Mehr Schlaf wagen

Wegnicken in der Öffentlichkeit – können Sie nicht? Dann geht es Ihnen wie den meisten Deutschen. Während Japaner:innen in der U-Bahn fröhlich vor sich hinschlummern und Spanier:innen sich über Mittag in Tiefschlaf begeben, will irgendetwas in uns einfach nicht abschalten. Warum ist das so? Eine Annäherung in Text und Bild

Von:
Lesezeit: 9 Minuten
Schlafender Parkbank
Daniel Feistenauer
Hemd und Graffiti-Netztop von People, ca. 140 € und 120 €, Jogginghose von Filippa K, ca. 180 €, Schuhe: Doc Martens, ca. 160 €, Socken: Mell-o, Ring und Ohrring: Johanna Gauder.

Einmal war ich in eine Zwischenwelt eingeladen. Es war ein ziemlich trüber Sonntag im Herbst 2017, als ich mit einem Schlafsack in der Hand und Glitzer auf den Wangen in einer ehemaligen Fabrikhalle in Leipzig stand und nach einem möglichst gemütlichen Platz auf dem Fußboden suchte. Gegen zwölf Uhr legte ein DJ elektronische Ambient-Musik auf, die ersten Partygäste verteilten sich auf Teppichen, Couches und Matratzen. Eine Schlafparty schien mir damals ein ganz wunderbares Konzept zu sein: gleichzeitig feiern UND entspannen! Während den anderen allmählich die Gesichtszüge entglitten und es immer ruhiger um mich herum wurde, fühlte ich mich immer wacher und fragte mich: Wie schaffen das andere, in der Öffentlichkeit so selig zu schlafen?

"Inemuri" nennen die Japaner:innen das Schlafen, während man offiziell etwas anderes tut. Dafür braucht es Grundvertrauen in die Umgebung

„Inemuri“ nennen das die Japaner:innen: schlafen, während man offiziell etwas anderes tut. Sie können an öffentlichen Orten wie dem Arbeitsplatz, an der Bushaltestelle oder in der S-Bahn offenbar den Kopf nach hinten kippen, die Arme verschränken, tiefenentspannt schnaufen –und plötzlich knallwach wieder am Gespräch teilnehmen. Die Japanologin Brigitte Steger schreibt in ihrem Buch über Inemuri, dass es durchaus Selbstbewusstsein und Vertrauen in die Umgebung braucht, sich in der Öffentlichkeit so hilflos und angreifbar zu zeigen. Japan habe eine niedrige Kriminalitätsrate, weswegen die Gefahr gering sei, während eines Schläfchens überwältigt oder ausgeraubt zu werden. Trotzdem sei Inemuri eher unter Männern und dort auch eher unter älteren Respektspersonen verbreitet, die den Kontrollverlust weniger fürchten. Um öffentlich zu halbschlafen, braucht es also ein gewisses Grundvertrauen in die Umgebung, dass mir währenddessen nichts entgeht oder gar passiert. Und der oder die Deutsche? Haben die zu viel Angst vor Kontroll- oder Gesichtsverlust, um sich öffentlich schlafen zu legen? Oder warum sieht man hier so wenig Personen beim schamlosen Nickerchen?

Daniel Feistenauer für DB Mobil
SIE: Top und Denim von Ecoalf, ca. 90 und 100 €, Jacket von Faible & Failure, ca. 250 €. ER: Wachsjacke von Barbour, ca. 350 €, Hose von People, ca. 160 €, Loafers: Samsoe & Samsoe, ca. 230 €, Strümpfe: Falke. Beistelltisch: Objekte unserer Tage. Schreibtisch und Stuhl: Vitra

Zunächst einmal ist Schlafen insgesamt nicht mehr so angesagt in unserer Hochleistungsgesellschaft. Laut Schlafatlas schätzen die Deutschen ihre Schlafdauer auf durchschnittlich 6:54 Stunden. Vor etwa hundert Jahren sollen es noch entspannte neun Stunden gewesen sein. Aber im dichten Gedränge gegenwärtiger Erforderlichkeiten bleibt für ausgedehnten Schlaf offenbar weniger Zeit. Bei einer Befragung von 3000 Deutschen durch das Statistische Bundesamt gaben etwas weniger als die Hälfte an, dass sie mindestens einmal im Monat einen Mittagsschlaf machen. Vielleicht haben wir es einfach verlernt, zur Ruhe zu kommen?

Ich persönlich schlafe laut meiner Gesundheits-App auf dem Smartphone durchschnittlich fünf Stunden und sechs Minuten. Mittagsschlaf mache ich nie, Nickerchen in der Öffentlichkeit schon gar nicht. Natürlich weiß ich, dass Schlaf gesund für Körper und Geist ist, aber irgendetwas in mir will nicht abschalten. „Wer schläft, liebt nicht. Und wer liebt, schläft nicht“, sagt der Titelheld im Roman „Schlafes Bruder“. Leider stirbt er am Ende. So gut scheint die Strategie langfristig nicht zu sein. Kann also auch ein notorischer Nicht-Schnarchsack wie ich lernen, überall und ständig zu schlafen?

Ich recherchiere zunächst meinen angeborenen „Chronotyp“, also nach welchen Rhythmen mein Körper eigentlich funktioniert. Dass Menschen mehrere Schlafphasen durchlaufen, haben Wissenschaftler im sogenannten Schlafbunker in Andechs bei München erforscht: Im Laufe von 25 Jahren begaben sich 447 Versuchspersonen dort hinein, um abgeschottet von Tageszeit und Tageslicht ihren Rhythmus zu ergründen. Dabei zeigte sich, dass unsere innere Uhr meist nach zwei Schlafphasen verlangt: mittags und nachts. Auf der Seite des Leibniz-Instituts für Arbeitsforschung an der TU Dortmund finde ich einen einfachen Test, den Munich Chronotype Questionnaire, der mich nach meinem Schlafverhalten befragt. Wann werde ich müde? Und wann würde ich gern geistig oder körperlich arbeiten? In einem Spektrum zwischen „Definitiver Morgentyp“ (Lerche) und „Definitiver Abendtyp“ (Eule) bin ich: der neutrale Typ. Meine Hochs und Tiefs sind nicht besonders früh oder spät angesiedelt, sondern eher mittendrin. Ich beobachte also meine Aktivitätskurve: Als erstes Tief identifiziere ich das zwischen zwölf und 14 Uhr, später erwischt mich noch ein Nachmittagstief zwischen 16 und 18 Uhr. Etwa ab null Uhr beginnt mein Nachttief.

Daniel Feistenauer für DB Mobil
Plisseekleid von H&M Conscious, ca. 400 €, Overkneestiefel: Vagabond, ca. 160 €, Ring: Wald Berlin, Ohrringe: Nina Kastens

In diesen Tiefpunkten beginne ich mit meiner Recherche – zunächst zu Übungszwecken allerdings im Homeoffice auf der Couch. Folgt man Power-Napping-Ratgebern, sollte das richtige Schläfchen zwischen 15 und 30 Minuten lang sein. Wer länger als 40 Minuten schläft, kommt danach nicht mehr hoch. Um auch wirklich wieder aufzuwachen, stelle ich mir den Wecker. Andere trinken angeblich vorher zum Beispiel einen Kaffee, dessen Koffein erst nach 20 Minuten wirkt, oder halten einen Schlüsselbund in der Hand, der ihnen beim völligen Wegnicken aus der Hand fällt und klirrend das Wecksignal sendet. Das kleine Nickerchen klappt bei mir wie erwartet zunächst überhaupt nicht: Statt in ein dunkles Nichts zu sinken, verliere ich mich in Jobgedanken. Hoffentlich erwischt mich jetzt nicht die „Mittagsfrau“, denke ich im unruhigen Pseudoschlaf. In sorbischen Sagen taucht auf den Feldern der Flachsbauern am Mittag eine weibliche Gestalt mit Pferdefüßen oder als Wirbelwind auf, lähmt die Glieder, verwirrt den Kopf und bedroht mit ihrer tödlichen Sichel all jene, die sie beim Ernten – sprich: Arbeiten – erwischt. Als Gute-Nacht-Geschichte nur bedingt zu empfehlen.

Nickerchen sind ein rebellischer Akt. Sie sagen auf die friedlichste aller Arten: Ich muss gar nichts

Eine wirkungsvollere Hilfe ist die Methode „Relax and Win“, die angeblich auch das amerikanische Militär anwendet, um seine Soldat:innen in Kriegsgebieten innerhalb weniger Minuten ins Land der Träume zu befördern. Ausreichend Schlaf scheint kriegsentscheidend zu sein. In einer ersten Phase entspannt man seine Gesichtsmuskulatur, insbesondere Kiefer, Zunge und die Muskeln um die Augen. Die Schultern sinken tiefer, die Arme entspannen, der Oberkörper wird schwer, zum Schluss folgen die Beine. Wer dann noch nicht schläft, soll seine Gedanken abschalten und sich innerlich an einen besonders friedlichen Ort begeben: in ein Kanu auf einem ruhigen See zum Beispiel oder in eine Samthängematte in einem finsteren Raum. Tatsächlich bemerke ich, dass diese Form der progressiven Muskelentspannung hilft. Vor allem ein bewusst gelockerter Kiefer fördert meine Schlafneigung, sodass ich auf meiner Couch tatsächlich kurz wegnicke. Habe ich gesabbert?

Daniel Feistenauer für DB Mobil
ER: Pulli mit Zipper von Barbour, ca. 140 €, Cargohose von Arket, ca. 100 €, Boots: Tretorn über Arket, ca. 150 €, Ringe: Johanna Gauder und Rose von Sharon. SIE: Kleid von Working Title, ca. 900 €, Barett: Blanche, ca. 70 €, Stiefel: Vagabond, ca. 170 €, Ohrring: Johanna Gauder, Ring mit Perle: Jane Kønig. Stuhl: Vitra

Von meiner Müdigkeit motiviert, wage ich mich also in den öffentlichen Raum. Im Leipziger Gewandhaus ist eine Theaterperformance von Studierenden um Mitternacht angekündigt. Darin sollen die Büsten des Hauses von Beethoven, Reinecke, Tschaikowski und so weiter von Schauspielern zum Leben erweckt werden und sich so eitel über ihr Sein und Wirken unterhalten, wie es nur ein Klub vermeintlich alter, weißer Männer kann. Da werde ich schon ob der Grundkonstellation müde. Eine Pianistin spielt die „Geistervariationen“ von Robert Schumann. Ein Tor zur Zwischenwelt tut sich auf. Meine Lider werden zunehmend schwer und lassen sich nur mit Mühe wieder öffnen. Auch mein Nebenmann stützt sich auffällig lange auf die Knie und lässt den Kopf sinken. Ich merke: Wenn andere sich fallen lassen, fühlt sich mein Inemuri weniger merkwürdig an. Während des „Geistertanzes“ von Brahms wird es bei mir im Kopf ganz weich und wattig. Alles ist ein bisschen egal, wenn man den Schlaf zulässt. Außen und innen fließen zusammen, bewusst und vorbewusst, Theater und Traum. Ein wirklich schöner Zustand, denke ich so im Dazwischen. Als mein Nebenmann einen Schnarcher loslässt, bin ich wieder wach. Beim Schlussapplaus schreckt auch er hoch, applaudiert zufrieden und fühlt sich nach eigener Aussage herrlich erfrischt.

Die Recherche nimmt Fahrt auf. Beziehungsweise das Gegenteil – ich mache mit Hinweis auf meine „Nickerchen-Recherchen“ ständig die Augen zu. Auch im Zug möchte ich schlafen, werde aber von den Gesprächen ringsum abgelenkt. Ich habe zwar Schlafmaske und Kopfhörer dabei, aber die Einschlafmusik und Einschlaf-Podcasts, die ich im Internet finde, sind für mich zu viel Stimulanz. Stattdessen probiere ich „weißes Rauschen“, das beispielsweise Tinnitus-Patient:innen und Babys akustisch entspannt. Es ist ein äußerst monotones Geräusch, das klingt, als würde ein altes Radio keinen Sender finden. Da der Zug aber bereits ein eigenes Grundrauschen besitzt, kann ich wenig zusätzliche Entspannung feststellen, sondern fühle mich eher durchgeföhnt. „Ich darf den Schlaf nicht zu sehr wollen“, denke ich mir. „Einfach mal nichts denken – das wäre ja schon Entspannung genug.“ Ein Freund empfiehlt mir dafür eine Meditationsanleitung zu „kohärentem Atmen“, bei der ich auf die gleichmäßigen Schläge auf eine tibetanische Klangschale innerhalb von knapp zwölf Sekunden ein- und ausatme. Das synchronisiert allmählich Atem und Herzschlag und vertieft sich schnell. „Etwa fünfmal in einer Minute zu atmen ist dreimal weniger als normalerweise“, erklärt der Meditationstrainer in der Einleitung. Je mehr ich mich im Abschalten übe, umso schneller sinke ich ins Nichts.

Daniel Feistenauer für DB Mobil
ER: Bomberjacke von Levi’s, ca. 140 €, Upcycling Denim Pants und Shirt von Avenir, ca. 120 € und 130 €. SIE: Jeanskleid mit Rüschenkragen und High Flair Jeans von Levi’s, ca. 105 € und 125 €. BEIDE: Schuhe: Doc Martens, ca. 170 €, Strümpfe: Falke. Trolley: Horizn Studios

Nach drei Wochen eher ruhender Nickerchen-Recherche in Bus, Bahn und Auto bin ich derartig easy, dass ich endlich sogar ohne vorherige Meditation auf dem großen Holztisch in der geisteswissenschaftlichen Bibliothek Albertina in Leipzig einschlafe. Über mir eine Glaskuppel mit dem langsam dämmernden Nachmittagshimmel, neben mir leise tippende Studierende, vor mir ein Buch des französischen Philosophen Thierry Paquot, der über „Die Kunst des Mittagsschlafs“ schrieb, dass dieser mehr sei als ein heiteres Dämmern in der Mitte des Tages, sondern ein „Akt des Widerstands: Wer tagsüber ruht, entzieht sich der Fremdbestimmung, widersetzt sich den Rhythmen der Arbeitswelt und der Produktivitätsmoral.“

Dass Nickerchen ein rebellischer Akt sind, gefällt mir gut. Sie sagen auf die friedlichste aller Arten: Ich muss gar nichts. Nickerchen sind herrlich schadfrei gegenüber anderen Menschen, Ressourcen und der Welt. Wer schlummert, braucht nichts. Wer schläft, ist friedlich.

Autorin Greta Taubert hat sich aus Recherchegründen auch das Schlafhormon Melatonin als Tropfen eingeflößt. Das Mittel verkürzte zwar die Einschlafzeit, killte dafür aber auch alle Träume. Dabei sind die doch das Schönste am Schlafen.

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