Sollten unsere Kinder ein Austauschjahr machen?

An dieser Stelle schreiben Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim abwechselnd rund ums Unterwegssein mit Kindern (und Mann). Heute fragt sich Lisa, ob sie ihre Tochter für ein halbes Jahr ins Ausland gehen lassen sollte

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Lisa Harmann und Katharina Nachtsheim

Und dann lag ich die ganze Nacht wach und wurde von meiner eigenen Courage überrollt: Konnte ich mein Kind wirklich ins Ausland gehen lassen? Ich, die ich mich selbst mit nur 15 Jahren sechs Monate in ein fremdes Land begeben hatte, stand plötzlich vor einer großen Herausforderung.

Meine Tochter, mein erstes Kind, das doch gerade noch so klein gewesen war, wollte nun also weg von zu Hause, sich in ein Abenteuer stürzen, Spanisch lernen – und das nicht etwa für zwei Wochen, sondern für volle sechs Monate. Ich hatte ihr gut zugeredet, ihr immer wieder von meinen großartigen Erfahrungen in diesem wichtigen halben Jahr meines Lebens erzählt. Meine Euphorie und Begeisterung waren also offenbar auf sie übergesprungen. Aber … Hilfe, konnte ich sie wirklich gehen lassen? Für eine Mutter gestalten sich die Dinge eben doch noch mal anders, das wurde mir jetzt klarer als je zuvor.

Auch ich hatte in ihrem Alter Spanisch lernen wollen. Nicht in einem Kurs mit Grammatikpauken und Vokabeln lernen, sondern wirklich verbunden mit dem Eintauchen in die andere Kultur, in diese Sprache. Ich wollte sehen, wie eine andere Familie in diesem anderen Land so lebt. Ich machte mir vorab keine weitergehenden Gedanken. Ich hatte Austauschschüler kennengelernt, die zum Deutschlernen hergekommen waren und mir schließlich anboten, dass ich mich nach ihrem Aufenthalt einfach mit ihnen in ihren Flieger nach Hause setzen könnte. Dass ich mit ihnen dort zur Schule gehen, ihr Land kennenlernen könnte. Und so tat ich es. Ich schickte einer Schule in Spanien einen Steckbrief mit meinem Namen, meinen Hobbys und mit einigen Fotos. So suchte ich eine Gastfamilie – und fand sie. Ganz ohne Austauschorganisation. Privat organisiert. Ohne Sicherheitsnetz oder Vorbereitungskurse. Einfach so.

Wenn ich heute daran denke, was meine Eltern in dieser Zeit wohl für Sorgen gehabt haben mögen, wird mir ganz anders. Denn nun lerne ich das Ganze zum ersten Mal eben aus ihrer Sicht kennen. Und das ist schon eine Nummer!

Natürlich gönne ich meiner Tochter diese Erfahrung von Herzen. Sie soll diese anderen Farben sehen, diese andere Musik hören, die Lebensfreude dort spüren, soll diese anderen Geschmäcker genießen und den Blick von außen wagen auf ihre Herkunft, ihre Familie und ihr Land. Sie soll sehen, wie klein der eigene Kosmos doch eigentlich ist oder bislang war und wie viel Großes da draußen auf sie wartet. Soll Grenzen überschreiten im Kopf und Vorurteile überwinden, soll mit ihr bisher unbekannten Menschen ins Gespräch kommen und ihren Horizont erweitern. Nichts macht einem mehr Angst als das Unbekannte, heißt es doch. Wer mehr erlebt hat, lebt möglicherweise mit weniger Ängsten. Dafür aber braucht es Wagnisse. Ein Voranschreiten.

Wir packen ihr ganz schön viel Vertrauen ins Gepäck, wenn sie sich aufmachen wird in die Fremde, ins Unbekannte. Auch sie wird erst 15 sein bei ihrer Abreise, das hängt mit dem Turbo-Abi nach zwölf Jahren zusammen. Wenn Austausch, so heißt es heute, dann in Klasse 10.

Welche Erfahrungen sie wohl sammeln wird? Ob es sie noch toleranter und weltoffener wiederkehren lässt? Ob ihr Bewusstsein für die eigene Herkunft und ihr Mitgefühl für Menschen aus ganz anderen Lebenswelten wächst?

Ich bin mir dessen ziemlich sicher – und deswegen ist das alles die elterlichen Sorgen auch wert. Reisen macht etwas mit uns, Reisen bildet, und zwar nicht nur intellektuell, sondern auch sozial-emotional. Plötzlich wird auch Politik ein Thema, so war es jedenfalls bei mir. Warum ticken die Menschen in anderen Ländern so anders als wir? Wie kommen all die Regeln und Beschlüsse zustande, nach denen sie leben, wie kommt es zu einem ganz anderen System von Gemeinschaft und Miteinander? Das alles hinterfragen und erfahren wir, wenn wir mal über unseren Tellerrand schauen. Ich bin also begeistert vom Vorhaben meiner Tochter, rein theoretisch jedenfalls. In der Praxis muss ich mich erst noch ein bisschen daran gewöhnen, sie ziehen und ein Stück eigenes Leben fern der Heimat leben zu lassen. Nicht, weil ich ihr die Erfahrungen, die sie machen wird, nicht gönnen würde. Sondern weil ich sie vermissen werde. Ich freu mich jetzt schon so auf den Moment, wenn sie wiederkommt, aufgeladen mit so vielen Einblicken, gereift an all dem Erlebten – aber sicher zurück in meinen Armen.

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