Leipzigs langer Weg

Die Stadt in Sachsen wird als hippe Ostmetropole verehrt, doch die raue Vergangenheit ist noch überall spürbar. Ein Essay vom Leipziger Buchpreis-Gewinner Clemens Meyer

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Datum: 19.04.2023
Eine Straßenkreuzung in Leipzig im Gegenlicht, Straßenbahnschienen am Boden, ein paar Menschen überqueren die Straße
© Felix Adler

Am 21. März 2024 startet die Leipziger Buchmesse – nicht ganz so groß wie ihre Schwester in Frankfurt, aber mindestens so bedeutend. Außerdem gilt „Hypezig“ immer wieder als das neue Berlin, mindestens.

Der Schriftsteller Clemens Meyer („Als wir träumten“) hat exklusiv für DB MOBIL einen literarischen Rundgang durch seine Heimatstadt verfasst. Vom „Rentnerbiotop Reudnitz“ über „Leipzigs Central Park“ bis hin zu seinem Lieblingsort, an dem Pferde galoppieren – und für ihn das Leipziger Herz trommelt.

Im Anschluss an Meyers Text führen wir alle Stationen seines Leipzig-Spaziergangs auf, plus die wichtigsten Infos zur Buchmesse. Im kommenden Absatz geht es nun aber erstmal los mit Meyers Rundgang.

 

Wo sind die Burgen, denke ich manchmal, wenn ich durch Anger-Crottendorf laufe, mein Viertel am südöstlichen Rand der Stadt Leipzig. Denn wie verwunschene, dunkel verwitterte Festungen lagen einst die verlassenen Fabriken auf verwilderten Brachen. Bahndämme durchzogen wie Mauern das Viertel, auf den Dächern der Häuser lag noch der Ruß der DDR, und in den Eckkneipen wurde Skat gekloppt und Bier und Schnaps getrunken, als wäre die Vergangenheit dort niemals vergangen, denn Alkohol konserviert!

Noch Mitte der Zweitausenderjahre standen fast 30 Prozent der Wohnungen leer in Danger-Crottendorf, wie das Viertel heute noch manchmal scherzhaft genannt wird, und keiner weiß genau, wo es früher mal dunkler und gefährlicher war, in Danger oder im benachbarten Stadtteil Reudnitz, der aber erst in den letzten Jahren den Spitznamen „Detroit-nitz“ erhielt. Dort, im tiefsten Reudnitz, steht übrigens die alte Reudnitzer Brauerei, die heute nur noch das legendäre Sternburg Export braut, natürlich in der Oststraße. Die Brauereifeste waren mindestens genauso legendär wie das Sternburg Export mit dem roten Stern und endeten oft in einer Massenschlägerei, während die Puhdys Ostrock spielten. Früher war Sternburg Export ja eher verpönt, wir tranken Reudnitzer Pilsner, die bekannteste Marke Reudnitzer Herkunft, neben den berüchtigten Reudnitzer Rechten, beide nicht mehr existent, was nur im Fall des guten alten Pilsners zu bedauern ist.

© Felix Adler
Cooler Schuppen oder verrammelter Altbau? Die Grenzen sind fließend in Leipzig dieser Tage. Gutes Beispiel: das Restaurant Goldhorn in der Eisenbahnstraße nördlich von Reuditz

Reudnitz: vom „Drogensumpf“ zum „Rentnerbiotop“
Verglichen mit unserer Trabantenstadt Grünau, die bis Anfang der Achtziger aus dem Boden gestampft wurde am anderen Ende der Stadt L., wirkte Reudnitz aber eher beschaulich in jenen Nachwendejahren, die sich irgendwie bis Ende der Neunziger hinzogen. In Grünau leuchteten selbst die Fenster der 18-Geschosser bedrohlich in den Grünauer Nächten, in denen die Mülltonnen brannten und die Stimmen sich in den Plattenbauschluchten verloren, „Crystal, Heroin, Speed!“, wie so viele der kurzzeitig orientierungslosen Zonenkinder sich verloren, die Crashkids wurden, Autos stahlen, rebellierten, im Drogensumpf versanken, scheiterten, überall im Osten, nicht nur in Reudnitz oder Grünau. Heute ist Grünau eher ein Rentnerbiotop, weit weg, aber es gibt auch dort noch Ecken wie die alte Magistrale Miltitzer Allee, wo der Spruch der Schriftstellerin Christa Wolf zutrifft, die lange in der Nachbarstadt Halle gelebt hat: „Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.“

Aber doch, es vergeht und verweht! Und vielleicht ist das auch gut so, denke ich, wenn ich durch unseren Lene-Voigt-Park schlendere, der Danger mit Detroitnitz und dem Zentrum-Ost verbindet. Wiesen, Sportplätze, Grillplätze, Fahrradwege und Spielplätze, Cafés in den angrenzenden Straßen. Bis Anfang der Zweitausender war das ein riesiges Bahngelände, Schienenstränge, Lokschuppen, die teilweise heute noch zu sehen sind. Am Rande dieser Bahnschneise wanden sich die silbernen Rohre der Fernwärme wie riesige Schlangen, vorbei an den Kleingartenanlagen oder mitten durch diese hindurch. Auch heute noch sind diese Rohrsysteme hier und dort zu sehen, auch im Westen der Stadt, entlang der Flüsse Elster und Pleiße. In meiner Erinnerung schießt ein kochend heißer Dampfstrahl aus einer undichten Stelle an einem der Rohre, zerteilt sich zischend hoch oben; so sind sie auch, zerteilt und zischend, die Erinnerungen an eine Stadt, die sich mehr und mehr verändert, so sehr, dass man sich fast verbrennt, so sehr, dass man kaum noch weiß, was war einmal, was wird einmal ... Mein Leipzig lob ich mir, doch manchmal tob ich hier.

Ganz und gar erfassen kann man diese Stadt L. sowieso nicht, zerrissen ist sie doch noch, oder?

Clemens Meyer, Schriftsteller aus Leipzig

Weil vieles mich erzürnt, so wie die Verschandelung der Innenstadt durch die Höfe am Brühl, eine seelenlose Glas- und Plastikfassade am traditionsreichen Brühl, wo einst die Pelzindustrie, die sogenannten Rauchwaren, unsere Stadt weltberühmt machte, so wie die Bücher, die Verlage, die Druckereien unsere Buchmessestadt weltberühmt machten, aber was ist auch hiervon heute noch da und übrig ...? Aber halt, noch zischt’s und dampft’s im Leipziger Osten, aber ganz und gar erfassen kann man diese Stadt L. sowieso nicht, zerrissen ist sie doch noch, oder? Oder nur noch Hype und Zuzug und Tourismus und Wohlfühlmekka und Wendemuseum? Neunundachtzig und Goethe und Bach … Dass aber auch Hanns Eisler, der nicht nur der Komponist der DDR-Nationalhymne war, sondern auch grandioser Moderner und Vertoner von Brecht, in unserer großen kleinen Stadt, die so gern Weltstadt wäre, geboren wurde, wird anscheinend verheimlicht von den Stadtoberen, die ja auch die Höfe am Brühl verbrochen haben … Der große Leipziger Dichter Andreas Reimann, Wunderkind der legendären sächsischen Dichterschule, dichtete passend: „Was sagt die stadt zu dem verlornen sohn: / ‚Ein komponist? Bedaure!: ha’m wir schon!‘ “

Da hat die Stadt scheinbar zugehört, denn sie vergibt seit vier Jahren ein Hanns-Eisler-Stipendium, also doch, wie Goethe dichtete: „Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.“ Der oder auch die Bildungsbeauftragte in der Leipziger Innenstadt ist aber nicht die Universität, ist weder die Thomas- noch die Nikolaikirche, sind auch nicht (hust, hust) die Höfe am Brühl; und das Stasi-Museum an der Runden Ecke empfehlen wir zwar, wie auch das Bildermuseum, aber ... liebe Touristen und Touristinnen, wir schreiben und lesen Stadtgeschichte und Poesie in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung.

Connewitzer Verlagsbuchhandlung: Historische Institution in der Innenstadt
Diese zweistöckige Institution liegt wie ein Wunder in der wunderbaren Passage Specks Hof, einer unserer Innenstadtpassagen, durch die die Touristinnen und Touristen zu Recht staunend schreiten. Hier wollten wir verweilen, einen Augenblick lang Luft holen, denn bedroht ist sie stets, diese Insel der Poesie, einst gegründet im Stadtteil Connewitz, gegründet nicht weit entfernt vom historischen Kino UT Connewitz, das nun wieder in Betrieb ist. Ein magischer Ort, ein altes Filmtheater, umgeben von Kneipen, Läden, Buchhandlungen, und direkt hinter Connewitz endet die Stadt, beginnt das sächsische Bergland …

Wir ham sie satt, die Innenstadt, denn Geschäft für Geschäft wird übernommen von den Ketten, die Innenstadt, „the Sittiesender“, wie die Sächsin und der Sachse sagen, verliert ihre Seele, ihre Einzelhändler, droht sie nun endgültig zu verlieren. Leipzig träumte einst den Traum …, den Traum einer anderen Stadt, denn hier zeigten sich doch Mut und Herz! Da brauchen wir kein Lichterfest zur Erinnerung an 1989, da brauchen wir eine gegenwärtige besondere Stadt, mit Freiräumen, die es ja hier noch vereinzelt gibt, von Danger bis nach Plagwitz, aber bedroht ist all das schließlich immer. Ach, Schiller, Friedrich, wärst du nur länger geblieben als ein paar Wochen oder Monate, und warum hat der Romantiker Novalis seine blaue Blume nur im nahen Weißenfels entdeckt und nicht in L. …?

© Manfred Mülhaupt
Kreatives Leipzig: Auf dem ehemaligen Fabrikgelände einer Spinnerei befindet sich neben Ateliers und Werkstätten heute auch die Pension Meisterzimmer

Der Clara-Zetkin Park ist Leipzigs Central Park
Und plötzlich dringen Stimmen zu uns, wehen von unserem Central Park, dem Clara-Zetkin-Park, über die Dächer, Stimmen, Rufe, ein Kommentator: „Und da kommt das Feld in den letzten Bogen, Miss Lips übernimmt jetzt die Spitze, geht energisch nach vorn!“ Woher kommt das denn? Wehen diese Stimmen vom Schloss mit den zwei Türmen zu uns? „Miss Lips behauptet die Spitze, aber wird jetzt angegriffen von Mister Money!“ Und dieses Schloss liegt, nicht weit vom Zentrum, im Scheibenholz, neben den Flüssen, ist unsere historische Rennbahn mit dem historischen Tribünengebäude, älteste Sportstätte Sachsens! Hier galoppieren die Vollblüter, wenn der Leipziger Rennverein Scheibenholz und die Scheibenholz GmbH zu den Renntagen rufen, an denen wir mit Hüten flanieren, die Mai-Rose am Revers. Und hier ist es wirklich lebendig, das Vergangene, das nie vergangen ist, hier verzaubert das Scheibenholz die Stadt und die Bürgerinnen und Bürger.

Im Herbst liegt der Abendnebel nach den Renntagen über dem Geläuf, im Sommer versinkt die Sonne über Stunden rot und golden hinter den Häusern, glühen die Leipziger Leidenschaften und Stadtlandschaften, leiden wir beim letzten Glas und träumen.

Und hier ist es wirklich lebendig, das Vergangene, das nie vergangen ist

Clemens Meyer, Schriftsteller aus Leipzig

© Daniel Reiche/ECE Promenaden Hauptbahnhof Leipzig
Der Hauptbahnhof, das Tor zur Stadt, in die Reisende mit ganz vielen Erwartungen kommen: an das historische und das aufstrebende, das gelassene und das wilde Leipzig

Träumen von einer „Bewohnbaren Stadt“, träumen zusammen mit den Leipziger Verlagen, die ausharren, träumen mit den Kunstschaffenden, den Bürgerinnen und Bürgern, den Abgehängten und den Kneipenbewohner:innen, erkennen im Traum den gewaltigen Hauptbahnhof, der uns wie ein mythologisches Portal in die Welt bringt, 1913 bis 2022, träumen von Eisler und Bach, von den Schriftstellern Erich Loest und Werner Heiduczek, von „sieben Brücken“ und „sieben langen Jahren“, (der Leipziger Schriftsteller Helmut Richter dichtete den Liedtext 1975 hier in L.), träumen vom sowjetischen Stadtkommandanten Trufanow, der im August 1945 wieder Rennen im Scheibenholz ermöglichte, träumen von der Mundartdichterin Lene Voigt, „Ei verbibbsch!“, träumen von der BSG Chemie Leipzig und meinetwegen auch von Lok Leipzig, träumen von Danger und Detroitnitz …

Aber wenn es einen Leipziger Ort gibt, an dem ich auf ewig verweilen will, wie in Goethes „Augenblick, verweile doch, du bist so schön!“, dann ist es doch die Rennbahn, auf der mit jedem Galoppsprung der Pferde das Leipziger Herz trommelt und schlägt, wo wir Leipziger zusammenrücken, damit die Welt Platz hat in unserer großen kleinen Stadt.

© imago Images/Gerhard Leber
Der Schriftsteller Clemens Meyer, Jahrgang 1977, lebt noch heute in Anger-Crottendorf, wo er aufwuchs. Die Zeit der Wende inspirierte ihn zu seinem Debütroman „Als wir träumten“

Tipps für eine Reise nach Leipzig

Buchmesse
Leser:innen, Autor:innen, Verlage und Medien aus ganz Deutschland und Europa kommen jedes Frühjahr in Leipzig auf der Buchmesse zusammen, dieses Jahr vom 21. bis 24. März 2024. Tickets sind online oder in einer der Vorverkaufsstellen erhältlich

Übernachten im Künstlerquartier
Die alte Baumwollspinnerei in Neu-Lindenau ist heute Künstler:innenquartier. Gäste sind willkommen – die Pension Meisterzimmer vermietet hier vier Appartements

Samstagsmarkt
Streetfood schnabulieren, Kaffee trinken und handbedruckte T-Shirts bestaunen: Ein Wochenende in Leipzig startet am besten mit dem Samstagsmarkt in Plagwitz (von 9 bis 14 Uhr)

Kreative Sterneküche
Spinat mit Curry Hollandaise oder Kabeljau mit Blutwurst und Fenchel: Die kreative Küche des Restaurants Frieda ist dem „Guide Michelin“ einen Stern wert. Das Menü wechselt regelmäßig und es gibt eine vegetarische Option
 
Conneweitzer Verlagsbuchhandlung
Ein Jahr nach der Wende gründete Peter Hinke die Connewitzer Verlagsbuchhandlung. Der Laden im Specks Hof ist Seele und Gedächtnis von Leipzig

Bildertempel
In einem Kubus aus Glas und Beton im Stadtzentrum zeigt das Museum der bildenden Künste Fotografie, Skulpturen und Malerei aus allen Epochen

Clemens Meyers Geheimtipp
Auf der malerischen Rennbahn Scheibenholz am Clara-Zetkin-Park fliegen von Mai bis Oktober die Galopper übers Geläuf

Anreise
Der Leipziger Hauptbahnhof ist von zahlreichen Städten direkt per ICE erreichbar, beispielsweise Berlin, München, Frankfurt am Main, Dresden und Hamburg. Die Straßenbahn und S-Bahnen fahren von dort bis zur Messe; das Ticket für den öffentlichen Nahverkehr des MDV (Mitteldeutscher Verkehrsverbund) ist im Ticket zur Buchmesse inkludiert. Ausgewählte Fernverkehrzüge der DB halten direkt am Bahnhof Leipzig Messe

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