Geschichten-Express

Ein Ticket, ein Kontinent: Interrail ist eine Legende. DB MOBIL erzählt, was sie begründet und wie heute jede und jeder an ihr teilhaben kann

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interrail.eu, Eurail (3), DB AG (3), PR

Kurz vor der ungarisch-rumänischen Grenze schob ein Mann in Jeansjacke unsere Abteiltür auf, vier prall gefüllte Plastiktüten in den Händen. Er hievte sie auf die Gepäckablage und warf meinen beiden Reisebegleitern ein paar Sätze auf Rumänisch zu, worauf sie ihm einen Daumen hoch als Antwort gaben. Tür wieder zu, der Mann verschwand.

Die beiden jungen Kerle mochten in etwa so alt sein wie ich, Anfang 20. Wir hatten zu plaudern begonnen, nachdem der Zug den Bahnhof von Budapest verlassen hatte. Auf Französisch. Sie hatten einige Monate in Frankreich verbracht und auf Baustellen gejobbt. Nun fuhren sie nach Hause, nach Siebenbürgen. Ich hatte ihnen meine Reisepläne dargelegt: Nach Prag, Wien und Budapest, wo ich jeweils Bekannte getroffen hatte, sollte die bulgarische Schwarzmeerküste mein nächstes Ziel sein. Dann Istanbul, Griechenland, die Fähre nach Italien – und irgendwann zurück nach Deutschland, bevor die Gültigkeit meines Interrail-Tickets überschritten war.

Der Plastiktütenzwischenfall unterbrach unsere Unterhaltung – das ist nun mehr als 25 Jahre her. Der Mauerfall hatte die zweite Hälfte des Kontinents geöffnet, und Tausende junge Europäer wie ich ließen sich nicht lange bitten. In den 90er-Jahren war das Interrail-Ticket bereits ein Mythos aus drei Zutaten: Freiheit, Abenteuer und Freundschaft.
Das Überall-Ticket ist ein Geschichtenerzeuger. Es ist kaum möglich, per Interrail zu reisen und nicht wundersame und einprägsame Erlebnisse zu sammeln.

Und das seit der Einführung im März 1972. Jugendliche wollten zu dieser Zeit, beeinflusst vom Hippie-Trail und der 68er-Generation, anders reisen als ihre Eltern. Die hatten in den 50er- und 60er-Jahren die Pauschalreise groß gemacht. Jetzt hieß es: Selbstfindung, Trampen und Zugreisen. Auf diese neue Reiselust reagierte der Internationale Eisenbahnverband (UIC) zu seinem 50-jährigen Bestehen mit einer als einmalige Jubiläumsgabe geplanten Aktion: Er brachte ein Ticket heraus, das es Jugendlichen bis zum Alter von 21 ein Jahr lang ermöglichte, auf den Strecken von 21 teilnehmenden Landes-Eisenbahnen Europa zu entdecken. Weil allein im Jahr 1972 schon mehr als 85 000 Jugendliche dieses Angebot wahrnahmen, wurde es fortgeführt – eine Legende war geboren.

Zu Beginn war Interrail so gefragt, dass das Bild von im Bahnhof schlafenden Rucksacktourist:innen sommers zum Alltag gehörte. Einige große Bahnhöfe reagierten darauf, so wie Hamburg, wo in einem Auslagerungsgebäude das „InterRailQuartier“ mit sieben Schlafräumen eingerichtet wurde.

Einige Interrailer:innen erlangten sogar Berühmtheit. 1987 fuhr der damals 25 Jahre alte Manfred Weis aus Karlsruhe innerhalb von vier Wochen 36 000 Kilometer per Interrail durch Europa. Er besuchte fast alle europäischen Hauptstädte und fuhr hauptsächlich mit Nachtzügen, um Hotelkosten zu sparen. Er war gut vorbereitet: Weis hatte Bargeld in 16 verschiedenen Währungen dabei. Für das „Guinness-Buch der Rekorde“ dokumentierte er seine Fahrt mit Stempeln im Fahrtenbuch. Bis heute ist der Rekord ungebrochen. Weis reist noch immer gerne und bloggt darüber auf viadia.de.

Als der Eiserne Vorhang fiel, erweiterte sich der Abenteuerraum. Im Jahr der deutschen Einheit, 1990, gingen rund 400 000 Tickets weg. Doch mit den Billigfliegern brach das Geschäft ein: 2002 kauften nur noch 145 000 Menschen einen Pass. Inzwischen steigt die Zahl der Käufer wieder. Vor der Pandemie waren es jährlich etwa 295 000 – keinesfalls mehr nur solche im jugendlichen Alter.

Schon wenige Jahre nach der Einführung wurde die Altersbeschränkung von 21 auf 26 Jahre angehoben und 1998 mit dem Angebot „InterRail 26+“ faktisch aufgehoben. War Interrail einst ein Jugendprojekt, so hat sich das Bild inzwischen gewandelt: Nur noch gut die Hälfte aller Fahrgäste ist unter 26 Jahre alt, Tendenz bei Interrailer:innen über 26 Jahren weiterhin steigend. Auch ziehen immer mehr Familien, sogar solche mit kleinen Kindern, mit dem Pass im Gepäck von Land zu Land. Sie schätzen den Komfort der modernen Zugflotten. Und viele Erlebnishungrige wollen aus Rücksicht auf das Klima nicht mehr fliegen und suchen nach Alternativen. Besonders Schweden erfreut sich neuerdings großer Interrail-Beliebtheit. Möglicherweise nehmen sich viele ein Beispiel an Greta Thunberg. Die Klimaaktivistin aus Stockholm protokolliert ihre langen Zugfahrten durch Europa gern in den sozialen Netzwerken.

Kaum möglich, mit dem Ticket zu reisen und keine einprägsamen Erlebnisse zu sammeln

Gerade jetzt ist Interrail wieder politisch im besten Sinn. „Discover EU“ nennt sich ein Programm der Europäischen Kommission, das zum Ziel hat, 18-jährigen Europäer:innen ein Interrail-Ticket gratis zur Verfügung zu stellen. Die ersten rund 30 000 Tickets wurden 2018 verlost. Die Idee geht auf die Initiative zweier junger Deutscher zurück, die seit 2015 unter dem Titel „Free Interrail“ Werbung für ein Ticket für jeden EU-Bürger zum 18. Geburtstag machten. Die EU-Kommission hatte für das Projekt bis 2027 die stolze Summe von 700 Millionen Euro angekündigt, um zweimal jährlich über europa.eu jeweils bis zu 20 000 Tickets zu verlosen.

Coronabedingt beginnt die nächste Verlosung erst im Oktober 2021. Der Interrail-Raum wächst unterdessen. Jüngst hinzugekommen sind die baltischen Staaten, und das Vereinigte Königreich mag zwar aus der EU ausgetreten sein, bleibt aber Teil der Reisegemeinschaft.
Mehr als acht Millionen Menschen sind bis heute mit Interrail verreist – und haben sicher ebenso viele Geschichten zu erzählen. Der Moderator Günther Jauch etwa reiste in seiner Jugend nach Lloret de Mar. Seine eindrücklichste Erinnerung: Er bekam, als er sein Zelt auf dem Campingplatz öffnete, von einem Spritzfahrzeug eine Ladung Insektengift ins Gesicht. „Dass ich das überlebt habe!“, freute er sich später.
Und die Plastiktüten? Darin transportierten unsere Mitreisenden Hunderte Rasierklingen, wie meine Begleiter übersetzten. Ich solle dem Zöllner bedeuten, dass es meine Tüten seien, er würde das nicht hinterfragen. So kam es. Wir waren nun drei Komplizen. Es fühlte sich an wie Freiheit, Abenteuer und Freundschaft.

INTERRAIL À LA CARTE
Es gibt den Global Pass, mit dem man in allen 33 Interrail-Ländern (siehe Karte) reisen kann. Und den One Country Pass, der nur in einem Land gilt (außer im Heimatland des Buchenden). Jeweils für 1. und 2. Klasse erhältlich.

bahn.de/interrail

Tipp: Direkt als Handyticket kaufen und in die kostenfreie App Rail Planner laden, die zudem der Reiseplanung dient.

DB MOBIL-Redakteur David Schumacher ging einige Jahre später erneut auf Interrail-Reise, mit seiner Freundin, die heute seine Frau ist. Der Corona-Reise-Blues schwindet verlässlich, wenn einer von beiden sagt: „Weißt du noch, diese Stadtvilla in Palermo?“

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