K U R Z G E S C H I C H T E Die Autorin Anne Weber Sie wurde 1964 in Offenbach geboren und ging mit 19 nach Paris wo Weber noch heute lebt Sie studierte französische Literatur ar beitete in verschiedenen Verlagen und als Übersetzerin von Gegenwarts literatur ehe sie selbst zu schreiben begann zunächst auf Französisch inzwischen auf Deutsch Die Übersetzungen in die jeweils andere Sprache macht sie selbst Webers Bücher wurden viel fach ausgezeichnet so etwa Im Tal der Herr lichkeiten der autobiografische Essay Ah nen Ein Zeitreise tagebuch und der Roman Annette ein Heldinnenepos für den sie 2020 den Deutschen Buchpreis bekam platziert was den Typenzylinder in die richtige Stellung über dem eingespann ten Papierbogen brachte worauf man mit der rechten Hand eine Taste betätig te um den Zylinder aufs Papier zu schla gen Für die linke Hand sei es also Fein arbeit und für die rechte eine andauernde Kraftanstrengung gewesen weshalb sei ne Mutter sich am rechten Arm wieder holt Sehnenscheidenentzündungen zu gezogen habe in diesen Jahren Wer wegen Krankheit fehlte habe kein Ge halt bekommen wer nicht fehlte habe allerdings in einem solchen Kontor auch nicht seinen Lebensunterhalt verdienen können seine Mutter habe wie die meis ten anderen Kontoristinnen bei ihren Eltern gelebt es sei ein Zubrot gewesen mehr nicht das man sich mit sechs Acht Stunden Tagen in der Woche in dieser Schreibfabrik verdient habe Irgend wann habe die Firma den Betrieb auf ein neueres Modell umgestellt und die alten Maschinen günstig an ihre Angestellten abgetreten so sei seine Mutter in den Be sitz ihrer Mignon gekommen die sie noch in ihrer Ehe eine ganze Zeit verwen det habe um Post zu tippen Der alte Mann stand auf und holte mir ein Foto seiner Mutter als junge Frau ein blasses ernstes Gesichtchen in einem schnörke ligen ovalen Messingrahmen tern zu besuchen hatte ich das Porto spa ren wollen Vielleicht ist es so Je älter ein Gegen stand ist umso mehr umgibt er sich mit Knäueln aus Erinnerungen oder Assozia tionen Wer ihn anschaut sieht mit der Zeit immer weniger den Gegenstand selbst seine Form und Beschaffenheit stattdessen weitet sich um den Gegen stand herum ein Gedankenraum Ge schichten nehmen ihren Anfang vergan gene Zeiten falten sich auf In allen Kerben abgenutzten Ecken abgeblätter ten Lackierungen Druckstellen haben sich Spuren von vergangenen Ereignis sen und verschwundenen Menschen ab gelagert eine ganze Welt die nur auf ihre Erweckung wartet Doch braucht es dazu noch etwas anderes als Vorstellungskraft ein paar Anhaltspunkte sind schon nötig sonst bleiben die Gegenstände so stumm und stumpf wie ihre Oberflächen Eine alte Schreibmaschine was gibt es da viel zu wissen könnte man denken Heute haben wir Computer früher benutzte man Schreibmaschinen Es braucht aber nur jemanden der ein bisschen von frü her erzählt und schon ersteht aus dem trübsten verstaubtesten abgegriffens ten Gegenstand eine Art Kaiserpanora ma farbige Bilder mit Tiefenwirkung und sogar noch eine Geräuschkulisse dazu Die Minjon wie der Herr sie nannte denn es sei ein französisches Wort das herzig oder reizend bedeute hatte seiner Mutter gehört Diese habe bevor sie seinen Vater heiratete in einem Groß raumbüro gearbeitet das man damals Kontor nannte und das nicht viel anders aussah als ein Saal einer Fabrik oder Ma nufaktur in dem an langen Tischen Men schen über ihrer Arbeit saßen nur dass diese hier nicht im Montieren sondern im Tippen bestand In dem Kontor hätten über hundert Frauen gesessen es sei eng Die Minjon wie der Herr sie nannte denn es sei ein franzö sisches Wort das herzig oder reizend bedeute hatte seiner Mutter gehört und stickig und vor allem laut gewesen denn die Tasten mussten kraftvoll herun tergedrückt werden die gesamte Hun dertschaft hackte im Takt den das auf dem Pult des Aufsehers thronende und mit einem Verstärkungstrichter versehe ne Metronom vorgab Er zeigte mir wie die Mignon funktio niert was ich schon wusste denn ich hatte vorher bereits ein anderes Modell wieder instandgesetzt aber ich wollte ihn nicht unterbrechen Mit der linken Hand wurde ein Zeiger über den ge wünschten Buchstaben oder das Zeichen Wieder zu Hause als ich die Mignon aus einandernahm jedes Einzelteil mit Zahn bürste und Benzin putzte die Gelenke ölte und alles sorgfältig wieder zusam mensetzte kam mir ständig dieses schma le Mädchengesicht in den Sinn und es war mir als hätte ich in den Innereien der Maschine herumhantierend eine Art To tenruhe gestört Auch an den alten Mann musste ich denken und an seine Hand ein kühles Bündelchen Knochen das ich beim Abschied kurz gedrückt hatte Ich beschloss ihm die instandgesetzte nicht gerade funkelnde aber doch verjüngte Mignon wieder zurückzugeben Und dann war sie weg Ein Moment der Unaufmerksamkeit und es war zu spät der Zug war abgefahren und zwar nicht im übertragenen sondern im eigentli chen Sinn die Türen hatten sich selbsttä tig geschlossen ich war zurückgerannt weil ich noch auf dem Bahnhofsvorplatz in Magdeburg merkte dass ich den Ruck sack an meinem Platz hatte stehen lassen aber der Zug stand nicht mehr am Gleis ich konnte gerade noch seine Rücklichter in der Abenddämmerung verschwimmen sehen Ist das Ihre Schreibmaschine Schreiben Sie uns Wir bewahren alle vorgestellten Fund stücke gesondert auf damit sie ihre Eigentümer innen doch noch finden fundstueck dbmobil de Sie haben etwas im Zug oder am Bahnhof ver loren oder gefunden Den Fundservice der DB erreichen Sie unter bahn de fundservice 7 8 d b m o b i l d e Anzeige 1 2 210x136 076 Literarisches Fundstück indd 78 07 05 21 12 03

Vorschau DB mobil 06-2021 Seite 78
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