Wie sehr prägt es unsere Kinder, wenn wir ihnen vorlesen?

An dieser Stelle schreiben Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim abwechselnd rund ums Unterwegssein mit Kindern (und Mann). Heute fragt sich Lisa, wie gut es unseren Kindern tut, wenn wir ihnen regelmäßig vorlesen

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Es waren dramatische Szenen, die sich morgens in unserer Küche abspielten, als ich zur Schule musste. Denn dort, in einer kleinen Wanne, saßen acht Küken unter einer Wärmelampe und protestierten lautstark, weil sie mich nicht gehen lassen wollten.

Wir hatten eine Brutmaschine im Keller stehen, hatten die Entenbabys regelmäßig in ihren Eiern gewendet und mit Wasser besprenkelt. Mein Herz war übergelaufen, als es zum Ende hin aus den Eiern piepste. Ich sprach zu ihnen, beruhigte sie, erzählte ihnen von meinem Tag. Als dann eines Morgens in der Früh ein Ei angepickt war und das erste Küken schlüpfen wollte, durfte ich zwei Schulstunden schwänzen, um dieses Wunder mitzuerleben.

Nachdem alle Entchen da waren, zogen sie in die Wanne in unserer Küche. Ich verbrachte jede freie Minute bei und mit ihnen. Sie fiepten, wenn ich kam, sprangen mit ihren warmen Patschefüßchen auf meine Hand, waren zahm und kannten meine Stimme. Sobald ich den Raum verließ, war das Spektakel stets immens. Ich war doch ihre Ersatzmama … Und weil sich der Abschiedsschmerz der Kleinen von Tag zu Tag steigerte, musste eine Lösung her.

Wir brauchten eine Ersatz-Ersatzmama, jemanden, der mich vertreten konnte, wenn ich die Schulbank drückte. Meine Uroma war dieser Jemand. Montags bis freitags setzte sie sich am Vormittag zu den Kleinen, schlug die Zeitung auf und las ihnen vor. Beim Klang der menschlichen Stimme beruhigten sie sich.

Wenn ich an meine Uroma zurückdenke, dann sind es diese Szenen, die zuerst in meinem Kopf aufploppen. Wie sie mit dem „Stadtanzeiger“ in unserer Küche vor einer Wanne mit Küken saß und ihnen alles Wichtige aus Politik, Kultur und Unterhaltung vorlas. Vorlesen verbinde ich seither mit etwas Warmem. Mit etwas Beruhigendem. Mit Bindungsaufbau.

Als ich selbst Mutter wurde, las ich ebenfalls viel vor. Sogar mit drei Kindern war das gut machbar. Eins kam auf den Schoß, eins an meine linke Seite, das dritte nach rechts. Alle konnten ins Buch schauen, und wenn die Worte noch zu schwer zu verstehen waren, erzählten die Bilder die Geschichte.

Nebenbei die Wärme des Körperkontakts. Des Mamageruchs. Der vertrauten Stimme. Hier wurden viele Sinne angesprochen. Und es mussten nicht dauernd wechselnde Inhalte her – es ging vor allem ums Beisammensein, ums Zur-Ruhe-Kommen, um Geborgenheit. So las ich das Beeboo-Biber-Buch so viele Hundert Male vor, dass ich es noch heute auswendig kann. Die Kinder auch. Obwohl es mittlerweile seit Jahren in der Erinnerungsbox liegt.

Was wir mit diesem Buch alles erlebt haben! Es war auf Reisen dabei, hat einen Umzug mitgemacht, es war auf dem Spielplatz, im Bett und auf der Couch. Die Oma hat es vorgelesen, der Papa. Es durfte monatelang gern immer dieses eine Buch sein, das viel mehr war als ein Buch. Es war Vertrauen, es war Verlässlichkeit, es war Verbindung und Nähe. Ein Ritual. Ja, zeitweise ein Teil unseres Lebens und Erlebens.

Und weil sich Geschichte manchmal wiederholt und wir nach vielen anderen Stationen nun wieder in meiner Heimat von damals wohnen, kam es in diesem Sommer dazu, dass wir Entenküken in der Küche großzogen. Die Entenmutter war gestorben und hatte ein Nest mit Eiern hinterlassen. Wir brüteten sie zwar nicht selbst im Keller aus, sondern ließen sie in einer Brutmaschine im Nachbarort ausbrüten. Aber als die sechs geschlüpft waren, packte ich mir meinen Sohn und fuhr los. Mit einem kleinen Pappkarton mit Löchern.

Wir nahmen die piepsenden Winzlinge in Empfang. Sie waren so klein, dass sie in des Sohnes Kinderhand passten. Er hielt sie während der Fahrt im Karton stolz auf dem Schoß. Er redete mit ihnen und sang für sie. Er setzte sich mit dem „Kicker“ in der Hand an ihre Seite, berichtete ihnen von den neusten Bundesliga-Transfers oder las Trainer-Statements aus den Social-Media-Accounts seines Lieblingsvereins vor. Es war seine Stimme, die sich die sechs Küken einprägten und auf die sie noch heute reagieren – obwohl sie längst durch den Garten marschieren und die Wanne in unserer Küche wohl höchstens eine leise, warme Erinnerung ist. Die Stimme unseres Sohnes jedoch blieb ihnen vertraut. Denn Vorlesen verbindet.

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