Die Jagd nach dem Corona-Impfstoff

Anfang 2020 ist Biontech aus Mainz ein vielversprechendes Unternehmen, das an Impfstoffen arbeitet – gegen Krebs. Dann bricht SARS-CoV-2 in die Welt. Und Firmengründer Uğur Şahin hat eine Idee, wie ein Wirkstoff gegen das Coronavirus aussehen könnte. Was dann geschah: Protokoll eines turbulenten Jahres

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Impfstoff in Flasche Corona
Biontech
Kleine Flasche, große Hoffnung: Biontechs Corona-Impfstoffkandidat BNT 162

21. Dezember 2019, 10 Uhr: große Pläne für 2020        

Kurz vor Weihnachten haben die Mitarbeiter von Biontech schon frei. Nicht so ihr Chef Ugur Sahin – für ihn fängt in jenen Tagen schon das neue Jahr an.

„Für mich ist es jedes Mal die wunderbare Zeit, die Ziele für das nächste Jahr festzulegen. An jenem 21. Dezember setzte ich mich zu Hause in mein Büro, las Publikationen und plante das nächste Jahr. Wir hatten vor, 2020 im Krebsforschungsbereich weiterzukommen und klinische Studien zu starten. Ich erstellte eine Liste mit Zielen und plante, wie wir diese ab Januar umsetzen könnten.“

 

24. Januar 2020, 23 Uhr: ein Virus aus Wuhan

Im Januar erscheinen vereinzelt Medienberichte über ein neuartiges Virus in der chinesischen Stadt Wuhan. Doch das Ganze scheint weit weg. Dann stößt Ugur -Sahin auf einen Bericht in einem Wissenschaftsmagazin.

„Ich saß spätabends mit einem Glas Tee am Computer und las einen Artikel in „The Lancet“. Darin wurden schwere Krankheitsfälle durch das neue Virus beschrieben. Je mehr ich recherchierte, desto beunruhigter wurde ich. Mir war klar: Das wird nicht auf China begrenzt bleiben. Es erfüllte alle Kriterien, die ein Pandemievirus ausmachen: Es ist hochansteckend, einige Infizierte zeigen keine Symptome, und das Virus hatte sich schnell aus Wuhan herausbewegt. Zudem gehört es zur hochgefährlichen Familie der Coronaviren, die uns schon bei der ersten SARS-Epidemie vor 18 Jahren große Probleme bereitet haben. Damals konnte eine Pandemie gerade noch abgewendet werden. Heute sind wir viel mobiler, Wuhan ist eine Millionenstadt, sehr gut angebunden an den Rest der Welt. Als ich das Muster sah, dachte ich:  Das wird eng.“

Am selben Abend bespricht sich Sahin mit seiner Frau Özlem Türeci, Ärztin und Vorstandskollegin, mit der er Biontech gegründet hat. Auch sie ist sofort davon überzeugt, dass die Firma an der Entwicklung eines Impfstoffes arbeiten muss. An diesem Wochenende schläft Sahin kaum. Er recherchiert weiter und beginnt, am Computer Bausteine eines möglichen Impfstoffes zu entwerfen.

 

27. Januar, 9 Uhr: Der Wettlauf um den Impfstoff beginnt

Nach dem Wochenende ruft Sahin seine engsten Mitarbeiter zusammen und berichtet ihnen von seinen neuen Erkenntnissen.

„Ich sagte meinem Team, dass wir hier in einigen Wochen ein riesiges Problem haben würden. Dass Schulen schließen und wir in einen Shutdown reingehen würden und dass wir unser normales Geschäft nicht würden weiterführen können. Dass wir unseren Plan für 2020 umwerfen und einen großen Teil der Mitarbeiter  auf die Impfstoffentwicklung fokussieren müssen.“

Der Chef muss Überzeugungsarbeit leisten. Nicht nur bei einigen seiner Mitarbeiter, sondern auch bei Freunden und Kollegen, die meinen, er übertreibe. Warum unterschätzen selbst Experten die Gefahr?

„Zu diesem Zeitpunkt und auch noch Wochen danach sagten viele:  ‚Das ist der nächste Hype.‘ Ich denke, der Grund hierfür war, dass in der Vergangenheit Ausbrüche dramatisiert wurden und deshalb viele dachten, in drei Monaten sei das kein Thema mehr. Das öffentliche  Leben lief weiter wie gewohnt – die Menschen gingen ins Theater, zu Fußballspielen, zum Karneval.“

Sahin lässt sich nicht beirren. Wenig später startet Biontech das Projekt Lightspeed. Es sieht vor, dass bei der Entwicklung des Impfstoffes zwar die üblichen -Regularien eingehalten werden, aber alles in einem schnelleren Tempo vonstattengehen soll als sonst. In den folgenden Wochen besorgt das Team die nötigen Labormaterialien, wählt aus zunächst 20 möglichen Impfstoffkandidaten die für sie vielversprechendsten aus und führt toxikologische Studien sowie Versuche an Mäusen und Affen durch. Die Experten in den Labors kommen schnell voran, sie arbeiten im Wechsel auch die Wochenenden durch. Der Rest der Mitarbeiter geht dauerhaft ins Homeoffice. Besuche auf dem Gelände sind nicht mehr erlaubt, die Spezialisten sollen nicht gefährdet werden.

 

2. März, 1 Uhr: Hallo, New York

So erfreulich die Fortschritte sind, Sahin weiß: Seine Firma ist zu klein, um alles allein durchzuziehen. Außerdem braucht Biontech Geld. Also spricht er mit dem US-Pharmakonzern -Pfizer, mit dem er bereits 2018 eine Kooperation im -Bereich Grippeimpfstoffe schloss.

„Ich rief Kathrin Jansen, Leiterin der Impfstoffentwicklung bei Pfizer, an. Bei ihr in New York war es sieben Uhr morgens. Als sie abnahm, sagte sie nur: ,Ugur!‘ Und ich sagte: ,Ja, Kathrin! Ich rufe an, weil wir einen Impfstoff entwickeln und ich fragen wollte, ob ihr Interesse an einer Zusammenarbeit habt.‘ Sie ließ mich kaum ausreden: ,Natürlich!‘ Dann hat sie erzählt, dass sie mich auch schon anrufen wollte.“

Die beiden Unternehmen einigen sich schnell. Und sie fangen bereits an zu arbeiten, noch bevor der Vertrag unterschrieben ist. Sahin sagt, dass Vertrauen die einzige Chance sei, im Wettkampf gegen das Virus Zeit zu -gewinnen. Biontech schließt noch eine weitere Kooperation ab, mit der chinesischen Firma Fosun Pharma. Von -Pfizer erhält das Mainzer Unternehmen zunächst bis zu 185 Millionen Dollar, von den Chinesen bis zu 135 Millionen Dollar, mit der Vereinbarung weiterer künftiger Investitionen. Auf die Frage, was eine Impfstoffentwicklung kostet, verweist Sahin auf Schätzungen:

„Es gibt Publikationen darüber, was die Entwicklung eines Impfstoffes gegen einen neuen Erreger kostet: im Schnitt anderthalb Milliarden Dollar.“

Biontech
In den Labors des Mainzer Unternehmens Biontech wird der Wirkstoff für den Impfstoff hergestellt. Die Firma hat rund 1500 Mitarbeiter

21. April, 14.23 Uhr: Eine Hürde ist geschafft

„Ich saß in meinem Büro, als eine Mail vom Paul-Ehrlich-Institut ankam. Das muss zustimmen, damit Forscher Impfstoffe an Menschen testen dürfen. Natürlich habe ich die Nachricht sofort angeklickt – und da war sie, die Genehmigung! Ich habe sie direkt weitergeleitet an einen Verteiler mit etwa 100 Mitarbeitern unserer Firma: ,Wir haben sie!‘ Ich habe gefühlt 30 Sekunden gejubelt, danach aber gleich gedacht: Was ist der nächste Schritt? Wir gingen die Checkliste für den Start der Studie durch, wir mussten beispielsweise sicherstellen, dass die Studienorte über ausreichend Impfdosen verfügen. Als alles auf Grün war, wurden die Teilnehmer angerufen.“

In der sogenannten Phase I/II-Studie sollen 200 gesunde Probanden im Alter zwischen 18 bis 55 Jahren das Vakzin bekommen.

 

23. April, 11.08 Uhr: Der erste Mensch wird geimpft

In einem unscheinbaren, kastenförmigen Bau in Mannheim wird der erste Mensch in Europa mit diesem neuartigen Impfstoff gegen Covid-19 geimpft. Es ist ein Mann, mehr ist auch Biontech nicht bekannt – Datenschutz. Noch weiß keiner, wie das Mittel namens BNT 162 im menschlichen Organismus wirkt. Auch Sahin sorgt sich.

„Natürlich habe ich mir die ganze Zeit Gedanken über den ersten Menschen gemacht: Wie verträgt er den Impfstoff? Denn hundertprozentige Sicherheit konnten wir nicht garantieren. Es ist ja so: Die klinische Testung wäre nicht notwendig, wenn wir alles vorher wüssten. Neben den Sicherheitsmaßnahmen geht man im Geiste noch mal die vergangenen Wochen und Monate durch, fragt sich, ob wir jedes Detail bedacht und richtig bewertet haben. Ob es Gründe gibt anzunehmen, dass der Mensch anders reagiert als die Tiere, die wir getestet haben.“

 

24. April, 5.08 Uhr: Das erste Ergebnis ist da

Nach 18 Stunden kommt die Rückmeldung der Experten vor Ort: „Alles gut vertragen.“ Der Proband muss danach allerdings noch weitere 30 Stunden unter Beobachtung bleiben.

„Bei so einem Impfstoff sind die ersten 24 Stunden entscheidend. In diesem Zeitrahmen treten die wichtigsten Nebenwirkungen auf. Am nächsten Tag kam der medizinische Bericht. Wir waren erleichtert. Das war der Zeitpunkt, an dem ich die Anspannung der letzten Wochen bemerkt habe. Ich lehnte mich zurück und dachte: Es ist gut. Dass das Mittel vertragen wird, ist das Wichtigste.“

 

29. Mai, 13 Uhr: der Moment der Wahrheit

Kurz nach Beginn der ersten Impfungen in Deutschland beginnt Biontech auch in den USA mit Tests an einer Gruppe von Menschen – an 360 gesunden Probanden in zwei Altersgruppen: zwischen 18 und 55 sowie 65 und 85 Jahren. Die Resultate der Testreihen erwartet Sahin Ende Mai. Er ist ungeduldig. Denn die Ergebnisse werden zeigen, ob der Impfstoff nicht nur verträglich, sondern auch wirksam ist.

„Bei so einem Experiment geht es per Mail und in Telefonaten hin und her mit meinen Kollegen im Labor: ,Wie sieht es aus?‘ ,Noch kein Ergebnis.‘ ,Und jetzt?‘ ,In einer halben Stunde haben wir Resultate!‘ Und dann endlich kam die Nachricht mit den Ergebnissen – und sie waren sehr gut! Es ist ein großartiges Gefühl, wenn man sieht, dass das Resultat nicht nur schwach positiv oder sogar negativ, sondern eindeutig und richtig toll ist. Alle Probanden haben einheitlich reagiert. Ich habe mich direkt an den Computer gesetzt und Ka-thrin Jansen geschrieben: ,Wir haben einen Impfstoff!‘“

Am 20. Juli werden die Ergebnisse bekannt gegeben. Es hat sich gezeigt, dass der Impfstoffkandidat BNT 162 eine hohe Zahl von Antikörpern hervorruft, die das Coronavirus neutralisieren. Außerdem sorgt er für eine starke Reaktion der körpereigenen T-Zellen, die das Virus zerstören und deshalb als besonders wichtig für einen lang anhaltenden Impfschutz gelten.

 

27. Juli, 22 Uhr: Der Massentest kann starten

Am 27. Juli um 22 Uhr gibt die amerikanische Gesundheitsbehörde FDA grünes Licht für die finale Phase-III-Studie, in der 44 000 Probanden an rund 120 Studienzentren weltweit geimpft werden. Vor allem in den USA, Brasilien und Argentinien wird getestet, weil es dort im Gegensatz etwa zu Deutschland hohe Infektionsraten gibt. Ältere sind in dieser Testreihe ebenso vertreten wie Vorerkrankte – ein Querschnitt durch die Bevöl-kerung zwischen 18 und 85. Diese letzte Studie stellt für alle Forscher den entscheidenden Schritt dar. Ist sie erfolgreich, kann Biontech die Zulassung des Impfstoffes beantragen. Ab Ende Juli schließen Biontech und Pfizer erste Lieferverträge mit Großbritannien, den USA, Japan und Kanada über je bis zu 300 Millionen Dosen des Vakzins, entsprechende Verhandlungen mit weiteren Regierungen stehen ebenfalls vor dem Abschluss. Die folgenden Wochen verlaufen ruhig, es wird geimpft, beobachtet und ausgewertet, und Anfang September wird die finale Phase der Studie auch in Deutschland aufgenommen.

 

8. September, 12.30 Uhr: ein Schwur der Impfstoff-Forscher

Sahin ist einer von neun Chefs führender Arzneimittelhersteller, die einen Aufruf unterzeichnen und veröffentlichen. Es handelt sich um das Versprechen, sich trotz des Zeitdrucks auf eine sorgfältige Entwicklung eines Corona-Impfstoffs nach wissenschaftlichen Standards zu verpflichten. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit. Oder etwa nicht?

„In den Wochen zuvor hatte es eine ganze Reihe von Diskussionen gegeben, ob man den Weg zum Impfstoff nicht abkürzen sollte. Es gab Spekulationen, dass der Bevölkerung Impfstoffe ohne Phase-III-Daten bereitgestellt werden könnten. In den Gesprächen mit meinen Kollegen hat sich schnell gezeigt, dass keiner von uns bereit war, eine Abkürzung zu nehmen. Als Arzneimittelhersteller müssen wir sehr sorgfältig sein und dürfen keine Schritte auslassen. Wir wissen noch nicht genug und brauchen die Daten der großen Studie. Wir hätten das als großes Risiko für die Menschen gesehen. Und wenn etwas schiefläuft, könnte ein dramatischer Vertrauensverlust ausgelöst werden.“

 

9. September, nachts: Stopp einer Studie wegen Nebenwirkungen

In der folgenden Nacht teilt Biontech-Konkurrent -AstraZeneca mit, dass seine finale Studienphase gestoppt wird. Bei einem Probanden des britisch-schwedischen Pharmakonzerns sind schwere Komplikationen aufgetreten. Weltweit wird an fast 200 Wirkstoffen geforscht, Rückschläge sind da unvermeidlich. Dennoch schreibt die „Süddeutsche Zeitung“ von einer Wende im Impfstoffrennen, der „Spiegel“ fragt: „Die Welt braucht schnell einen Impfstoff, aber um welchen Preis?“

„Ich erfuhr zu Hause über den Google-Newsticker, dass die Studie ausgesetzt wird. In einem Bericht der „New York Times“ hieß es, der Patient habe eine transverse Myelitis, eine seltene Rückenmarksentzündung, die oft mit einer Reaktion des Immunsystems gegen körpereigene Zellen einhergeht. Es handelte sich um ein ,schwerwiegendes medizinisches Ereignis‘. Deshalb war es sinnvoll, die Studie zu pausieren und zu prüfen, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Impfstoff gibt. Später wurde berichtet, dass der Patient eine nicht diagnostizierte Multiple Sklerose gehabt haben soll. Es gab also eine Erkrankung, die schon vorher vorhanden gewesen ist.“

Sahin ist schnell überzeugt, dass der Zwischenfall bei AstraZeneca kein Problem für Biontech darstellt, weil beide Firmen auf unterschiedliche Technologien setzen. Biontech schleust nicht ansteckende Gen-Schnipsel des Virus in den Körper der Probanden und provoziert dadurch eine Immunantwort. AstraZeneca bringt diese Erbinformationen mithilfe von unschädlich gemachten Erkältungsviren ein. Doch Sahin weiß: Auch bei seiner Studie kann es jederzeit zu Unterbrechungen kommen.

„Wir haben dafür keine Anhaltspunkte. Aber es ist ein möglicher Ausgang jeder Phase-III-Studie, dass die Verträglichkeit nicht ausreichend ist und deshalb pausiert oder abgebrochen werden muss.“

Am 12. September vermeldet AstraZeneca: Die Studie geht zumindest in Großbritannien weiter, die Gesundheitsbehörde sieht die Sicherheit gewährleistet. In dieser letzten Phase vor der Zulassung stecken weltweit nur neun Wirkstoffe – darunter die der Mainzer. Mitte September erklärt die Bundesregierung, dass Biontech und der deutsche Konkurrent Curevac Geld bekommen sollen: Biontech erhält bis zu 375 Millionen Euro. Außerdem werden vorsorglich jeweils 40 Millionen Dosen bestellt.

Biontech
Ugur Sahin hat Biontech 2008 zusammen mit seiner Frau gegründet. Der Immunologe, 55, lässt als CEO vor allem Immuntherapien gegen Krebs erforschen

Ausblick: Die Zulassung?

Seit Anfang Oktober prüft die Europäische Arzneimittelbehörde in einem beschleunigten Verfahren die Daten der Biontech-Studien. Sind diese ausreichend, kann das Unternehmen in den nächsten Monaten die Zulassung seines Impfstoffes beantragen. Könnte Corona also noch dieses Jahr -Geschichte sein?

„Nein. Das wird dauern. Impfstoffe sind knapp, und anfangs wird nicht jeder, der möchte, einen bekommen. Aber wir werden bis Mitte 2021 viele Hunderte Millionen Dosen produzieren können. Dazu kommen andere Unternehmen, deren Impfstoffe hoffentlich zugelassen werden. Dadurch wird ein großer Anteil der Weltbevölkerung geimpft werden können. Auch wenn das Virus noch viele Jahre bleiben wird: Ende 2021 werden wir wieder ein weitgehend normales Leben haben. Da bin ich sehr zuversichtlich.“

Dieses Interview erschien erstmals in DB MOBIL 11/2020

Update: Am 22.12.2020 erteilte die EU-Kommission dem Biontech-Vakzin eine europaweite Zulassung. Am 26.12.2020 wurde der erste Mensch in Deutschland damit geimpft.

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