Wie lebt es sich auf einem Hausboot?

Fast jeder dritte Deutsche hält ein Hausboot für eine erstrebenswerte Form des Wohnens. Unser Autor ging für ein paar Tage an Bord, um zu ergründen: Ist er einer von ihnen?

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Lesezeit: 8 Minuten
Der Seddinsee aus der Vogelperspektive
Malte Jäger für DB Mobil
In einer Bucht des Seddinsees liegt das Hausboot

Plötzlich fühle ich mich wie Indiana Jones. Mitten im Dschungel, aber noch ist kein verlorener Schatz zu sehen. Ich hocke in einem Kajak und gleite durch pistaziengrünes Wasser. Mechanisch steche ich mein Paddel in das schimmernde Nass. Links, rechts. Links, rechts. Um mich herum zwitschern Vögel. Nein, sie brüllen fast. Stört es sie, dass ich hier bin? Über mir schließen sich Baumkronen, das Blätterdach verdeckt den blauen Himmel. Es riecht faulig. Halb versunkene Stümpfe und Äste ragen wie die Knochen eines Saurierskeletts aus dem Gewässer. Hoffentlich gehe ich nicht über Bord. Für eine Landratte wie mich ist so eine Kajakfahrt eine wackelige, da ungeübte Angelegenheit. Gibt es hier Piranhas? Krokodile? Baumstammdicke Pythons? Wohl kaum. Ich bin nicht auf dem Amazonas unterwegs. Sondern in den alten, verwilderten Seitenarmen des Gosener Kanals, der den Berliner Seddinsee mit dem Dämeritzsee verbindet. Die Tierwelt kann sich dennoch sehen lassen. Vor mir kreuzt eine Nutria, eine fette Biberratte mit funkelnden Knopfaugen. Ein Graureiher thront, still wie eine Statue, auf einem Baumstumpf. Und ein Haubentaucher streckt mir empört den Irokesenschnitt entgegen, als ich an seinem Nest vorbeigleite. Die Millionenmetropole Berlin, sie wirkt sehr weit weg hier. Deshalb bin ich hergekommen. Um die wilden Seen rund um Berlin zu erkunden. Um Zeit auf dem Wasser zu verbringen. Und um einen guten Freund zu besuchen, der in dieser verwunschenen Gegend auf einem Hausboot umherschippert. Ist das Leben, das er hier führt, auch ein Leben für mich? Bin ich nah am Wasser gebaut?

Malte Jäger für DB Mobil
Blick auf die Fahrrinne: Der Autor schaut tief ins Glas

Rückblende, drei Tage zuvor. Die Reise beginnt auf der Schiene. Von Hamburg aus fahre ich per ICE zum Berliner Hauptbahnhof, weiter mit der S-Bahn. Berlin ist an diesem Tag typisch Berlin: groß und voll und laut. In Grünau, im Südosten der Metropole, steige ich in die Tram. Schon ruhiger hier. An der Haltestelle Alt-Schmöckwitz verlasse ich die Straßenbahn und gehe zu Fuß weiter. Mir ist heiß. Schnell klebt der Rucksack an meinem Rücken, die Reisetasche zerrt an meinem Arm. Ich stapfe stur Richtung Bootsanleger und denke dabei an Alexander von Humboldt. Der große Entdecker hat einmal gesagt: „Die Natur muss gefühlt werden.“ Ich fühle an meinem linken Fuß eine Blase.

Berlin ist eine Wasserstadt. Auf einer Fläche von rund 900 Quadratkilometern gibt es 50 Seen, drei Flüsse und acht Kanäle. Aber auf Postkarten finden sich meist nur der Reichstag, der Fernsehturm oder das Brandenburger Tor wieder. Am Ufer des Seddinsees liest mich Malte Jäger, 44, mit dem Schlauchboot auf. Ich werfe mein Gepäck in das schaukelnde Dingi, wie solche Beiboote auf Seemannsdeutsch heißen. Kurze Umarmung, ein kumpeliges Lachen, schon jagen wir los. Fort von der Stadt, weg von dem Lärm, den Autos und dem Beton. Malte, dünn und drahtig, schwarzer Schnäuzer in einem Kinogesicht, ist ein toller Fotograf. Ich war schon oft mit ihm unterwegs. „Auf Geschichte“, wie wir sagen. Gemeinsam haben wir in Hongkong Schlangensuppe gelöffelt und uns durch Rumsorten auf Mauritius getrunken. Heute verbringt er fast jede freie Minute auf Berliner Gewässern. „Mein Hausboot ist das beste Office, das ein Mensch haben kann“, sagt er. Nach einer Viertelstunde Fahrt erreichen wir die „Guriù“. Malte hat das Boot nach einem Fischerdorf im Nordosten Brasiliens benannt, in das es ihn auf einem Couchsurfing-Trip verschlagen hatte. „Das Wort verkörpert für mich die Sehnsucht, unterwegs zu sein“, sagt er. Dabei sieht die „Guriù“ eher wie ein festes Zuhause aus. Das Boot liegt wie ein gläserner Bungalow auf dem See. 14 Meter lang, viereinhalb Meter breit, 3,80 Meter hoch. Das Dach ist halb Terrasse, halb Solarzellenfeld. Den Innenraum dominieren ein Holzboden und ein kleiner Kamin. Und natürlich der offene Kapitänsstand mit dem Steuerrad. Dahinter sitzt Malte oft an einem Esstisch und arbeitet. Sichtet Bilder, plant neue Produktionen. Wenn er Pause macht, setzt er sich in einen Schmetterlingssessel aus Leder, trinkt einen Kaffee und schaut durch die bodentiefen Fenster hinaus auf den See. „Heute Morgen hab ich einen Biber gesehen“, sagt er. Ich kenne Biber nur aus der Baumarktwerbung.

Laut Umfragen können sich 29 Prozent der Deutschen vorstellen, auf dem Wasser zu wohnen. Neu kann ein Hausboot wie die „Guriù“ rund eine Viertelmillion Euro kosten. Malte und seine Frau Jessika, 39, blond und tätowiert, hatten Glück. Sie erstanden das gute Stück 2017 aus der Konkursmasse eines Architekten, der finanziellen Schiffbruch erlitten hatte. „Da war das Schiff aber schon zehn Jahre alt“, erzählt Malte. „Wir haben es kernsaniert und umgebaut. Und sehr viel Geld reingesteckt.“ Er lächelt leicht gequält. Zurzeit ankert die „Guriú“ nahe einem alten Verladehafen am Nordufer des Seddinsees. Nach dem Zweiten Weltkrieg luden Binnenschiffe hier den Schutt der zerbombten Berliner Stadtlandschaft ab. Der See und seine bewaldete Umgebung sind ehemaliges DDR-Gebiet.

Malte Jäger für DB Mobil
Zeitgeschichte am Ufer: altes Zementwerk Rüdersdorf
Malte Jäger für DB Mobil
Kompaktgrill: An Bord ist man gut gerüstet
Malte Jäger für DB Mobil
Grün hinter den Ohren: Für den Autor sind Berliner Kanäle nasses Neuland

Der Blick, die Weite, all das macht etwas mit mir. Ich bin gespannt und entspannt zugleich

Die deutsch-deutsche Geschichte, sie ist in diesen Gewässern präsent. Malte hat viele Anekdoten parat, über verwunschene Orte und skurrile Schatzsucher, die er bei seegekühlten Bieren zum Besten gibt. Schließlich lege ich mich in die Koje. Ein leichtes Schaukeln wiegt mich in einen traumlosen Schlaf.

Früh am Morgen. Der Nebel liegt wie eine fluffige Decke über dem See. Käpt’n Malte, stilecht im Matrosenshirt, wirft die Maschinen an. Die „Guriù“ sieht aus wie ein Architektenbungalow, unter Wasser aber ist sie ein Katamaran: Zweimal 16 PS sind in zwei Mitsubishi-Schiffsdieseln verbaut. Gemütlich tuckern wir los. Die Höchstgeschwindigkeit erreichen wir bei sieben Kilometern pro Stunde, was einem relaxten Joggingtempo entspricht. Wozu auch die Eile?

Malte Jäger für DB Mobil
Aye, aye, Käpt’n! Malte Jäger am Steuer seines schwimmenden Büros
Malte Jäger für DB Mobil

Für das fahrende Haus braucht es einen Bootsführerschein. Je 350 Euro hat das Malte und Jessika gekostet. Die „Guriù“ wiegt um die 20 Tonnen – nicht leicht zu manövrieren. „Die kastige Form bietet dem Wind eine perfekte Angriffsfläche“, doziert Malte. In Schleusen, bei Brückendurchfahrten oder beim Einparken beginne das echte Abenteuer, sagt der Skipper. Auf den Seddinsee folgt der Dämeritzsee, auf den Flakensee der Kalksee. Wie Perlen einer Kette ziehen sich die Binnengewässer durch das Grenzland zwischen Brandenburg und Berlin. Graue Wolken schieben sich in Sicht, verschmelzen am Horizont mit der Wasseroberfläche. Die Szenerie erinnert mich an die „Seestücke“ des Malerfürsten Gerhard Richter. Der Blick, die Weite, all das macht etwas mit mir. Ich bin gespannt und entspannt zugleich, euphorisch und entschleunigt. Ist es dieses Gefühl, dass dich hier hinausgetrieben hat, Malte? „Ich habe zu lange ein Betonleben gelebt“, sagt er, die Augen auf die Fahrrinne. „Zwischen Autos und Abgasen, Verkehrslärm und Hinterhöfen. Irgendwann habe ich mich gefragt: Warum eigentlich? Schließlich komme ich doch von der Küste.“ Malte stammt aus Schleswig, er wuchs mit Blick auf die Schlei auf, einem Meeresarm der Ostsee. „Die schönsten Erinnerungen meiner Jugend spielen am Strand.“ In Berlin-Kreuzberg kaufte er sich vor gut sieben Jahren ein Kajak zum Aufblasen. Er begann, die Kanäle in seinem Kiez zu erkunden. Dann wagte er sich auf die Spree hinaus. Bei einem Ausflug in die Rummelsburger Bucht entdeckte er ein Hausboot. Exakt so ein Modell, wie jenes, das er heute besitzt. „Ich habe gedacht: Das ist es. Das will ich auch!“ Zügig paddelte er nach Hause. Er öffnete seinen Laptop und durchforstete das Netz.

Malte Jäger für DB Mobil
Naturverbunden: Jessika Jäger, zweite Kapitänin
Malte Jäger für DB Mobil
Frisch serviert: Köstlichkeiten aus der Kombüse
Malte Jäger für DB Mobil
Nachtschattengefährt: die „Guriù“ am Ufer des Seddinsees

Maltes Geschichte lässt mich grübeln. Ich lebe schon lange in der großen Stadt, bisher fand ich das gut so. Ich brauche kein Auto, kann zur Arbeit laufen – und erfreue mich an all den Nuancen von Grau, die mir meine Hamburger Wahlheimat bietet. Schön urban, wie die Stadtentwickler zu sagen pflegen. Aber ich gebe zu: Während der Pandemie hat die Großstadt an Attraktivität verloren. Was bringen all die Theater und Kinos, die Restaurants und Cafés, wenn sie geschlossen sind? Und dann, wenn sie wieder öffnen: Ist die Enge, die Nähe, die Dichte des städtischen Raums eine Gefahr für die Gesundheit? Solche Fragen haben sich in meinem Freundeskreis viele Menschen gestellt. Und sie mit dem Umzugswagen beantwortet. Für sie ging es raus auf die Dörfer, Träume von Häuschen im Grünen, am besten mit Seeblick, wurden in die Tat umgesetzt. Jedenfalls von denen, die es sich leisten konnten. Ich kam mir etwas zurückgelassen vor. Wie ein E-Scooter an der Straßenecke.

Malte Jäger für DB Mobil
In der Rummelsburger Bucht bilden mehrere ankernde Hausboote ein sogenanntes Päckchen. Zum Sundowner trifft sich die Nachbarschaft auf dem Dach

Schon schön, so drei, vier Tage auf dem Wasser, denke ich. Da ertönt ein Hupgeräusch. Die Wasserschutzpolizei

Links. Rechts. Links. Rechts. Mein Paddel sticht in das grüne Nass des Gosener Kanals. Langsam arbeite ich mich wieder zurück in die Zivilisation. Dahinten, gut eine halbe Seemeile entfernt, sanft schwingend auf den Wogen des Seddinsees, reflektieren die bodentiefen Fenster von Maltes Hausboot das Sonnenlicht. Schon schön, so drei, vier Tage auf dem Wasser, denke ich. Da ertönt ein furzähnliches Hupgeräusch. Die Wasserschutzpolizei. Das Patrouillenboot hält auf mich zu. Was habe ich getan? Momente später, freundlich, aber bestimmt, erläutert mir der Wassermeister, pardon, Wachtmeister, dass ich in den falschen Kanal abgebogen sei. Vogelschutzgebiet. Schuldbewusst denke ich an den empörten Haubentaucher. Ich zahle für meine Ordnungswidrigkeit ein Bußgeld, die Quittung stopfe ich mir in die Brusttasche meines Holzfällerhemds. Mit eingezogenem Kopf paddele ich weiter. Ich bin eben kein Indiana Jones. Dies ist nicht der Amazonas. Und auch auf Berliner Seen gelten deutsche Gesetze. Als ich das Kajak an der „Guriù“ vertäue, spüre ich einen leichten Stich im Herzen. Ist das etwa Sehnsucht? Habe ich schon wieder Lust auf die Stadt?

Ran ans Steuerrad!

Wo man rund um Berlin und anderswo im Land auf dem Hausboot Urlaub machen kann

 

Ohne Führerschein

Nachhaltig mit Elektroantrieb oder gemütlich mit Kaminofen: An fünf Standorten in der Region Berlin-Brandenburg vermietet Bunbo die namensgebenden Bungalowboote. Bis zu sechs Personen finden darauf Platz. Ein offizieller Bootsführerschein ist nicht erforderlich; nach einer Einweisung erhalten Kapitän:innen einen Charterschein zur Befahrung der lokalen Gewässer.

bunbo.de

 

Zwischen Weinbergen

Die Moselregion liegt nahe der deutsch-französischen Grenze. Warum die Gegend zwischen Weinbergen und Burgen nicht mal vom Wasser aus entdecken? Ab einem Alter von 18 Jahren darf man fast alle Routen ohne Bootsführerschein steuern, nach einer kurzen Einweisung.

kuhnle-tours.de

 

Tagebautouren

Früher wurde rund um Leipzig Braunkohle abgebaut, heute sind die Restlöcher von damals geflutet, und eine Seenlandschaft ist entstanden. Floating Houses vermietet an mehreren Orten schwimmende Ferienhäuser. Bis zu acht Personen können hier schlafen, und es gibt sogar eine Sauna. Die Häuser haben feste Liegeplätze.

floatinghouses.de

 

Spree-Zeitreise

Kapitän „Hannes“ nimmt in Berlin bis zu 33 Passagier:innen auf historischen Schiffen mit und erklärt nebenbei Hauptstadtfakten. Die Touren und das Boot bucht man privat. Deshalb kann man die Route individuell besprechen.

berlinliquide.com

Malte Jäger für DB Mobil
Zeit zum Gucken: Hausboote fahren nur etwa acht Kilometer pro Stunde

Erschienen in DB MOBIL Ausgabe Juli/August 2022

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