsradius ist eingeschränkt, man geht nicht mehr auf Partys, ständig ist jemand hungrig und als Mutter ist man praktisch nie mehr allein. Seit Wochen sind wir rund um die Uhr als Familie zusammen, erleben praktisch alles gemeinsam. Das ist schön, aber auch ein bisschen langweilig – denn niemand hat mehr etwas Überraschendes am Abendessenstisch zu erzählen. Diese Pandemie hat uns viel Familienzeit geschenkt – manchmal zu viel für meinen Geschmack.

Von „zu viel“ gab es in den letzten Wochen definitiv zu viel – in jeder Hinsicht. Zu viele Infizierte, zu viele Tote, zu viele Hobbyvirologen, zu viele Verschwörungstheorien, zu viel Homeschooling, zu viel Vermissen der Freunde, zu viele Absagen von Festen, zu viele Erwartungen an uns Eltern.

Plötzlich waren wir mehr nicht nur Mama und Papa, sondern auch Fachkräfte für Mathe, Physik und Erdkunde. Wir erklären, fragen ab, beschulen, müssen Videokonferenzen einrichten, während wir noch Kleinkinder bespaßen, die ihre Kitagruppen schmerzlich vermissen. Ach ja, und natürlich darf die eigene Arbeitsleistung nicht abfallen, also sitzt man bis in die späte Nacht …

Wer es wagt, über diese immense Belastung zu stöhnen, wird mit „Hättste halt keine Kinder gekriegt“ abgewatscht. Ein Totschlagargument, das niemandem etwas bringt.

Die Pandemie ist anstrengend, besonders, weil all die Dinge wegfallen, die uns früher Kraft gegeben haben. Bei mir sind das: Ein Abendessen mit vielen Freunden beim Italiener, ein toller Kinofilm, das zweitägige Yoga-Retreat, die Städtereise mit meinem Mann. Solche Auszeiten haben mir in all den Jahren, seit ich Kinder habe, den Kopf freigepustet und mich für die Herausforderungen des Alltags gestärkt.

Doch nicht nur wir Erwachsenen brauchen hin und wieder eine Auszeit, um den Akku wieder aufzuladen. Auch für die Kinder ist es wichtig. Wenn meine Kinder von einem Nachmittag bei Freunden heimkamen, brachten sie viele frische Ideen mit. Wenn sie sich beim Leichtathletiktraining ausgepowert hatten, war die Stimmung gleich tausendmal besser.

Und nun? Hocken wir alle nonstop aufeinander. Genau das geht auf Dauer nicht gut.

Wie schon im ersten Jahr mit Kind muss ich mich körperlich von der Familie entfernen, um mich nicht mehr zuständig zu fühlen. Es bringt mir nichts, mich im Badezimmer einzusperren und die Wanne einzulassen. Es wird keine zwei Minuten dauern, bis ein Kind gegen die Tür trommelt, „Maaaamaaaa“ schreit und ich aus dem Wasser hüpfe. Deshalb versuche ich auch jetzt einmal am Tag, das Haus solo zu verlassen. Im Frühling, als mir das frühe Aufstehen nicht schwerfiel, ging ich morgens oft joggen oder walken. Aber auch eine abendliche Runde um den Block, wenn die Kinder im Bett sind, versöhnt mich immer wieder für einen anstrengenden Tag. Mit jedem Meter wird der Frust weniger, manchmal laufen dabei auch einige Tränen. Ganz bewusst drehe ich diese Runden allein. Ich möchte dann für mich sein und nicht schon wieder ein eventueller Kummerkasten für jemand anderen.

Auch meine 10-jährige Tochter klinkt sich mittlerweile bewusst aus. Sie nimmt sich die Kopfhörer, die sie für jeden sichtbar abschotten, legt sich auf ihr Bett und hört ein Hörspiel. Eintauchen in eine andere Welt, ohne nervige kleine Geschwister, ohne Mathearbeitsblätter. Sie verabredet sich auch jeden Tag zu einer festen Zeit mit ihren Freundinnen zum Chatten. Das Geschnatter auf dem Pausenhof lässt sich nur bedingt ersetzen, der Austausch mit den Mädchen tut ihr doch so gut.

Mein Mann hat sich eine Rolle für sein Rennrad gekauft und strampelt regelmäßig abends im Keller vor sich hin. Er hat den Notenständer unserer Tochter vor dem Rad aufgebaut, legt das Tablet drauf und schaut Serien. 45 Minuten schwitzen und berieseln lassen – danach hat er den Kopf wieder frei.

Und auch unser Erstklässler hat sein Rückzugsritual: Er hängt das „Eintritt verboten“-Schild an die Zimmertür und nimmt alle seine Playmobil-Ritter mit in sein Hochbett. Dann verbarrikadiert er sich eine halbe Stunde zwischen seinen Kissen, lässt Gut gegen Böse kämpfen und genießt die Zeit ohne die kleine Schwester, die immer Pferdehof spielen will.

Ja, die kleine Schwester … die Vierjährige ist die Einzige, für die es gar nicht genug Familienzeit geben kann. Wenn sie morgens schlaftrunken in mein Bett gekrabbelt kommt, nimmt sie meine Hand und streichelt mein Gesicht. „Guten Morgen, du schöne Mama. Ich habe dich heute Nacht so vermisst“, flüsterte sie heute morgen um kurz nach halb sieben.

Ja, es ist viel Nähe. Und wie ich anfangs schrieb: manchmal zu viel Nähe. Aber sie gibt uns auch Halt in diesen unsteten Zeiten und die Gewissheit, dass wir nicht alleine durch diesen Sturm müssen.

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