Wie ist es, mit den Kindern im eigenen Zuhause zu verreisen?

An dieser Stelle schreiben abwechselnd Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim rund ums Unterwegssein mit Kindern (und Mann) – sofern das denn möglich ist. Heute fragt sich Lisa Harmann, wie viel Welt im eigenen Wohnzimmer stecken kann, wenn sie mit ihren Kindern danach sucht

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Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim

Manche Menschen in meinem Freundeskreis sind Sammler. Meine Kinder sind das auch. Zum Abschluss eines Urlaubs stecken sie sich noch ein paar Muscheln ein oder eine Schaufel Sand vom Strand, die sie dann später in ein beschildertes Glas packen. Als Erinnerung an das Erlebte, als kleine Trophäe des Reisens, um sich ein Stück des Glücks mit nach Hause zu nehmen.

In Zeiten wie diesen, in denen wir unsere Tage vor allem zu Hause verbringen, kann das Gold wert sein. Wenigstens ein Stückchen Welt bei mir, wenn ich schon nicht raus in die Welt kann. Es ist die Chance auf eine kleine Weltreise in den eigenen vier Wänden. Denn auch Erinnerungen können beleben. „Weißt du noch damals?“

Da ist der Sand aus der spanischen Stierkampfarena, den die Kinder mitgehen ließen, als in Spanien längst keine Kämpfe mehr zugelassen waren. Als Relikt einer vergangenen Zeit. Oder die Muscheln im Bad von der Hochzeitsreise mit dem Sand, in dem unsere Tochter damals so niedlich laufen lernte. Ein kleiner Schatz in unserem derzeit reduzierten Leben.

Da ist die externe Festplatte, auf der sich noch Babyfilme und -fotos befinden. „Schaut mal Kinder, wie süß ihr mal wart!“ Kleine Highlights, besondere Momente gegen das Vermissen. Denn natürlich wollen die Kinder raus. Unsere Drei befinden sich mitten in der Pubertät, in einer Zeit, die eigentlich der Abgrenzung vom Elternhaus dient. Und dann das: Die Eltern und Geschwister als einzige Bezugspersonen. Dazu die Flut an Aufgaben von der Schule. Die fehlenden Außenkontakte, die keine Zoomkonferenz aufwiegen kann. Und wir zwischen Trösten, Begleiten und Auffangen dazwischen.

Wie sagte Karl Valentin schon so schön: „Ich freue mich, wenn es regnet, denn wenn ich mich nicht freue, regnet es auch.“ Akzeptieren wir also den Lockdown, denn wenn wir es nicht tun, bleibt er ja trotzdem. Schlagen wir der aktuellen Situation ein Schnippchen. Es lässt sich ja nicht ändern gerade!

Die Münchner Illustratorin Kera Till etwa bewahrt sich den Humor und entwirft einen U-Bahn-Fahrplan mit Haltestellen von Balkon zu Bad, von Kaffeemaschine zu Trockner und von Fenster zu Fernseher. „Schaut mal, Kinder, endlich wieder öffentlicher Nahverkehr – und dann auch noch ohne Maskenpflicht!“

Mein Vater zeigt als Opa – auf Abstand natürlich, aber wir leben nun einmal als Großfamilie in einem Haus – den Enkeln seine Sammlung an Steinskulpturen und nimmt sie mit auf eine gedankliche Reise. Kleine Kieselsteine auf einem Eishockey-Puck gestapelt und aufeinandergeklebt. Die Skulpturen haben Namen: Rio Reiser, Willy Millowitsch, Bertold Brecht.

Die Steine sind nicht irgendwelche Steine, sie stammen aus der Umgebung der Grabstätten der prominenten Personen. „Nicht dein Ernst, Opa!“ Doch, doch. Jetzt fragen sie nach. Ein Ausflug in ganz andere Richtungen als die Wahl zwischen Trochäus und Jambus bei der Gedichts-Interpretation für die Schule am Morgen. Endlich wieder Neugier in ihren Augen. Geht doch. Ein bisschen Spektakel in den eigenen vier Wänden.

Es ist die Bedeutung, mit der wir Dinge aufladen, die fasziniert und aus schlichten Gegenständen Welten erschafft. Aus kleinen Kieselsteinen werden spannende Biografien von längst verstorbenen Künstlern gesponnen. Wie eine Gedankenreise, die gerade deswegen so blüht, weil sie in den letzten Jahren mit Erlebnissen und Reisen gegossen wurde.

Es ist nicht dasselbe, dieses Leben in Erinnerung. Aber es sind kleine Ausflüchte aus dem stramm getakteten Familienalltag, der gerade kaum Zeit für Genuss lässt. Der Spagat zwischen eigener Arbeit, Home-Schooling, Haushalt, Kochen, Geschwisterstreit schlichten lässt kaum Zeit zum Atmen – die Welt da draußen rückt in weite Ferne.

Auch Thriller-Autorin Melanie Raabe hat sich dem Phänomen des Zu-Hause-Bleibens bereits gewidmet, in ihrem Roman „Die Falle“. Darin geht es um die Schriftstellerin Linda Conrads, die seit guten elf Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen hat und im Grunde nur von Zimmer zu Zimmer reist, von Erinnerung zu Erinnerung. In Nicht-Corona-Zeiten etwas Unvorstellbares, heute fühlen wir mit.

Wir schauen uns unsere Umgebung genauer an, entdecken die Aufladung von Gegenständen und ihrer Geschichte. Wer interessiert sich schon für Kieselsteine – wenn sie jedoch vom Grab eines Prominenten stammen, ist da gleich so ein Geheimnis. Und könnten wir so nicht vieles betrachten, das uns gerade umgibt?

Können wir – aus Mangel an Alternativen in Corona-Zeiten – also nicht auch Reisen in unserem Zuhause erleben? In den Schritten der Tochter noch einmal sehen, wie sie damals in Namibia laufen lernte, weil wir dort damals arbeiteten? Die deutsch-mexikanische Nichte treffen (auf Abstand) und uns die Hochzeit ihrer Eltern in Lateinamerika noch einmal ins Gedächtnis rufen, die Hitze, die schwüle Luft. Uns Fotos anschauen von vergangenen Reisen, ja, sogar „Stadt Land Fluss“ spielen und überlegen, welche Orte wir davon schon selbst gesehen haben.

Und können wir es nicht sogar noch weitertreiben und einfach mal schauen, wo eigentlich unsere Kleidung gefertigt wurde, wo die Shampoo-Flasche? Wir werden überrascht sein, wie viel Welt wir eigentlich bei uns zu Hause haben.

Das ersetzt natürlich keine Reise. Aber es belebt den Geist. Und das ist in Zeiten wie diesen, in denen Kultur nicht mehr zugänglich ist, in der die Bewegungsfreiheit eingeschränkt und die Kontakte reduziert sind. Vielleicht ist es sogar die Chance, all das Erlebte mal zu verarbeiten, es einzuordnen und nachzufühlen.

Und dann auch durch die aktuelle Sehnsucht herauszufinden, was uns am Reisen eigentlich wirklich fasziniert, an welches Ziel wir uns am sehnlichsten zurückwünschen – und welches uns eher nicht mehr reizt. Sind es nicht die Filme, die vor unserem inneren Auge ablaufen, die auch unsere Persönlichkeit ausmachen? Endlich haben wir Zeit, das zu erkennen. Urlaub im Kopf. Den kann uns nämlich kein Virus dieser Welt nehmen.

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