Ticket für Zwei

Er war so eine Art Pionier – 1972 reiste der Vater unserer Autorin im ersten Interrail-Sommer durch Europa. 50 Jahre danach fahren Vater und Tochter einen Teil der Strecke noch einmal. Wie erleben sie einander – und Europa?

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Lesezeit: 8 Minuten
Vater und Autorin checken die Nachrichten auf dem Handy
Sabrina Weniger für DB MOBIL
Immer wieder das Handy checken: Was passiert in der Welt? Manchmal googeln die Autorin und ihr Vater auch einfach Fakten, zum Beispiel die Größe Frankreichs (Antwort: 543 940 Quadratkilometer)
Sabrina Weniger für DB MOBIL
Noch schnell den Sitzplatz checken, und schon steigt unsere Autorin am Dortmunder Bahnhof in den Zug, der sie dem ersten Ziel, Paris, näherbringt

Vor mir auf dem ICE-Klapptisch liegt ein vergilbtes Foto. Ich sehe einen jungen Mann, dem die blonden Locken auf die Schultern fallen, Trekking-Sandalen, Rucksack, Skinny-Jeans, breites Grinsen, im Hintergrund den Jardin de Tuileries in Paris. Und dann blicke ich auf, sehe denselben Mann: graues Haar mit weißen Schläfen, Lederslipper, Hemd – mein Vater. Seite an Seite sitzen wir hier, um mit dem Zug nach Frankreich zu fahren; Paris, Marseille, Nizza.

50 Jahre später wollen wir der Reise nachspüren, auf der das Foto entstanden ist: seinem Interrail-Sommer 1972, dem ersten überhaupt. Inter-Rail, wie es damals hieß, das Angebot, mit einem Ticket 20 europäische Länder bereisen zu können, war ursprünglich bloß als Werbeaktion für den 50. Geburtstag des Internationalen Eisenbahnverbands gedacht. Kaum jemand rechnete mit diesem Erfolg: Allein in dem Jahr kauften 87 000 junge Menschen das Ticket, unter ihnen mein Vater. Mit vier Freunden reiste er über Paris nach Südfrankreich, dann Italien, Amsterdam, London und Schottland. Europa aus dem Zugfenster, verstehen, was der Begriff eigentlich bedeutet. Zum ersten Mal überwand er Grenzen, besuchte Metropolen, hörte fremde Sprachen, schmeckte das Meer. Wenn ich das so schreibe, kommt es mir fast unwirklich vor: Ich kenne Reisen schon mein Leben lang. Habe mit zwei die Beine einer Micky Maus in Disney World umklammert, bin in Österreich gewandert und im Lago Maggiore geschwommen, habe in London an der Tower Bridge posiert und bin in Amsterdam durch die Grachten gegondelt – all das, bevor ich 18 wurde.

Mein Vater kannte bis zu seinem Abitur vor allem sein Dorf im Sauerland – und die Zugstrecke zu seiner Schule. Einmal war er mit einer Jugendgruppe nach Bayern geradelt, erstaunt davon, wie anders Menschen im gleichen Land reden können. Eine Reise ins Ausland: für ihn unvorstellbar. Als er 1972 das Interrail-Ticket in den Händen hielt, für 235 Mark, war seine Aufregung riesig. Eine Reise durch Europa, das er bislang nur aus Büchern kannte. Damals, als die Welt noch nicht so eng zusammengerückt war, dass die Muschelpasta in Berlin genauso schmeckt wie in Nizza. Als sich jedes Land in seiner fremden Einzigartigkeit präsentierte. Die Passage meines Vaters vor 50 Jahren war die Initialzündung für seine und irgendwie auch meine Reiselust. Deshalb bin ich gespannt, was die Fahrt ihm und uns bedeuten wird. Zum ersten Mal reisen wir allein zusammen.

Was wir gut können, auf dieser Reise: zusammen schweigen – und dem anderen Raum geben, falls es nötig ist

Dortmund Hbf–Paris Est: ICE 517 und TGV 9552

Die Teilstrecke zu Beginn gleicht einem Aufwärmen: Wir lesen Zeitung und reden eher über andere als über uns. Über die Regierung, über Arbeit, über Verwandte, während vor dem Fenster die spätwinterliche deutsche Tristesse vorbeihastet: die grauen Flachdachsiedlungen des Ruhrgebiets, Industrie, die hügeligen Wiesen des Oberbergischen. Als wir in Mannheim in den ersten TGV unserer Reise steigen, fühle ich mich angekommen auf der Reise, auch mein Vater wirkt gelöster, scherzt und lüftet die Maske zum Essen.

Es fiel uns nicht leicht, diese Fahrt anzutreten, während nur 1000 Kilometer östlich die ersten Bomben in der Ukraine fielen. Unsere Reise sollte schließlich auch Ode sein an ein zusammengewachsenes Europa, an fließende Grenzen. Jetzt erleben wir, wie fragil dieses sicher geglaubte Konstrukt ist. Zugleich ruft die Fahrt uns in Erinnerung, welchen Wert das freie Reisen und der enge Austausch innerhalb Europas haben.

Was für ein Luxus, in dem mein Vater damals losfuhr, als Reisen eine sichere Flucht vor der Weltlage sein konnte. Die Titelblätter fremder Zeitungen verstand man nicht, telefoniert mit zu Hause wurde kaum. Heute trägt man das Leid der Welt in Echtzeit mit sich, ständig mit Herzklopfen der Blick auf den Ticker.

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Immer wieder das Handy checken: Was passiert in der Welt? Manchmal googeln die Autorin und ihr Vater auch einfach Fakten, zum Beispiel die Größe Frankreichs (Antwort: 543 940 Quadratkilometer)

Natürlich finden wir immer wieder zurück ins Jetzt, in den TGV. Wir haben hintereinander Platz genommen, alle Zweisitzer waren ausgebucht. Zeit, schweigend aus dem Fenster zu schauen, die Landschaft saftig-grün hinter den trüben Scheiben. Während ich gedanklich zwischen Wiesen und Feldern versinke, erklärt mein Vater mir von hinten, wie beeindruckend groß die landwirtschaftlichen Flächen in Frankreich sind. Er macht das gern, erzählen, sein Wissen teilen.

Paris empfängt uns in Grau-Beige. Wir wimmeln durch die vollen Trottoire zu unserem Hotel, geben das Gepäck ab und spazieren los. Mein Vater staunt an jeder Straßenecke über die aufwendig renovierten Jugendstilbauten. Je näher wir dem Louvre kommen, desto prächtiger wird es. Er ruft meine Mutter an, schwärmt, bleibt immer wieder stehen, um innezuhalten und Fotos zu machen. Dann sind wir am Jardin des Tuileries, dem ehemaligen Schlossgarten des Sonnenkönigs, angekommen. Mein Vater steuert eine der Bronzefiguren von Maillol an, auf denen er damals posierte. Heute sind sie allesamt mit niedrigen Hecken umpflanzt, um sie vor Tourist:innen zu schützen. Wir essen Omelette et frites in einem kleinen Restaurant und gehen früh zu Bett. Am nächsten Morgen setzen wir unsere Reise gen Süden fort.

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Beim abendlichen Spaziergang durch Paris begegnet der Autorin immer wieder ein ähnliches Bild wie jenes oben: Menschen, die im Schein einer Lichterkette dicht gedrängt unter einer Markise sitzen. Ein Sinnbild für Urlaub in südlicheren Gefilden

Paris Gare De Lyon–Marseille Saint-Charles: TGV 6107

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Die Bahnhöfe in Frankreich, so wie der von Nizza, sind allein schon eine Reise wert. Das Gebäude wurde im frühbarocken Stil Louis-treize gebaut und 1867 eröffnet

Vier Minuten bis zur Abfahrt. Wir springen aus dem Taxi, das Gepäck geschultert, treppauf, um zum Gleis zu rennen. Ich hatte eine Neckerei erwartet von meinem Vater, als wir uns in letzter Minute auf unsere Sitze sinken lassen, aber er sagt: Ich hatte die Zeit auch nicht im Blick. Die Reiseplanung liegt bei mir – und auch wenn uns das beinahe in Paris hätte stranden lassen, freue ich mich, dass er das akzeptiert, schließlich war es zeit meiner Kindheit seine Aufgabe. Französische Äcker verwischen vor dem Zugfenster, mein Kopf pocht – ich weiß nicht, ob es die ungewohnte Reisegeschwindigkeit ist oder das Glas Wein vom Vorabend.

Mein Vater erzählt, wie das war vor 50 Jahren. Seine Freunde und er seien damals viel nachts gereist. „Da haben wir uns schließlich die Übernachtungen gespart.“ Mit Glück konnten sie eines der Abteile besetzen, in denen man die Sitze aufziehen konnte, sodass eine Liegefläche entstand. „Manchmal haben wir unseren Schlafsack aber auch einfach im Gang ausgerollt“, sagt er. Und auch wenn er vor der Abreise ängstlich fragte, ob ich vorhabe, nachts zu fahren, spüre ich immer wieder die Begeisterung, mit der er von früher erzählt. Klar, Verklärung der Vergangenheit spielt da sicher eine Rolle, ebenso wie der Glanz der Jugend. Und doch betont er mehrfach, was diese Reise ihm beschert habe: ein tiefes Verständnis für Europa und seine Menschen, eine Neugier auf die Welt und die Sehnsucht nach einem aufregenden Leben. Anders als zu Hause im Dorf.

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Angekommen: An der Promenade des Anglais in Nizza hocken wir uns auf die Brüstung und genießen die Sonne und das Meeresrauschen

Da lächeln wir noch: Kurze Zeit später zogen dunkle Wolken über dem Meer auf, und wir froren in unseren dünnen Sommerjacken

Als wir am Hafen von Marseille mit der Rolltreppe aus dem U-Bahn-Schacht fahren, bin ich nervös. Paris, in seiner herausgeputzten Jugendstiligkeit hat meinen Vater begeistert, an Marseille hat er weniger pittoreske Rückschauen: Am deutlichsten erinnere er sich an den Geruch von Urin, sagt er mir, Großstädte mit schmuddeligen Ecken kannte er nicht. Doch Marseille begrüßt uns aufgeräumt und mit Yves-Klein-blauem Himmel. Die Sonne wärmt unsere Wangen, und auf der Promenade um den Vieux Port, den alten Hafen, tummeln sich Hunderte Menschen wie in einem Wimmelbild. Die einen tanzen um eine Musikbox herum, andere demonstrieren oder machen Pantomime. Die meisten flanieren.

Kurzinfo Interrail-Pässe

 

Wer in Europa lebt, kann mit Interrail in bis zu 33 Länder reisen. Alle Länder umfasst der Global-Pass, den es für verschiedene Geltungszeiträume gibt (bis zu drei Monate, z.B. sieben Reisetage 2. Klasse innerhalb eines Monats für 335 €). Alternativ: der Ein-Länder-Pass (z.B. drei Reisetage 2. Klasse innerhalb eines Monats durch Frankreich für 146 €). Pro erwachsener Person reisen bis zu zwei Kinder unter zwölf Jahren kostenlos mit. Für unter 27-Jährige gibt es bis zu 25 Prozent und für über 60-Jährige zehn Prozent Ermäßigung. Tickets sind papierlos als Mobile-Pass erhältlich, verwaltet in der App „Rail Planner“, die auch Verbindungen anzeigt. Infos und Pässe gibt’s u.a. in DB Reisezentren und unter bahn.de/interrail

Als wir zum Fort Saint Jean gelangen und das erste Mal aufs Meer schauen, halten wir kurz. Mein Vater erzählt davon, wie sie damals in einer Jugendherberge außerhalb von Marseille untergekommen seien und zum ersten Mal im Mittelmeer schwammen. Es gibt ein Foto aus der Zeit: Vier blasse junge Männer liegen auf einem blassen Felsen, auf dem Meer ein einsames Segelboot. Ich muss daran denken, wie ich 18-jährig mit Freundinnen an einem Strand auf Kreta lag, ähnliche Pose, andere Welt. Wie wir uns in einem Zwei-Sterne-Hotelkasten eingemietet hatten und tagsüber den Rausch wegschliefen, eigentlich waren wir nur für die Bräunungsstreifen und zum Feiern hier. Kreta oder Sardinien? Hauptsache, Sonne. Mein Vater, so sagt er, fühlte sich nach seiner Rückkehr wie ein Botschafter für Europa, er wollte allen von der Schönheit des Reisens erzählen und verließ das Sauerland für ein Studium. Für uns war relevant, wer nach dem Abi weiter weg reiste, zum Kiwipflücken nach Neuseeland oder zum Praktikum in China. Europa war eine Art Konsumgut für Spaß und Bräune, ein Ziel fürs Wochenende, zu nah, um etwas zu erleben, zu selbstverständlich. Ein erwachsener Weitblick und nicht zuletzt die Klimakrise haben dieses Weltbild zum Glück geradegerückt.

Ich weiß nicht, ob es mich überrascht, aber mein Vater und ich reisen routiniert zusammen. Unser Zeitplan ist eng, drei Tage haben wir für mehr als 1600 Schienenkilometer, über zwölf Stunden davon verbringen wir in Zügen. Die Eindrücke fliegen eher an uns vorbei, als dass wir sie greifen können. Manchmal verfallen wir in eine Vater-Kind-Dynamik, dann schiebt er mich, wenn wir es eilig haben und ich kurz verweilen möchte. Oder erklärt mir Dinge, die ich selbst weiß. Früher hat mich so etwas geärgert, jetzt nehme ich es einfach an.

Wenn mein Vater ein Ziel hat, will er es schnell erreichen. Schlendern liegt ihm nicht

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Marseille Saint-Charles–Nice Ville: TER 17479

Wir nehmen im Zug Platz, der uns nach Nizza bringt, die Ungeduld steigt: Schon kurz nach der Abfahrt taucht die Küste auf, erste Palmen biegen sich im Wind, Menschen joggen an der Promenade. Es ist, als schrie die Szenerie: Raus mit euch! Nach Antibes dann endlich die Ansage: prochaine arrêt Nice Ville, nächster Halt Nizza.

Wir beschließen, zuallererst zum Meer zu laufen, zur Promenade des Anglais, dort, wo man glotzt und gesehen werden möchte. Schon von Weitem leuchtet eine pinkfarbene Kuppel: das Negresco, ein Belle-Époque-Palast, wo der Geldadel logiert. Die Kuppel habe er damals von seinem Schlafplatz aus sehen können, erzählt mein Vater. In Nizza schlugen sie ihr Lager in bester Lage auf: Sie schliefen am Strand, stets besorgt, erwischt zu werden. Heute tanzen am gleichen Ort Menschen mit Champagnerflöten um das weiße Mobiliar einer Strandbar zu Elektrobeats.

Wir flanieren weiter. Eine Aufgabe haben wir noch vor uns: einen Restaurantbesuch. „In Nizza haben wir uns das einzige Mal gegönnt, essen zu gehen“, erzählt mein Vater. Er bestellte damals das günstigste Gericht der Speisekarte, „tripes à la niçoise“, ohne zu wissen, was ihm serviert würde. „Als der Kellner mir den Teller vorsetzte, merkte ich, dass ich Kutteln bestellt hatte“, sagt er. Er aß sie – und hält sich seither von ungewissen Gerichten fern.

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Pflichtprogramm am Meer: eine große Portion Muscheln, dazu ein Glas Sancerre

Mein Vater fragte noch: Willst du wirklich Muscheln bestellen? Ja, wollte ich – und sie waren sehr lecker

Das Restaurant von damals finden wir nicht, aber als wir durch die Gassen spazieren, hält mein Vater inne: dieses Bild von der Pinie da oben auf der Colline du Château, dem Haus- und Schlossberg von Nizza. „Ich hatte solche Bäume zuvor noch nie gesehen und war fasziniert“, sagt er. Mir geht das heute noch so: Fremde Bäume und Blumen sind Sinnbilder des Reisens. Wann immer Zeit bleibt, besuche ich botanische Gärten, fotografiere Blüten. Mein Vater knipst heute lieber die Architektur. Wir kehren schließlich auf der Terrasse eines Bistrots ein, mein Vater bestellt Kalb, ich Muscheln. Kutteln gibt es keine auf der Karte. Schweigend essen wir, nippen an Weißwein, den Kopf voller Eindrücke.

Am Tag nach der Rückkehr ruft er mich an, um mir zu erzählen, dass er den ganzen Tag nichts gemacht habe, außer ein bisschen im Garten zu harken. Sein Kopf brauchte die Zeit, das Erlebte zu ordnen. Denn auf der Reise haben wir so viel geredet wie lange nicht mehr, wie vielleicht noch nie. Über Europa, natürlich, aber auch über Familie, über uns. Vor Reiseantritt war ich mir unsicher, ob uns diese Fahrt näherbringen würde. Jetzt glaube ich: Vielleicht waren wir gar nicht so weit voneinander entfernt.

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Schöner reisen: Der Vater freut sich über die Fahrt entlang der pittoresken Küste

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