K U R Z G E S C H I C H T E Der Autor Thomas Meyer Meyer 1974 in Zürich geboren bezeichnet sich ironisch als Agent des Weltjudentums der eine Tarnexistenz als Schriftsteller führt Tat sächlich zieht sich die Auseinandersetzung mit dem Jüdischen durch seine Arbeit als Autor und Aktionskünstler Meyers Romandebüt Wolken bruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse 2012 spielt in der jüdisch ortho doxen Diaspora von Zürich Es wurde zum Bestseller und 2017 verfilmt Aufmerksamkeit erregte Meyer auch mit den Essays Trennt euch 2017 und Was soll an meiner Nase bitte jüdisch sein 2021 sowie mit provokan ten Street Art Aktionen in der Schweiz nende Kraft die es nicht zulässt dass Un passendes sich verbindet wo war sie Oder war etwa auch diese Zusammenfü gung deren Werk Passte Gerda nicht nur orthopädisch zu dem Mann sondern wo möglich auch energetisch Gab es hier et was für sie zu lernen Etwa nun ja Tole ranz und Weltoffenheit Wer sagt denn überhaupt dass das angenehme Dinge sind Wer weltoffen sein will öffnet sich schließlich der gesamten Welt also auch jener hier Und die Toleranz wie leicht ist es doch sie sich auf die Fahne zu schrei ben und wie mühsam sie zu gewähren ganz gegen die eigene Natur Gerda verfiel in eine tiefe Krise Tags über erledigte sie gewissenhaft ihre Arbeit und stützte den Mann von dem sie mitt lerweile überzeugt war dass er nicht nur am Bein sondern auch an Herz und Ge hirn amputiert sein musste und nachts stand sie gegen den Stuhl gelehnt und brü tete über düsteren Einsichten Sie musste sich eingestehen dass sie eine ausgespro chen intolerante bornierte Beinprothese war und außerdem unprofessionell Im Training hatte man ihr eingebläut sich neutral zu verhalten nur die Bewegungs freiheit der Patientinnen und Patienten im Blick zu haben und deren persönliche Ansichten und Meinungen nicht zu bewer ten so wie es von jedem medizinischen Personal erwartet wurde Doch sie führte sich auf wie ein Teenagermädchen das entsetzt feststellt dass sein Schwarm die falsche Musik hört Eines Tages platzte Gerda der Kragen Der Mann fuhr gerade mit der Bahn und schwadronierte gegenüber betreten aus dem Fenster schauenden Mitreisenden dass alle die einen daran erinnerten die Maske richtig zu tragen er trug sie osten tativ unter dem Kinn Handlanger eines Unrechtsregimes seien Vollstrecker eines faschistischen Systems die letztlich ihr Lebensrecht verwirkten Gerda beschloss diesen Wahnsinnigen zu verlassen Sie wartete bis der Mann eingeschlafen war löste die Riemen mit denen sie mit ihm verbunden war ließ sich aus dem Hosen bein gleiten und unter die Sitzbank rollen und dann unter die nächste und dann noch eine weiter bis sie am Ende des Wagens unter einer Zeitung zu liegen kam Sie hör te wie der Mann eine Viertelstunde später überrascht aufschrie als er sich erheben wollte und zu Fall kam wie andere Passa giere ihm aufgeregt zu Hilfe eilten und ihm nach einer intensiven aber ergebnis losen Suche nach der verlorenen Prothese aus dem Zug halfen Am Abend wurde sie von einem Syrer namens Adil gefunden der bei der Bahn arbeitete und sie mit anderen Gegenstän den zusammenführte Es war eine bunte Bande Da waren eine Mandoline eine fa brikneue Schaufel ein riesiger Plüschpin guin 50 000 Euro in geschredderten Scheinen und viele andere mehr die man Fundgegenstände nannte weil Adil und andere sie eben gefunden hatten man hätte sie aber besser Fluchtgegenstände nennen sollen denn sie waren nicht verlo ren gegangen sondern abgehauen weil ihre einstigen Besitzerinnen und Besitzer derartigen Quatsch erzählt hatten von geheimen Eliten die die Menschheit ver sklaven wollten indem sie ihnen Mikro chips implantierten und dergleichen Gerda war jetzt arbeitslos Wieder stand sie in einem dunklen Raum in einem Re gal Und sie war umgeben von Wesen die alle Ähnliches erlebt hatten und gleich dachten wie sie Eine richtige kleine Bubble hochgradig intolerant es war wunderbar Ist das Ihre Beinprothese Schreiben Sie uns Wir bewahren alle vorgestellten Fundstücke gesondert auf damit sie ihre Eigentümer innen doch noch finden fundstueck dbmobil de Sie haben etwas im Zug oder am Bahnhof ver loren oder gefunden Den Fundservice der DB erreichen Sie unter bahn de fundservice hätten Männer in dem Alter gar keine an dere Wahl Schon bei der Anprobe ließ er sich aus über den Unfallverursacher Na türlich ein Türke machte gegenüber der Orthopädin eine widerliche Bemer kung ihm fehle zwar ein Bein er habe aber immer noch zwei lange Extremitäten und beklagte sich pausenlos darüber dass er eine Maske tragen musste Reine Schikane der Eliten seiner Ansicht nach aber so was dürfe man ja nicht mehr sagen Gerda passte dem Mann hervorragend wie angegossen Er stand auf erst unsi cher doch nach wenigen Schritten stol zierte er im Behandlungszimmer umher als wär nie was gewesen Umgekehrt pass te er Gerda überhaupt nicht sie hätte sich am liebsten wieder von diesem Wüterich losgerissen aber das stand nicht zur Dis kussion sie war jetzt seine persönliche Beinprothese Also ging sie mit ihm nach Hause oder besser an ihm wo der Mann gegen den offensichtlichen Niedergang seines Vaterlandes anpolterte sowie ge gen alle die er für daran schuldig hielt Die Zuhörerschaft bestand aus einer Frau von der Gerda unter dem Tisch die Beine sah aber kaum je was hörte Manchmal war die erwachsene Tochter der beiden zu Besuch die dem Vater politisch exakt ent gegengesetzt stand was diesen erst recht erzürnte Oft stampfte er mit dem Bein das Gerda vervollständigte kräftig auf den Boden was ihr sehr unangenehm war Nachts war nach einem letzten Aus bruch während der Abendnachrichten dann endlich Ruhe Das Haus lag still bloß das leise Schnarchen des Mannes war zu vernehmen Gerda stand gegen einen Stuhl gelehnt auf dem übel riechende Wä sche lag und fragte sich bis zum Morgen grauen wie sie in einen solchen Schlamas sel hatte hineingeraten können Ihr Weltbild brach in sich zusammen Die ord Sie musste sich eingestehen dass sie eine ausge sprochen intole rante bornierte Beinprothese war und außerdem unprofessionell Sie musste sich eingestehen dass sie eine ausge sprochen intole rante bornierte Beinprothese war und außerdem unprofessionell 5 0 d b m o b i l d e Anzeige 1 2 210x136 048 Literarisches Fundstueck indd 50 13 12 21 08 46

Vorschau DB mobil 01-2021 Seite 50
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