Wien für Aufsteiger

Unsere Autorin hat die Donaumetropole erkundet, indem sie deren Wände und Pfeiler erklettert. Dabei lernte sie überraschende Ecken der Stadt kennen – und ihre eigenen Grenzen

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Lesezeit: 5 Minuten
Wieble Harms Brückenpfeiler
Fabian Weiss für DB MOBIL

Die Mauer vor mir ist etwa drei Meter hoch, und ihre Oberfläche erinnert an zerknittertes Papier. Es sah ganz einfach aus, wie Marie gerade an den Furchen und Kanten im Beton hochgeklettert ist. Nun bin ich dran. Im Kopf gehe ich noch mal durch, was sie mir erklärt hat: Zuerst mit beiden Händen an einer winzigen Kante festkrallen, dabei den rechten Fuß auf diesen einen schmalen Vorsprung stellen, das linke Bein heben, um die Zehenspitzen in eine Fuge auf Höhe des Ellenbogens zu pressen. Dann, Schritt zwei, soll ich mein Körpergewicht vom rechten aufs linke Bein hochschieben und gleichzeitig zu einem neuen Griff hochlangen, damit ich nicht nach hinten kippe. Kann doch nicht so schwer sein.  
Ich kralle mich fest, mein rechter Fuß steht auf der Kante. 
Ich hebe das linke Bein. 
Mein rechter Fuß rutscht ab. 
Ich plumpse in den Kies.

Fabian Weiss für DB MOBIL
Auf dünnen Sohlen die Wand hinauf

„Zum Starten mit was Einfacherem wäre Grelle Forelle optimal“, hatte Marie Mezgolits mir ein paar Tage zuvor geschrieben, versehen mit einem Gute-Laune-Smiley. Die Grelle Forelle ist ein Club am Donaukanal in Wiens 9. Bezirk, über dessen blauem Himmel der Schornstein der Müllverbrennungsanlage Spittelau wie eine riesige Discokugel schimmert. Entworfen hat das Gebäude der Künstler Friedensreich Hundertwasser.

Fabian Weiss für DB MOBIL
Die Donaupromenade mit Blick auf den von Friedensreich Hundertwasser entworfenen Schornstein

Ich könnte einfach den Fußweg nehmen, der links in einem Bogen auf die Promenade führt. Dann wäre ich auch oben. Aber ich bin nicht nach Wien gefahren, um Spazierwege abzulaufen. Ich bin hier, um die Stadt zu besteigen. Urban Bouldern nennt sich der Sport, in dem ich mich gerade versuche, was man ungelenk mit „urbaner Felsblock“ übersetzen könnte. Also die städtische Variante der Trendsportart Bouldern: Klettern ohne Seil, in Absprunghöhe, meist nicht höher als drei oder vier Meter und in Deutschland vor allem ein Indoorsport. Mehr als 500 Kletter- und Boulderhallen gibt es inzwischen, schätzt der Deutsche Alpenverein (DAV). Im August feierte Bouldern, in Kombination mit Vorstiegsklettern (mit Seil) und Speed Climbing (mit Seil und hohem Tempo), in Tokio sein Debüt als olympische Sportart.  
Bouldern ist abwechslungsreich. Manche Routen erfordern Balancegefühl, andere Kraft oder Beweglichkeit, und der Kopf hat meist auch zu arbeiten. Man muss sich merken, welche Gliedmaßen wohin kommen, gezielt das Körpergewicht verlagern und die Hüfte geschickt zur Wand positionieren. Erklimmt man so eine Fassade, sieht es auch noch verdammt cool aus, finde ich. Zumindest, wenn Marie klettert.

Fabian Weiss für DB MOBIL
Doppelt hält besser: Marie klettert, Wiebke sichert ab und richtet für den Fall des Falles die Matte, Crashpad genannt, aus

Marie habe ich im Urlaub in einem Klettercamp kennengelernt. Die 29-Jährige arbeitete dort, ich hatte den Anfänger:innenkurs belegt. Eines Abends erzählte sie vom Urban Bouldern in Wien und zeigte ein Foto, auf dem sie eine Brücke hochklettert. Das sei die spektakulärste Stelle, um in Wien zu klettern, erzählte sie: der Reichsbrückenpfeiler. Ein kleiner Mensch im Bikini, darüber grauer Beton, unten das dunkle Wasser. Das will ich auch mal ausprobieren, dachte ich. 
Doch nun, nach den ersten Versuchen, eine Fassade zu bezwingen, bin ich mir nicht mehr so sicher. Ein paar Furchen im Beton sind doch etwas ganz anderes als die bunten Griffe in der Halle, an denen ich sonst übe. Dort muss ich nur einer Farbe folgen. „Urban Bouldern heißt für mich, mir meine eigenen Wege zu suchen“, sagt Marie, „das macht es ja eben so besonders.“  
Sie ist schon mehrmals an verschiedenen Stellen die Wand hochgegangen. Jetzt stellt sie den linken Fuß auf und klemmt den rechten mit der Spitze hinter eine senkrechte Kante. „Das war’s, ein Toe-Hook!“, kommentiert sie die Bewegung. Marie hat Pharmazie studiert, sie bouldert seit sieben Jahren und hat, wie die meisten, in der Halle angefangen. Freund:innen haben ihr gezeigt, wo sie in Wien umsonst und draußen üben kann. Von da an nahm sie ihre Kletterschuhe mit in die Uni, um zwischen den Vorlesungen mit anderen an der Grellen Forelle zu trainieren. Ihr Körper erinnere sich an die früheren Bewegungen, meint sie. „Der Fuß geht ganz automatisch raus.“  
Auch für mich hat sie noch einen Tipp: „Dreh deinen rechten Fuß nach links ein, sodass du auf der Außenkante stehst.“ Und tatsächlich: Wenn ich wie empfohlen auftrete, gelingt es mir, das Bein ausreichend hochzuheben, ohne abzurutschen. Ich presse meine Zehen in den engen Kletterschuhen auf die Kante, schiebe meine Hüfte hoch, bekomme die nächste Kante im Beton zu fassen, setze den linken Fuß höher – und endlich ziehe ich mich nach ein paar weiteren Zügen auf die Brüstung der Promenade. Ein Erfolg! Vielleicht klappt es doch noch mit mir und dem Brückenpfeiler.

Fabian Weiss für DB MOBIL
Eine Melange zwischendurch? Kletterpause an der Augartenbrücke

Vorher will mir Marie aber noch einen anderen Ort zeigen. In Wien gibt es viele „Spots“, wie die Boulderer und Boulderinnen ihre Reviere nennen. Mehr als 100 Routen führt der inoffizielle Kletterführer „Vienna Walls“ auf, im Sommer veranstalten die Stadtkletterer und -kletterinnen gelegentlich kleine Wettkämpfe. Wir fahren mit der U-Bahn zur Station Handelskai im 20. Bezirk, mit unseren Crashpads auf dem Rücken. Die Matten sind etwa so dick wie dünne Schulturnmatten, aber viel leichter. Sie federn Stürze ab und sind – neben den Kletterschuhen und Magnesium gegen feuchte Hände – alles, was wir brauchen, um Wiens Wände zu erkunden. Auf unserer Tour lerne ich Orte in der Stadt kennen, die ich an einem normalen Wochenendtrip sicher nicht besucht hätte. An den vielen denkmalgeschützten Bauten in der Innenstadt können wir natürlich nicht hochklettern. Statt der typischen Sehenswürdigkeiten wie Schloss Schönbrunn oder Prater blicken wir an unserem nächsten Stopp am Handelskai auf den Millenniumtower – bis 2014 immerhin das höchste Gebäude Österreichs.

Fabian Weiss für DB MOBIL
Die Crashpads geben auch gemütliche Sitzplätze ab

Bevor wir wieder loslegen, zeigt mir Marie „ihre Route“: Ein Freund hat ihr einen Weg die Wand hoch gewidmet, an dem er sich wochenlang versucht hat. Mit Kugelschreiber hat er eine Karte gemalt, jeden Stein in der Mauer eingezeichnet und mit dicken Punkten die Griffe und Tritte markiert. Wer eine Route entdeckt, darf sie benennen. Er wählte den Namen „Magistra Marie“ – ein Geschenk zu ihrem Uniabschluss. „Die ist echt schwer“, sagt Marie, „dafür ist es mir heute zu warm.“  

Kletterstadt Wien

Rantasten: 
Ein bisschen Übung im Bouldern lohnt sich vor den ersten Versuchen in Wien. Am besten vorher in der Halle ausprobieren. Crashpads sind Pflicht, auch eine Begleitung, die vor Stürzen schützt. Im Zweifelsfall lieber in Bodennähe horizontale Traversen ausprobieren – ist auch gut für die Fußtechnik.

Aufsteigen: 
An privaten und denkmalgeschützten Gebäuden ist das Klettern untersagt. Darum befinden sich viele der beliebten „Spots“ an Ufer­begrenzungen der Donau.

Gut geeignet für Anfänger:innen: die Strukturwand unterhalb der Promenade beim Club Grelle Forelle.

Am Handelskai gibt es neben Natursteinwänden einige Treppen, an deren Unterseite man sich im überhängenden Gelände versuchen kann. Auf die Finger aufpassen, wenn Fußgänger:innen vorbeikommen! 

An der Reichsbrücke taugt nur der Pfeiler in der Neuen Donau zum Klettern. An allen übrigen droht durch Schiffsverkehr und Strömung Lebensgefahr! Schwimmen können ist Pflicht, ein Boot zu mieten möglich. 

Mehr Infos: vienna-walls.at, urban-boulder.com

Einsteigen: Anreise
Mit dem ICE zum Beispiel ab München in gut vier, ab Regensburg in rund dreieinhalb Stunden. Aktuelle Informationen unter bahn.de.
 

Stattdessen zeigt sie mir eine einfachere Stelle. So schnell, wie sie hochhuscht, kann ich mir nicht merken, wohin ich greifen und treten muss. Damit ich es leichter habe, klebt Marie mit gelbem Klebeband Markierungen auf die Natursteinquader. Ich klettere los. Eigentlich lassen sich viele Stellen richtig gut greifen, und gerade auf den Kanten der Fugen stehen meine Füße fest und sicher. Aber nach wenigen Zügen bekomme ich Angst. Meine Hände fühlen sich schmierig an, meine Beine zittrig. Bis zum Geländer oben sind es noch etwa fünf Meter. Ganz schön hoch. „Macht nichts“, muntert mich Marie auf, als ich auf halber Strecke abspringe. „Besser seine Grenzen kennen, als abzustürzen.“

Fabian Weiss für DB MOBIL
Lagebesprechung vorm DC Tower 1

Ich bin trotzdem enttäuscht. Traue ich mich je am zehn Meter hohen Brückenpfeiler hoch, wenn ich hier schon Angst bekomme? Froh folge ich Maries Vorschlag, die drei Kilometer bis zur Reichsbrücke an der Donau entlangzuspazieren. Etwas Zeit gewonnen, bevor es ernst wird. Unterwegs beschimpft uns ein Mann auf dem Fahrrad, weil wir mit unseren Crashpads auf dem Rücken den halben Weg einnehmen. Marie lacht. „Der Wiener Charme“, sagt sie.  
„Wir schwimmen ja gleich zum Brückenpfeiler“, beginne ich umständlich über eine meiner vielen Sorgen zu sprechen, „dann werden unsere Schuhe nass.“ Marie nickt erwartungsvoll. „Rutscht man dann nicht beim Klettern ab?“, frage ich. Schließlich habe ich mal gelernt, dass die Reibung der Gummisohle meiner Kletterschuhe vieles möglich macht – wenn das Gummi sauber und trocken ist. „Das geht schon“, sagt Marie mit einer Ruhe, um die ich sie beneide. 
Wir nähern uns der Reichsbrücke. Sie erscheint mir ganz schön hoch und ganz schön wuchtig. Ich plappere vor mich hin, was ich zur Vorbereitung über die Brücke gelesen habe. „Wusstest du, dass sie mal eingestürzt ist?“, frage ich Marie. Natürlich weiß sie das. Während wir die Brücke überqueren, stellen wir fest, dass wir Profiteurinnen des Unglücks in den Siebzigern sind, weil man nun an dem einen Pfeiler klettern kann. Unser Ziel liegt an der Ostseite, in der Neuen Donau. Hier hat der Fluss kaum Strömung, vor allem fahren hier keine Schiffe. Wir setzen uns ans Ufer. Eine Frau füttert die Schwäne. „Das ist genial: Du schwimmst erst durch 25 Schwäne, das Wasser ist eiskalt, und dann ab an die Wand“, hatte Marie mir vor meinem Besuch in Wien am Telefon vorgeschwärmt.
 

Fabian Weiss für DB MOBIL
Die Kletterschuhe haben auch nach dem Rausschwimmen zum Brückenpfeiler genug Grip

Wir ziehen die Kletterschuhe an. Es fühlt sich komisch an, mit den engen Schuhen ins Wasser zu steigen. Wir schwimmen zum Pfeiler. „Taste dich einfach langsam ran. Klettere ein Stückchen hoch und spring ab, um ein Gefühl zu bekommen“, rät mir Marie, bevor sie am Brückenpfeiler aus dem Wasser aufsteht und hinaufzusteigen beginnt. Nach zwei Dritteln springt sie ab. Auf dem Weg nach unten strampelt sie vor Freude mit den Beinen. Nun bin ich dran.
Ich taste unter Wasser nach einem Tritt. Auf dem Stein haften Algen, er ist schlüpfrig. Doch eine größere Kante gibt mir Halt. Ich drücke mich hoch, setze den anderen Fuß auf. Weil der Pfeiler leicht positiv geneigt ist, kann ich mich an den Stein schmiegen und die Hände entlasten. „Platte“ heißt solches Gelände im Kletterjargon. Ich steige hoch, es geht richtig gut. Dann schaue ich runter und denke daran, wie ich als Kind mal einen Bauchklatscher vom Fünfmeterbrett gemacht habe. Ich will nicht springen. Ich würde lieber wieder runterklettern. „Stoß dich einfach nach hinten ab“, ruft Marie mir aus dem Wasser zu und fängt an, einen Countdown zu zählen. Bei eins schließe ich die Augen und springe. Vor Aufregung vergesse ich zwar beim Eintauchen auszuatmen und bekomme prompt etwas Wasser in die Nase. Trotzdem fühlt es sich toll an. „Mega!“, rufe ich, als ich wiederauftauche.  
 

Fabian Weiss für DB MOBIL
Ab in die Donauwellen: Wer es ganz hinauf schafft, hat zehn Meter freien Fall bis zur Abkühlung

Wir klettern im Wechsel immer wieder hoch. Marie wagt sich bis zur Oberkante des Pfeilers. Ich traue mich gerade so über die halbe Höhe. Als uns im Wasser kalt wird, schwimmen wir zum Rand, um uns in der Sonne aufzuwärmen. Ein Schwimmer kommt uns entgegen. Er grüßt, steuert den Brückenpfeiler an und beginnt ebenfalls, daran hochzuklettern, bis ganz oben – ohne Schuhe. Meine Hände tun weh von dem scharfen Stein, ich kann mir nicht vorstellen, ohne Schuhe auf den spitzen Kanten zu stehen. „Wie hält der das barfuß aus?“, platzt es aus mir raus. Der Barfüßige hangelt sich an den Metallstreben unter der Brücke entlang, vier, fünf Meter bis zur Mitte des Flusses, schaut sich kurz um und lässt sich ins Wasser fallen. Hinter uns auf der Uferpromenade sind ein paar Leute stehengeblieben und klatschen jetzt. 
„Angeber“, sagt Marie und grinst breit.  
 

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