Das sind die Kinder Europas

Karrierechancen? Sicher. Eine Sprache lernen? Na klar. Und jeder Vierte bringt nicht nur Auslandserfahrung, sondern auch große Gefühle aus seinem Erasmus-Semester mit. Laut einer Schätzung entstanden so eine Million Babys. Fünf Liebeserklärungen an ein gelungenes EU-Austauschprogramm

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Datum: 06.05.2021
Lesezeit: 7 Minuten
Martin Pötter für DB MOBIL
Ekaterina, 29, aus Moskau, Wirtschaftswissenschaftlerin, und Steffen, 29, Wirtschaftsingenieur aus Gingen, mit Elisabeth, viereinhalb, und Leonard, anderthalb Jahre. Kennengelernt haben sich die Eltern 2012 in Jyväskylä, Finnland. Heute lebt die Familie in der Nähe von Stuttgart

Ekaterina & Steffen

Ekaterina: „Eigentlich wollte ich Erasmus in Pforzheim machen, davon hatten meine Kommilitonen geschwärmt. Es war fast am Ende meines Wirtschaftsstudiums, als Russland an der Bologna-Reform teilnahm. So war ich eine der Ersten an meiner Uni, die das sofort nutzte, um ein Erasmus-Semester zu machen. Leider waren die beliebten Plätze in Deutschland schnell vergeben, ein Professor riet mir zu Finnland. Steffen ging es ähnlich, der wollte eigentlich mit einem anderen Programm in die USA. Tja, und so trafen wir uns stattdessen in der finnischen Kleinstadt Jyväskylä. Der Winter war sehr dunkel, und es war sogar für russische Verhältnisse kalt. Aber gemeinsam haben wir das Beste draus gemacht.

Dass es mehr als nur eine Romanze ist, wussten wir, als ich allmählich meine Koffer packte. Aber es kam uns verrückt vor, wie überbrückt man 2300 Kilometer? Wir haben jeden Tag geskypt und uns immer mehr vermisst. Dann machte er mir einen Antrag, und die Gelegenheit zur Hochzeit kam schneller als gedacht. Wir waren wegen des Visums beim Standesamt in Moskau, dort bot man uns an, zwei Tage später zu heiraten. Das haben wir gemacht. Aber das Visum, das ich brauchte, um bei Steffen leben zu können, ließ auf sich warten. Als es endlich kam, war ich im neunten Monat schwanger. Mittlerweile spreche ich auch deutsch, aber da unsere Beziehung auf Englisch begann, sind wir dabeigeblieben. Mit den Kindern redet jeder in seiner Muttersprache.

Es gefällt mir gut in Deutschland, es fasziniert mich, wie viel Natur es hier gibt. Ich weiß nicht, wann ich in Moskau das letzte Mal Tiere gesehen habe. Unsere Erasmus-Clique von damals trifft sich übrigens bis heute jedes Jahr in einer anderen europäischen Stadt. Das sind Freundschaften fürs Leben.

Anne Gabriel-Juergens für DB MOBIL
Feli, 38, Psychologin, aus Bürgenstock, Schweiz, und Amel, 40, Betriebswirt (gerade auf Geschäftsreise in den USA) aus Ulm, mit Vida, 2. Kennengelernt haben sich die Eltern 2012 auf Mallorca, heute leben sie in Luzern und Ulm

Feli & Amel

Feli: „Ich hatte mich gerade von meinem Freund getrennt und war etwas orientierungslos. Ein Freund von mir machte zu dem Zeitpunkt Erasmus in Valencia, eine seiner Kommilitoninnen musste vorzeitig nach Hause, und er schlug mir vor: Frag schnell, ob du den Platz haben kannst. Kurz vor Weihnachten kam dann die Zusage. Ich lernte noch eilig so viele Vokabeln wie möglich und stand vier Wochen später in Valencia, mit einem Stadtplan in der Hand, das war 2005, als man sich noch ohne Smart­phone durchschlagen musste. Ich hatte bis dahin ein Heidi-Leben geführt, in meinem Bergdorf ging ich mit vier Kindern in die Klasse, da war Studieren in Bern schon ein großes Abenteuer. Und jetzt das. Als in der ersten Nacht auch noch das Hostelbett unter mir zusammenbrach, habe ich meinen Mut verflucht.

Aber wenige Tage später fand ich per Aushang ein WG-Zimmer. Am Strand lernte ich ein paar Musiker kennen, aus Italien, Spanien, den Niederlanden und Österreich, mit denen ich als Sängerin eine Erasmus-Jam-Group gründete. Auch nach dem Auslandssemester haben wir uns regelmäßig getroffen, um Urlaub zu machen oder gegenseitig bei unseren Hochzeiten aufzutreten.

Bei einem dieser Wiedersehen auf Mallorca brachte ein Freund Amel mit. Filmreif, wenn ich zurückdenke. Ich hörte morgens eine Männerstimme, die ich nicht kannte, schlurfte zum Pool und entdeckte Amel, der die Sonnenbrille anhob und sagte:,Ja hallo!‘ Da war es um uns geschehen. Aber er lebte in Ulm, hatte zwei Kinder, ich in Luzern. Wie sollte das gehen? Heute haben wir zwei Wohnungen, zwei Buggys und zwei Zuhause, leben zweieinhalb Wochen im Monat in Luzern und zehn Tage in Ulm. Wir sind viel unterwegs, gerade ist Amel auf Dienstreise in den USA.

Ich verdanke Valencia so viel, es gab mir Selbstbewusstsein und über Umwege auch meine Tochter. Die Stadt ist ein sehr guter Freund geworden.

Patrick Ohligschläger für DB MOBIL
Francesca, 34, Medienwissenschaftlerin aus Castel di Sangro, und Simon, 33, Maschinenbauer aus Neuruppin, mit Frida, eineinhalb Jahre (nicht im Bild ist ihr zweites Kind, das 2020 zur Welt kam). Kennengelernt haben sich die Eltern 2008 in Bergen, Norwegen, heute leben sie in Rostock

Francesca & Simon

„Entscheide dich jetzt!“, sagte Francescas Professor, der ihr am Telefon wenige Sekunden zuvor einen Erasmus-Platz in Paris, auf Malta oder in Norwegen anbot. Bergen? Hatte sie noch nie gehört, das nahm die Italienerin – obwohl sie kaum Englisch und schon gar kein Norwegisch sprach. In Bergen wohnten alle Erasmus-Studenten im selben Wohnheim, so lernte sie nicht nur schnell Englisch, sondern auch ihren jetzigen Mann Simon kennen, damals Student der Musikwissenschaft und Skandinavistik. Er war nie in Italien, sie nie in Deutschland.

Simon wurde zum Semesterende von seinem Vater abgeholt – und Francesca fuhr einfach mit nach Greifswald. Nach einem Jahr Fernbeziehung zogen sie gemeinsam nach Berlin. Doch Bergen ist ihre Heimat, mit nichts als zwei Koffern gingen sie dorthin zurück, hangelten sich sieben Jahre lang von Job zu Job. Dann studierte Simon zusätzlich Maschinenbau und bekam ein Jobangebot in Rostock, Francesca blieb vorerst in Norwegen. Doch als sich Frida ankündigte, war die Entscheidung für Rostock gefallen. „Aber wir haben Heimweh“, sagt Francesca. „In Norwegen sind wir zusammengewachsen, dort wohnen unsere Freunde, es ist wunderschön.“

Frida war schon fünfmal dort. Sie war es auch, die Ordnung in das Sprachchaos ihrer Eltern brachte. „Früher redeten wir Deutsch, Englisch, Norwegisch und Italienisch gemischt, je nachdem, welche Sprache gerade die passendste Vokabel hatte“, erzählt Simon. „Seit es Frida gibt, versuchen Francesca und ich, Englisch untereinander zu reden und jeder in seiner Muttersprache mit ihr.“

Ob Frida eines Tages Erasmus in Bergen machen wird? Wenn’s nach den ­Eltern geht: klar. „Erasmus sollte ein Standard sein“, sagt Simon, „man lernt so viel über Sprachen und Menschen, ganz egal, wo.“

DAS IST ERASMUS:

Das Programm, heute „Erasmus+“, wurde 1987 von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, einer Vorgängerin der EU, gegründet. Es ermöglicht Student:innen, Auszubildend:innen und Lehrkräften Auslandsaufenthalte innerhalb der EU und, seit 2015, in einigen Nicht-EU-Ländern wie etwa Island, Russland, Norwegen und der Türkei. Jährlich nehmen mehr als 600 000 Menschen teil, neun Millionen waren es insgesamt. erasmusplus.de

Diese Geschichte erschien erstmals in DB MOBIL 05/2019.

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